Группа авторов

Religiöse Erwachsenenbildung


Скачать книгу

zu begründen und konzeptionell zu entwerfen».63

      Bereits in der Einleitung seiner Habilitationsschrift geht er von der Prämisse aus, es gebe keine universal gültige Theologie, denn «die konkrete Wirklichkeit als ein Ort göttlicher Offenbarung [sei] sozialwissenschaftlich zu analysieren, damit Theologie auch analytisch beschreiben kann, wovon sie spricht, wenn sie von Wirklichkeit redet».64 Nach seiner Meinung sind Gesellschaft und Kirche in Westeuropa Teil und Profiteure eines Herrschaftssystems, das fortwährend Armut, Not und Unterdrückung in Lateinamerika, Asien und Afrika produziert.

      Unter diesem Vorzeichen einer schuldhaften Verstrickung hat die Theologie bzw. theologische Erwachsenenbildung die Aufgabe, «zur Befreiung aller Menschen, zuerst der Armen und Unterdrückten beizutragen. Gott selber als Befreier wird zentrales Thema solcher Theologie sein.»65 Die unbedingte Solidarität mit den Armen wird zum konstitutiven Kriterium für glaubhafte christliche Existenz. Das bedeutet für seine evangelische Bildungsarbeit im pluralen staatlichen Weiterbildungssystem, dass «Bildungsbenachteiligte und Bildungsungewohnte – Arme, Arbeitslose, Behinderte, Frauen – erste Adressaten sowie Subjekte»66 seiner Konzeption theologischer Erwachsenenbildung sind. Es gilt daher, deren Erfahrungen von Unterdrückung und Armut sowohl biografisch aufzuarbeiten als auch die |34| gesamtgesellschaftlichen Macht- und Unterdrückungsmechanismen, die Armut und Unterdrückung produzieren, mit dem Ziel der Veränderung aufzudecken.

      Den theologischen Zielhorizont für die anzustrebenden Veränderungen entwickelt Orth aus den biblischen Verheissungen. Es geht der theologischen Erwachsenenbildung «um eine Veränderung der gegenwärtigen Wirklichkeit aus der Zukunft des den Menschen vorausseienden Gottes her; dies zu denken ist freilich nur möglich, weil die Vergangenheit dieser Zukunft uns in Gottes Wort der Verheißung gegenwärtig ist».67 Die konkrete, gegenwärtige Wirklichkeit wird nicht in ihrer Faktizität, sondern von ihren zukünftigen Möglichkeiten her, für die Gott in Jesus Christus einsteht, zum Thema der Erwachsenenbildung. Er verweist auf die alttestamentlichen Propheten als Vorbilder dieser Konzeption einer theologischen Erwachsenenbildung, da sie «die alten Verheißungen und die neu ergangenen Worte Jahwes von der Gegenwart her und auf diese hin verstanden und zu konkretisieren wußten und auslegten».68 Ihre besondere Qualität habe in der Fähigkeit bestanden, die geschichtlichen Bewegungen und die Veränderungen ihrer Gegenwart wachsam wahrzunehmen und auf diese Wahrnehmungen mit ihren Verheissungen zu reagieren.

      In der Bildungspraxis werden Menschen aus dem Umfeld des konziliaren Prozesses für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung faktisch zu den primären Adressaten von Orths Konzeption. Andere inhaltliche Zielsetzungen und Arbeitsschwerpunkte beurteilt er recht ungnädig, denn diese bewegten sich bezüglich der gesellschaftlichen oder politischen Organisiertheit der Teilnehmenden in einem «luftleeren Raum», die Teilnehmenden seien vor und nach den Veranstaltungen «individualisiert», die Angebote seien «folgenreich oder ebensogut folgenlos»69; solche Ansätze wollten überall sein und seien daher nirgends, da sie ihren gesellschaftlichen Ort verloren hätten.

      Orths Theoriemodell besticht durch sein klares theologisches Profil und seine immanente Stringenz. Doch sein Modell ist eindimensional, es wird bestimmt durch seinen Zielhorizont und hat als Zielgruppe nur die Menschen im Blick, die seinen gesellschaftspolitischen Anspruch teilen. Die plurale soziokulturelle und psychosoziale Wirklichkeit der Adressaten wird ebenso ausser Acht geslassen wie die institutionellen Rahmenbedingungen von Institutionen der religiösen Erwachsenenbildung. |35|

      3.3. Rudolf Englert: Religiöse Erwachsenenbildung als perspektivenverschränkende Bildung70

      Das Christentum, vor allem aber die katholische Kirche, befindet sich durch massive gesellschaftliche und christentumsgeschichtliche Veränderungen in einer Zwischen-Zeit, in einer Jahrzehnte andauernden Zeit des Übergangs von einer volkskirchlich geprägten Sozialform des Christentums zu einer neuen, noch wenig konturierten Form kirchlich gebundenen Christseins. Mit dieser Formel charakterisiert Rudolf Englert in seiner breit angelegten Habilitationsschrift71 die religiöse Gegenwartssituation. Auch wenn Englert bereits am Beginn seines Eingangskapitels zu Recht betont, dass eine zeitgemässe Bildungstheorie eine Zeitdiagnose voraussetzt72, bezieht er sich in der Folge explizit und ausschliesslich auf die religiöse Gegenwartssituation, die er aus einer überwiegend katholisch akzentuierten Perspektive betrachtet. Denn es geht Englert um religiöse Erwachsenenbildung, die er als jenen Teilbereich kirchlicher Erwachsenenbildung definiert, «in dem es um die Bearbeitung grundlegender Lebens- und Sinnfragen im Horizont religiöser Traditionen geht».73 Erwachsenenbildung als Teil des staatlichen Weiterbildungssystems tritt ebenso zurück wie eine Analyse der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur. Ungeachtet dieser Einschränkungen beeindruckt Englerts Ansatz einer höchst differenzierten erwachsenendidaktischen Reflexion der Herausforderungen einer religiösen Erwachsenenbildung durch die Moderne, die sowohl in theoretischer Hinsicht durch die entfalteten Konvergenzen zwischen theologischen und pädagogischen Topoi als auch durch ihre bildungspraktischen Implikationen zu überzeugen weiss.

      Die religiöse Gegenwartssituation stellt sich nach Englert höchst ambivalent dar. Einerseits lässt sich ein Bedeutungsverlust von Kirche und Religion an vielen Parametern aufzeigen – es kann von einer Tradierungskrise des christlichen Glaubens, einer fortschreitenden Entwicklung eines religiösen Indifferentismus gesprochen werden –, andererseits lassen sich auch eine erstaunliche Stabilität volkskirchlicher Verbundenheit, eine Renaissance von Religion(en), fundamentalistische Tendenzen und charismatische Aufbrüche inner- wie ausserhalb der Kirchen feststellen. Es bildet sich eine Pluralität von Deutungssystemen heraus, deren Wahrheitsanspruch mit dem des christlichen Glaubens konkurriert. Dieser religiöse Pluralismus führt zu einer fortschreitenden Privatisierung religiöser Auffassungen, während die einstmals geschlossenen konfessionellen Milieus immer mehr verschwinden. Englert resümiert: «Es gibt somit eine Tendenz zu immer ‹mehr› |36| (möglicher) Religion mit immer ‹weniger› (tatsächlicher) Relevanz.»74 Aus diesem christentumsgeschichtlichen Befund, der mit der gesellschaftsgeschichtlichen Zeitdiagnose Postmoderne korrespondiert, ergibt sich künftig eine deutlich grössere Bedeutung, eine kairologische Dringlichkeit, für religiöse Erwachsenenbildung als in Zeiten einer relativ stabilen Volkskirche. In dieser Phase der Transformation des religiösen Bewusstseins «leistet religiöse Bildung nicht nur einen Beitrag zur individuellen Orientierung, sondern hilft auch zukünftige Realisierungsformen von Christ-Sein und Christ-Werden zu modellieren».75

      Auf der skizzierten Analyse der religiösen Gegenwartssituation gründet Englerts Konzeption von religiöser Erwachsenenbildung. Für eine von Pluralismus und Individualismus geprägte Zwischen-Zeit kann religiöse Erwachsenenbildung nicht auf eine einzige Zielsetzung beschränkt werden, sondern ein differenzielles Konzept, eine «polyperspektivische Bildungsstrategie»,76 ist gefordert. «Den Kern einer solchen Theorie stellt das Konzept einer perspektivenverschränkenden Bildung dar, das – Bildung als Transformationsprozess begreifend – bei den lebensweltlichen Deutungs- und Orientierungsmustern der Lernenden ansetzt, um diese unter Bezugnahme auf das […] Sinnangebot des Glaubens differenzieren und transzendieren zu helfen.»77 Doch zuvor muss religiöse Bildungsarbeit einen Bezug zum Alltagsleben der Teilnehmenden und den sie bestimmenden Sinnorientierungen finden. Neben dem bekannten religionsdidaktischen Korrelationsprinzip bezieht sich Englert hier vor allem auf den Begriff des Deutungsmusters. Im Anschluss an Rolf Arnold definiert er Deutungsmuster als «durch signifikante Bezugsgruppen vermittelte, gedanklich meist eher einfach strukturierte, relativ dauerhafte Sichtweisen, die es dem einzelnen ermöglichen, eine Vielzahl von Orientierungsproblemen unaufwendig, ‹plausibel› und im Einklang mit seiner lebensgeschichtlich ausgebildeten Identität zu ‹bewältigen›.»78 Der Deutungsmusteransatz konvergiert mit dem Korrelationskonzept, denn in beiden Fällen geht es darum, Lerninhalte auf die individuelle Lebensgeschichte zu beziehen bzw. beim Deutungsmusteransatz Lerngegenstände aus der Lebensgeschichte zu ermitteln. Es gilt, die (jüdisch-christliche) Tradition und individuelle (Lebens-)Situation in der Weise aufeinander zu beziehen, dass sich beide Perspektiven wechselseitig kritisch erschliessen.79 Die individuellen Sinnkonstruktionen und Orientierungsmuster der Teilnehmenden sollen dabei wahr- und aufgenommen werden, um durch die Begegnung mit und durch Impulse aus der jüdisch-christlichen Tradition weitergeführt zu werden. |37| Lernen bedeutet dann das Verändern bisheriger bzw. das Entwickeln neuer Deutungsmuster anstelle