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gewöhnte sich Vince zunehmend an die Rolle als Hauptsänger – und die des Leaders. Wenn wir zusammen über einen Parkplatz zu einem Taco Bell schlenderten, ging Vince immer als Erster in den Laden und gab die Bestellung auf. Es schien so, als würde der spindeldürre kleine Junge von einer anderen Person unterstützt, was dem Ruben-Lukie-Intermezzo zu Schulzeiten ähnelte.

      Während der Gigs im VIP zog Vince sein Selbstvertrauen aus der Imitation der jeweiligen Sänger der Coverstücke, zum Beispiel Mick Jagger, Eric Burdon von den Animals oder Ray Davies von den Kinks. Er imitierte nicht nur die Bühnenbewegungen, sondern auch ihr Selbstbewusstsein. Ohne diesen imaginären Schutzschild blieb er bloß Vince.

      Fröhliche und beschwingte Songs gefielen uns nicht, denn wir hatten einen knackigen und harten Ansatz und brachten ihn mit Faktor 5 verstärkt rüber. Der Band lag viel daran, die Menge an der Rückwand festzunageln, und das gelang uns als musikalische Einheit. Die Waffen? Verstärker, bis zum Maximum hochgejagt!

      In kürzester Zeit verlängerten wir die Liste der „ersten Male“. Nicht nur hatten wir professionelle Anerkennung durch die Yardbirds erfahren, auch ging es auf die erste richtige „Tournee“. Zuerst standen drei Abende als Vorband der Byrds im VIP auf dem Plan, die wir dann bis Tucson begleiteten, wonach es zurück ins Phoenix Coliseum ging.

      Die Byrds hatten einen Roadie, der einzig und allein die Verstärker aufbaute. Das beeindruckte uns. Unverzüglich ernannten wir Mike Allen, einen guten Freund, der sowieso bei den Gigs abhing, zum Equipment-Schlepper ehrenhalber. Er war ein ruhiger, eher passiver Zeitgenosse, sprang aber sofort auf den Spirit der Band an und begann, sich schräg zu kleiden, jedoch war seine Vorstellung von schräg – wie soll man es am besten ausdrücken – wirklich schräg. Er trug einen schwarzen Rollkragenpullover (von der TV-Spionageserie Solo für O.N.C.E.L. kopiert) und einen Umhang aus Samt. Darüber hinaus balancierte er ständig ein kleines Kissen auf einer Schulter. (Das musst du erst mal übertrumpfen, Mr. Salvador Dalí!) Wir nannten ihn Amp Boy.

      Eines Tages im Jahr 1966 tauchte Jack bei einer Probe auf und verriet uns, eine Aufnahme-Session für die Band arrangiert zu haben. „Ihr müsst eine A-Seite und eine B-Seite aussuchen“, sagte er.

      Niemand wusste, was am günstigsten war, und so drängten wir Jack zu einer Entscheidung. Er schlug den zuckersüßen Love-Song „Elusive Butterfly“ von Bob Lind vor, den man in dem Jahr ständig im Radio hörte.

      Wir lachten natürlich wie die Hyänen. Jack lief hochrot an.

      Als wir uns wieder beruhigt hatten und ernsthaft nachdachten, kam Vince auf die Idee, Marvin Gayes energiereichen Soul-Groover „Hitch Hike“ zu covern. Hinsichtlich der B-Seite drängte ich die anderen zur Zustimmung für „Why Don’t You Love Me“ von den Blackwells. Es war ein treibender Popsong mit heulenden Harps, und er stammte aus dem britischen Film Ferry Across The Mersey über Post-Beatles-Bands wie Gerry and the Pacemakers.

      Einige Tage später standen wir im Studio, und John Speer donnerte die charakteristische Drum-Passage von „Why Don’t You Love Me“ mit unglaublicher Wucht in die Felle. Danach spielten wir die beste jemals aufgenommene Fassung von „Hitch Hike“ ein. Na ja, natürlich darf man nicht das Original von Gaye mitzählen. Und auch nicht die Coverversion der Rolling Stones. Egal, es war auf jeden Fall der beste Take, der jemals die Stadtgrenzen von Phoenix überschritt. Trotz aller Freunde und den Familien, die die Single pflichtbewusst kauften, setzte die Gruppe jedoch lediglich 200 Einheiten ab.

      Zwischenzeitlich schoss „Elusive Butterfly“ auf den ersten Platz der Charts. Egal, wo man hinging – man konnte sich des Songs nicht erwehren.

      Manchmal blickt man auf die dramatischen Wendungen des Lebens zurück und kommt zu dem Schluss, dass es keine Zufälle gibt. Ja, das Schicksal verpasst dir einen Schlag, wenn es das so will.

      Wir kommen nun zum inspirierenden Event Nummer 3. Was die Kreation des Rock-Theaters anbelangt, fand für uns die bedeutendste Offenbarung 1966 statt. In dem Jahr debütierten wir im Phoenix Star Theater in einer Roadshow-Version des Hit-Musicals Bye Bye Birdie. Jack hatte das arrangiert, wohlwissend, dass der Beitrag zur Show unserer Popularität steigern und damit sein VIP füllen würde.

      Bye Bye Birdie ist ein sentimentales, aber unterhaltsames Musical über die Verwerfungen in einer Stadt der Mittelklasse, die von einem berühmten, „gefährlichen“ und Elvis-ähnlichen Rockstar (Conrad Birdie) besucht wird. Man hatte uns die Rolle der Backup-Band zugewiesen, den Birdies. Als Star der Show trat Jan Murray als aufgebrachter Dad auf.

      Wir gingen zur Probe und wurden vom Choreographen Michael Bennett ins Visier genommen. Jahre später – in den späten Siebzigern bis in die Achtziger hinein – sollten sich noch zahlreiche Möglichkeiten bieten, sich an den Typen zu erinnern, da er durch revolutionäre Shows wie A Chorus Line und Dreamgirls zum König des Broadway avancierte. Dieser dünne Kerl, der uns 1966 in Phoenix über die Bühne scheuchte, kann damals höchstes 23 Jahre alt gewesen sein, hatte jedoch das Feuer eines Menschen, der die Karriereleiter hochfällt. Damals hätte niemand ahnen können, dass er später an einem frühen Burnout leiden und an Aids versterben würde. Wir sahen ihn an und wussten augenblicklich, wer hier das Sagen hatte.

      Mit seinem kurzen schwarzen Haar, der hautengen schwarzen Tanzkleidung und dem an den Nerven zerrenden Energiepegel eines New Yorkers rief uns Bennett auf die Bühne und kommandierte, dass wir uns in eine Reihe bezaubernder Tänzerinnen stellen sollten. Er zählte die Schritte aus und demonstrierte eine Drehung, was die ausgebildeten Tänzer sofort kapierten. Die Spiders bewiesen hingegen, dass die Erfahrungen als Athleten hier überhaupt nichts brachten. Wir ähnelten Steinklötzen.

      „Timing! Timing!“, brüllte Bennett, dabei den Takt klatschend. Er beobachtete uns, während wir wie Weinsäufer über das Parkett torkelten, und stöhnte entsetzt: „Ihr Kerle seid Musiker?“

      Bennett erstarrte, tief in Gedanken versunken. Alle warteten regungslos.

      „Okay, ich möchte, dass ihnen je zwei Tänzerinnen zur Unterstützung unter die Arme fassen.“ Er gab ein kurzes Zeichen, und schon hingen zwei Miezen an meinen Armen. Bennett verdeutlichte uns seine Vorstellung, indem er über die Bühne stolzierte, zwei imaginäre Tänzerinnen an den Armen. Als er „Action“ forderte, kollabierten die Spiders und ihre zauberhaften Escort-Damen beinahe.

      „Nein, nein, nein, aufhören!“, schrie er. „Hier bricht sich noch einer ein Bein oder Schlimmeres!“

      Wieder warteten wir, während Bennett tief in Gedanken versunken und offensichtlich frustriert hin und her hastete. Meine haltungsbewussten Stützen standen graziös neben mir, die Nippel hoch „konzentriert“.

      Während Speer einem wachsamen Marine-Rekruten ähnelte, lächelte Tatum die Damen charmant an, als kenne er sie sein ganzes Leben lang. Worüber grübelte der Choreograph?

      Eine Zeitspanne lang, die der Ewigkeit glich, starrten alle im Theater feierlich auf Bennett und fragten sich, was dem Genie wohl einfällt.

      „Scheiß drauf“, rief er dann abrupt. „Wir schneiden die Szene raus.“

      Die Mädels ließen meine Arme fallen, als wären sie der Pyjama eines Leprakranken, und stolzierten davon.

      Die Proben vergingen wie im Nu, und schon bald spielte die Band die Songs wie im Schlaf. Bei der Aufführung sollten wir die gewohnten Spiders-Jacketts tragen und schwarze Rollkragenpullover. Nicht die Garderobe wechseln zu müssen, kam uns gelegen, da wir nach der Abendaufführung quer durch die Stadt fahren mussten, um eine Spätvorstellung im VIP zu geben.

      Und wie sieht es mit Zufällen aus, die einer Vorsehung gleichen? Bei einer Szene, einer Traumsequenz, standen eine Guillotine und ein Sarg auf der Bühne, ergänzt durch Sargträger.

      Der Abend der Premiere war gekommen. Die Geräusche der Zuschauer glichen dem Summen eines Bienenstocks. Es roch nach einer Mischung aus Parfüm und Zigarrenrauch. Vince und ich saßen auf den Stühlen im Backstage und beobachteten das geschäftige Treiben. Jeder hier hatte in einen höheren Gang geschaltet.

      Vince zog eine Mundharmonika aus der Tasche und blies ein bluesiges Riff an. Der Requisiteur warf ihm einen bösen