R&B-Imperiums mit eigenen Fernsehserien und Radiosendungen in Nordkalifornien angesehen werden konnte, fand Richard sympathisch und ließ ihn am 3. Oktober in Robeys Studios vier neue Lieder aufnehmen. Es waren Eigenkompositionen des Sängers, eingespielt von Otisʼ Band mithilfe von Backgroundsängerinnen. Die Titel lauteten „Maybe Iʼm Right, „I Love My Baby“, „Little Richardʼs Boogie“ und „Directly From My Heart To You“. Der Produzent verlieh ihnen merklichen Glanz, indem er die belanglosen Texte mit klangvollen Orchesterarrangements aufpolierte. Die sinnliche Ballade „Maybe“, die auch Esther oder Etta hätten singen können, ließ Richards Stimme breiter und eindringlicher wirken, wobei er manche Zeile mit leisem Seufzen und wonnigem „ohhh“ betonte. „Directly“ war ein Blues-Feger mit funky Piano und E-Gitarren-Break. „I Love My Baby“ und „Little Richardʼs Boogie“ animierten zum Tanzen und griffen Little Richards späterem Schaffen voraus. Aufgewertet wurden beide von Otisʼ Fertigkeiten als Vibrafonist und den Shouts der Bandmitglieder.
Bevor man diese Musik aber veröffentlichen konnte, hatte sich Richard Knall auf Fall aus dem Staub gemacht, nachdem Robey ihn körperlich angegriffen und damit seinen Stolz verletzt hatte. Ohne den Tempo Toppers oder dem Label-Chef ein Wort zu sagen, war er nach Macon zurückgefahren, um erst mal seine Wunden zu lecken, was den Plan einer Tournee zur Bewerbung der Tonträger hinfällig machte. Der erboste Robey wiederum verzichtete aus Trotz und ungeachtet der Kosten und Umstände, die das Studioprojekt verursacht hatte, darauf, weitere Aufnahmen von Little Richard herauszubringen, jedenfalls bis zu dessen massivem Erfolg: Dann erschienen nämlich doch noch die übrigen vier Titel unter dem Namen Little Richard with the Johnny Otis Orchestra. (Sie wurden erst 2007 auf einem Album veröffentlicht, lange nach Robeys Tod und dem Verkauf seines Labels samt Backkatalog, das dann zwischen ABC und MCA hin und her gereicht wurde. Gerüchten zufolge existieren noch mehr von Otis produzierte Aufnahmen mit Richard. Zudem spielte dieser „Directly“ 1966 für Modern Records im Stil von James Brown neu ein).
The Tempo Toppers, die sich schon vor den Sessions alleingelassen gefühlt hatten, zogen sich nach Nashville zurück. Ihr Kratzen am Starruhm beschränkte sich darauf, einmal kurz mit dem beinahe berühmten Little Richard in einem Boot gesessen zu haben, der seinerseits die Trennung von ihnen nicht bereute. Vielmehr war er stolz darauf, Don Robey den Rücken gekehrt zu haben, wozu er später erklärte: „Ich ließ nicht zu, dass er mich kontrollierte. Wenn ich keinen Frieden finde, bin ich nicht glücklich. Verträge nützen mir nichts, solange ich nicht entspannt sein kann. Einen Vertrag schließen bedeutet, jemandem dein Wort zu geben; das Papier ist für mich irrelevant.“ Inzwischen weinte Robey ihm kaum eine Träne hinterher. Er erweiterte seinen Einflusskreis in der Gospel-Blues-Nische. Junior Parker und Bobby „Blue“ Bland versetzten ihn in die Lage, seine Unternehmungen 1973 – zwei Jahre vor seinem Tod – als Paket an ABC zu verkaufen. Im Nachhinein dürfte er sich jedoch darüber geärgert haben, einen Goldesel und damit auch eine wichtigere Rolle in der Musikgeschichte ausgeschlagen zu haben. Die wäre ihm nämlich zuteilgeworden, hätte er Little Richard halten und sein Potenzial ausschöpfen können. Die Frage, ob überhaupt jemand dazu fähig war, blieb freilich offen.
So wie die Dinge standen, steckte der Künstler anscheinend immer noch voller Widersprüchlichkeiten: Er verband Weltliches und Geistliches, war protzig und waghalsig, aber auch traditionsgebunden spirituell, indem er jahrhundertealte Grundlagen auf neuen abstrakten Individualismus und primitive Genusssucht anwandte, und setzte sich sogar über Geschlechtergrenzen hinweg. Wer würde ihm in einem Land, das an archaischen kulturellen Normen festhielt – zumal in einer Branche, die von ausbeuterischen weißen Geschäftsleuten und schwarzen dominiert wurde, die es ihnen gleichtaten – eine Chance geben in dem Wissen, dass er sich nicht einfach in eine sichere Ecke des musikalischen Rings stellen und den Mund verbieten ließ, wenn man ihn linkte?
Die Mächte des Schicksals gaben schon bald die Antwort auf diese Frage.
„Little Richard and the Upsetters wurden echt berüchtigt. Fats Domino trat im Manhattan Club in Macon auf, und ich ging hin. Er war damals ein Star, spielte aber Blues; Chuck Berry war auch ein Star und ebenfalls Blueser. Sie fürchteten sich vor mir, weil jemand sie auf mich angesprochen hatte, so ungefähr: ,Bist du in Macon gewesen? Kennst du diesen Little Richard? Der ist wahnsinnig, hör dir mal an, wie er Klavier spielt!‘ Mein Name kam in aller Munde, die Leute interessierten sich wirklich für mich.“
– Little Richard
Entgegen der landläufigen Meinung hat Little Richard den Rock ’n’ Roll nicht erfunden. Der Begriff wurde erst Mitte der 1950er-Jahre als eigenständige Genrebezeichnung verwendet. Obwohl man die Formulierung schon früher etwa für Negro-Spirituals mit religiösem Unterton benutzt hatte, war sie in der Jazz-Szene als Euphemismus für Sex oder Tanzen am geläufigsten. So hieß es in dem Lied „Get Rhythm in Your Feet“ 1935 sinngemäß: „Wenn dir Satan im Nacken sitzt, fang an zu rocken und zu rollen“, was sich im Lauf der Jahre in Songs von Ella Fitzgerald, den Andrews Sisters, Bing Crosby, Countrysänger Buddy Jones und – wie Richard Penniman sicherlich wusste – Sister Rosetta Tharpe fortsetzte, die den Ausdruck für ihr „Rock Me“ verkürzte. Obwohl er das Fachblatt Billboard wahrscheinlich nicht las, hätte er dessen Beschreibung einer Fassung von „Caldonia“ als „richtig rhythmische Rock-’n’-Roll-Musik“ von ganzem Herzen zugestimmt.
Die sexuelle Konnotation der Worte standen außer Zweifel, auch wenn sie harmlos genug klangen, um „akzeptabel“ zu sein. So blieb es auch, als Alan Freed 1951 neue „Race Music“ als „Rock and Roll“ zu bezeichnen pflegte, die er in Cleveland im Radio spielte. Damit hielt sie Einzug in das Leben weißer Teenager im American Bread Basket. In Anbetracht der Tatsache, dass Rock ein Ableger des längst etablierten Blues und Jazz war, ist heftig umstritten, welcher jener wegweisenden Titel die erste Rock-’n’-Roll-Aufnahme war. Der allgemeine Tenor schreibt sie Ike Turner zu, meint aber keinen seiner kernigen Blues-Songs mit der damaligen Anna Mae Bullock (bald Tina Turner), sondern ein für seine Band Rhythm Kings komponiertes Lied: „Rocket 88“, aufgenommen 1951 in Sam Phillipsʼ Sun Studio in Memphis und unter dem Namen seines Saxofonisten Jackie Brenston veröffentlicht, der es auch sang.
In jedem Fall war dieses Stück das Erste der Ära, dessen Text von einem aufgemotzten heißen Schlitten handelte. Der zügellose, vom Bass getriebene Boogie mit Shuffle-Rhythmus, plärrendem Saxofon, übersteuerter Gitarre (ein defekter Verstärker war schuld) und wie aus der Maschinenpistole geschossenen Piano-Triolen – gespielt von Turner – bildeten eine Mustervorlage, die junge Musiker wie Little Richard unheimlich stark beeinflusste, vor allem, was das Tasteninstrument anging, das quasi in einen hochtourig laufenden Motor konvertiert wurde … dessen Rhythmus nicht zufällig an den rapiden Puls des Geschlechtsakts gemahnte. Jedes seiner Riffs, so Richard, sei eine Variation auf Turners Klavier-Intro gewesen, das er mehrere Male Note für Note übernahm, unter anderem in der Einleitung zu „Good Golly, Miss Molly“ und wiederholt während „Lucille“.
1954, als Little Richard im Land noch weitgehend unbekannt war, stieß der Rock an mehreren geografischen Fronten vor, wo er sich jeweils über einen indigenen, vom Blues abgeleiteten Sound definierte. Seine wohl kommerziellste Ausformung fand er typischerweise in der Tin Pan Alley am Broadway, wo Produzenten und Komponisten eng mit beliebten Sängern zusammenarbeiteten. Dort entstand Bill Haleys Rockabilly-lastiger Stil, andere Perlen kamen von Ahmet Ertegüns Label Atlantic Records. Es prägte den neuen R&B mit den glockigen Harmonien der ursprünglichen Drifters, wo Clyde Mc Phatter seine butterzarte Stimme bemühte, und den original „Shake Rattle and Roll“ mit Big Joe Turner. Im Norden New Yorks hingegen leitete George Goldner die kleine Firma Rama, in deren Soul-Programm von den Straßen Harlems 1953 die Single „Gee“ von den Crows herausragte, deren hemmungslos lyrisches Riffing, hohe Harmonien und bluesig als Soloinstrumente eingesetzte E-Gitarre waschechte Rock-Katalysatoren waren.
Im Bread Basket – Chicago, Detroit und Cleveland –, wo schlussendlich viele der alten Delta-Blueser auf ihrem Weg nach Norden landeten, erhielten Meister der E-Gitarre wie Muddy Waters, John Lee Hooker, Howlinʼ Wolf oder Lightninʼ Hopkins verspätet Anerkennung. Das angesagte Label Chess Records aus der „Windy City“, das viele der ergrauten Blues-Männer