Jesse Fink

Bon - Der letzte Highway


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ein Panorama mitsamt Wassertürmen, Versandcontainern, Trucks, Bussen, Überführungen aus Beton, Stromleitungen, Sümpfen, wucherndem Gras, Schrottplätzen, Altmetall, Kohlehalden und Plakatwänden vorüber. In Harrison, New Jersey, wachsen neue Wohnkomplexe aus dem Boden. Ab Trenton, der Hauptstadt des Bundesstaates, erhält die Landschaft einen zunehmend suburbanen Anstrich: Amerikanische Flaggen hängen an Fahnenmasten vor mit Schindeln verkleideten Häusern, die in sauberen kleinen Straßen stehen und vor denen auf dem Rasen Plastiktische und -stühle sowie mobile Planschbecken aufgebaut sind. In Virginia sehe ich vermehrt Traktoren dahintuckern. Bei Anbruch der Nacht, nach einem halben Tag Zugreise, bin ich erst in North Carolina mit seinen Wäldern, Hainen und offenen Feldern, auf denen vereinzelt Schuppen und landwirtschaftliche Geräte auszumachen sind. In ebendieses von Industrie und Landwirtschaft geprägte Amerika entsandte Atlantic Records AC/DC im Jahr 1978. Die großen Städte mussten erst noch erobert werden.16 Diese Zeit, diese Ära – sie wird nie wiederkommen. Sie ist Geschichte. Dasselbe lässt sich von dieser außergewöhnlichen Musik sagen. Bald wird dies auch auf die letzten Leute zutreffen, die diesen bemerkenswerten Mann Bon Scott persönlich kannten. Es ist ein beinahe unmögliches Unterfangen, Bons Zeit in Nordamerika wiederauferstehen zu lassen. Warum sind so viele Leute – einschließlich mir selbst – dazu entschlossen, diesem Mann Bücher, Filme, Bühnenstücke, Dokumentarfilme, Instagram-Postings und Facebook-Seiten zu widmen? Warum gibt es über den ganzen Globus verstreut zahllose AC/DC-Coverbands, die in Bars in Yokohama oder auf Fantreffen in Deutschland auftreten und sich immer wieder dafür entscheiden, seinen Songs den Vorzug gegenüber jenen aus der Zeit nach seinem Tod zu geben? Die liebevolle Hingabe an diesen Mann lässt sich schon an den Namen dieser Gruppen ablesen, die sich etwa Let There Be Bon, Bon But Not Forgotten, Whole Lotta Bon, Bon Scott Experience oder auch Bon Scotch nennen. Es gibt buchstäbliche Hunderte von ihnen. Es geht nicht nur um die Musik, da muss mehr dahinterstecken. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, dass ich – so wie viele dieser Leute auch – an einem bestimmten Punkt begriff, dass mein Leben, so sehr ich mich auch bemühen mochte, nie wie Bons sein würde. Er erlebte mehr in einer Dekade, nämlich den Siebzigern, als viele Menschen in ihrem gesamten Leben. Indem wir ihn als seine Fans verehren, erhoffen wir uns womöglich, dass das, was ihn ausmachte, auf uns abfärbt und auch unsere ansonsten so profanen Existenzen bereichert.

      Ich hatte keine Lust mehr auf weitere wiedergekäute, dramatisch aufgebauschte Erzählungen über Bon. Während ich dieses Buch schrieb, wollte ich die Menschen treffen, die eine andere Seite dieses Mannes kannten und nicht davor zurückscheuten, den Mitgliedern von AC/DC oder Bons Familie auf den Schlips zu treten, oder irgendetwas zu verbergen hatten oder jemandes Ruf schützen mussten. Von ihnen gibt es nur wenige und sie sind schwer zu fassen. Um an sie heranzukommen, musste ich in eine Stadt am Rande der Karibik reisen, weit entfernt von Sydney, Melbourne, Perth, Los Angeles, New York und London. Es war ein Ort, der Bon höchstwahrscheinlich einen Einblick in eine Zukunft bescherte, die er sich immer gewünscht hatte mitsamt einer attraktiven Frau, mit der er glücklich werden könnte, in einem Land, das ihm neue Chancen eröffnete. Es gibt nur eine Handvoll Menschen, die ihn kannten und sich noch nicht öffentlich zu ihm geäußert haben. Sie ausfindig zu machen, stellt eine Herausforderung dar; diejenigen zu finden, die auch sprechen wollen, eine andere.

      Aber ich bin mir ebenso sicher, dass Bon, also der echte Bon, sich mit denselben Fragen wie wir alle beschäftigen musste. Was erwarte ich mir vom Leben? Mit wem will ich meinen Lebensabend verbringen? Wie lange will ich überhaupt leben? Wann weiß ich, ob ich genug dafür getan habe, wirklich glücklich zu sein? Die schreckliche Wahrheit ist, dass Bon erbärmlich abgekratzt ist und nicht als Hero abtrat. Für einen Mann, der so viele Menschen inspirierte, stellte die Art seines Abgangs eine große Enttäuschung dar.

      Mit dem Zug zu reisen, war den Aufwand wert. Alleine die Sterne über South Carolina und der Sonnenaufgang in Georgia machten ihn wieder wett. Ab unserem Halt in Jacksonville, Florida, verändert sich die Landschaft erneut: Wohnwagensiedlungen und Palmen. Mit jeder weiteren Meile wirkt es so, als würde ich mich in der Zeit rückwärts bewegen. Der Himmel wirkt blauer und scheint weiter zu sein.

      Orlando. Fort Lauderdale. West Palm Beach. Hollywood. Miami. In ihrem 1987 erschienenen Buch über die Stadt beschrieb Joan Didion Miami als „gar keine wirkliche Stadt, sondern eine Geschichte, eine Tropenromanze, eine Art Wachtraum, in dem jegliche Möglichkeit Platz hat und haben wird“.

      Obwohl mein Zug bereits zwei Stunden Verspätung aufweist, wartet am Bahnhof in Miami eine Frau in einem schwarz-grün-weißen Kleid auf mich. Es handelt sich um „American Thighs“.

      * * *

      Als ich mich von New York aus mit Holly X am Telefon unterhielt und vorschlug, sie in Miami zu treffen, stellte sie eine unausweichliche Bedingung: Anonymität. Dafür gab es zwei zentrale Gründe. Der erste Grund war ihr prestigeträchtiger Job, der zweite ihre Mitgliedschaft bei den Anonymen Alkoholikern.

      „Die Welt ist mittlerweile einfach zu eng vernetzt“, erklärt sie. Sie ist Mitte fünfzig und größer, als ich erwartet habe. Sie hat eine kurvige Figur, hohe Wangenknochen, lange weißblonde Haare und geizt nicht mit Mascara. „Ich will nicht, dass demnächst ein paar alte Fotos auftauchen, wenn jemand meinen Namen googelt. Ich will nicht, dass AC/DC-Fans mit mir in Kontakt treten. Anonymität bildet das Fundament, auf dem die AA gegründet wurden und warum die Organisation funktioniert. Berühmte Leute, deren Sauferei und Drogenkonsum von den Medien festgehalten wurden, äußern sich dann, wenn sie clean geworden sind, und schreiben Songs über ihre Gesundung. Sie hatten von Anfang an nie Anonymität. Bei den AA gibt es viele berühmte und nicht so berühmte Leute – und keiner weiß, wer sie sind. Bescheidenheit ist eine zentrale Tugend der AA. Die Leute müssen mich nicht kennen, nur meine Geschichte. Die AA geben mir das Gefühl, dass ich vielen Menschen helfe – und keiner von ihnen kennt meinen Nachnamen. Das fühlt sich für mich als Mitglied der AA richtig an.“

      Wir fahren in Hollys Toyota Prius mit seinen „Geboren in Miami“-Nummernschildern durch die Stadt und beschließen, mithilfe ihres iPhones indisches Essen zum Mitnehmen zu ordern. Es ist ein heißer Freitagabend im Mai. Der Verkehr ist übel und bewegt sich zähflüssig Richtung Strand. Das indische Restaurant kann unsere Bestellung leider nicht aufnehmen, da man dort unterbesetzt ist. Also fahren wir persönlich dorthin, um zu bestellen und zu zahlen. Das Restaurant ist voll. Während wir auf unser Essen warten, haben wir Zeit, uns zu unterhalten.

      Üblicherweise heißt es, dass Silver Smith für Bon die große Liebe seines Lebens war. AC/DC-Biograf Mick Wall gab etwa gegenüber Classic Rock 2015 folgenden Schwulst zu Protokoll: „Nach Irene [Thornton] packte Bon Scott die Liebe wohl noch am ehesten mit Margaret ‚Silver‘ Smith – einer umherreisenden Hippie-Zauberin, Heroinkonsumentin und Königin der langen Nächte.“ Clinton Walker schrieb in seiner Bon-Biografie: „Er war nie über sie hinweggekommen.“

      Ich frage Holly, ob Bon je über Silver sprach.

      „Nein“, antwortet sie fast schon barsch. Mir ist klar, dass sie den Namen noch nie zuvor gehört hat. „Er erwähnte überhaupt keine anderen Frauen.“

      * * *

      Holly X kam 1959 in Miami zur Welt und schloss 1978 die Highschool ab. Sie begann als Fotografin für die Miami News zu arbeiten und sollte schließlich ein besonders bekanntes Foto eines toten Rockstars an den Rolling Stone verkaufen. Zu schreiben, um welches es sich dabei konkret handelt, wäre gleichbedeutend damit, ihre Identität preiszugeben.

      „Mein