Mike Rutherford

Rhythmen des Lebens - Die erste Genesis-Autobiografie


Скачать книгу

du geraucht, Rutherford?“

      „Nein, Sir.“

      „Beug dich nach vorne.“

      Diese unverhohlene Bestrafung wurmte mich am meisten.

      Erstaunlicherweise schnappten sie mich nie, wenn ich mich von der Schule entfernte, um mir im Londoner Marquee Club Konzerte anzusehen. Allerdings gab ich mir auch große Mühe, dass mich niemand sah, wartete, bis die Dunkelheit anbrach, und stieg dann mit meinen violetten Plateaustiefeln aus dem Fenster.

      Entweder fuhr ich mit der Honda zur Guildford Station oder ging den Hügel hinab zur Godalming Station, wo ich voller Erwartung auf meine Freunde Chris Piggott und Andy Dunkley wartete. Ein Schulregenmantel verbarg die damals modernen Samt-Schlaghosen. Dunkley war übrigens der Tapfere der beiden, denn er wollte mit aller Macht von der Schule geworfen werden. Was Chris Piggott anbelangt – mich wunderte, dass er noch mit mir sprach, denn ganz zu Beginn meiner musikalischen Karriere hatte ich seinen Verstärker hochgejagt. Über einer Buchse stand „DC“ [direct current] was Gleichstrom bedeutete. Ich hingegen dachte, dass alles mit der Bezeichnung „direct current“ ganz offensichtlich eine höhere Lautstärke bedeuten musste. Kurz nachdem ich die Gitarre eingesteckt hatte, stieg eine Qualmwolke aus dem Ding!

      Der Marquee Club in der Wardour Street war der angesagte Laden, in dem sich alles abspielte, was mir etwas bedeutete. Es ist schon merkwürdig, aber ich empfand Soho nicht als bedrohlich, obwohl man es damals schon als ein schäbiges Viertel bezeichnen konnte. Überall gab es Strip-Shows und Läden mit schmuddeligen Magazinen. (Man ging in diese Shops schnell rein und ganz schnell wieder raus, denn allein die Tatsache zählte, dass man dort gewesen war. Die Strip-Clubs hingegen wirkten einschüchternd, denn es gab immer einen Türsteher, der einen in das Etablissement locken wollte: „Komm Sie schon rein, junger Mann.“) Die schrillen Gebäude, die roten, gelben und grünen Neonlichter bei Nacht und die coolen Londoner mit ihren Halstüchern und ungewöhnlichen Hüten – das alles hatte den Hauch des Verbotenen, wirkte jedoch nie beängstigend. Vielleicht hatte ich auch keine Angst, weil dort musikalisch so viel geschah. Es gab Folkclubs, und der 100 Club lag die Straße rauf an der Oxford Street. Die Krönung von allen aber war das Marquee, der Laden für Musiker (und nicht irgendein Nachtclub mit einer Disco).

      Im Marquee sah ich die Nice mit Keith Emerson, The Herd mit Peter Frampton, Cream, The Action und The Sands (Chris Squire hatte einen fantastischen Rickenbacker Bass-Sound: Er beschränkte sich nicht auf die tiefen Töne, sondern spielte melodische Linien, was mich sehr beeindruckte.) Und ich liebte den Harmoniegesang – in jenen Tagen hatte anscheinend jede Band drei Sänger.

      Die Lautstärke im Club war phänomenal. Es herrschte eine unglaubliche Hitze. Das Marquee lag direkt an der Straße, doch man hatte das Gefühl, sich in einem Kellergewölbe aufzuhalten, da alles so dunkel war und der Schweiß förmlich von der Decke tropfte. Niemand zog den Afghanenmantel aus, doch mit ein wenig Vernunft trug man eine Afghanenweste über dem gefärbten T-Shirt. Stiefel und Schlaghosen waren bei beiden Geschlechtern der letzte Schrei, was das Auseinanderhalten von Jungs und Mädchen nicht gerade leicht machte. Zumindest hielt ich mich mit dem anderen Geschlecht in einem Raum auf, was nach Charterhouse wundervoll anmutete. Die einzigen Mädchen, die Charterhouse-Schüler jemals sahen, traf man während der Ferien bei der Party eines Freundes. Man versuchte den coolen Typen zu mimen, was in der Realität bedeutete, unruhig von einem Fuß auf den anderen hin und her zu wippen und irgendetwas Unverständliches zu murmeln.

      Chris, Andy und ich fuhren dann also mit der Bahn nach London, sahen uns einen Gig an und nahmen den morgendlichen Frühzug um 5.30 Uhr zurück. Wenn ich heute darüber nachdenke, laufe ich hochrot an. Nach London zu entwischen machte einerseits einen ungeheuren Spaß, denn man fühlte sich als Teil einer Szene, doch andererseits hatte ich schrecklich Angst, erwischt zu werden und meinen Vater zu enttäuschen. Ich habe nie, niemals jemanden von den Ausflügen erzählt, denn für gewöhnlich wurden geheime Gespräche in Charterhouse an die große Glocke gehängt. Als ich die Schule verließ, hatte ich ein großes Ziel vor Augen – im Marquee Club aufzutreten. Wenn man dort auf der Bühne stand, war man wirklich ein angesehener Musiker.

      Ant und ich hatten eine enge freundschaftliche Beziehung und besuchten uns oft während der Ferien. Im Haus meiner Eltern spielten wir bis tief in die Nacht Gitarre. Wenn Mum morgens zum Frühstück herunterkam, sagte sie meist: „Darling! Ich liebe das Stück!“ In Ants Haus sah das anders aus. Sein Vater war ein Top-Banker, der für die Finanzen des Marylebone Cricket-Clubs verantwortlich zeichnete. Ich sah es ihm an, dass er die Musik nicht schätzte, und fühlte mich permanent unwohl. Ants Mutter hingegen unterstützte uns. Sie lachte, machte Witze und transportierte das Equipment von The Anon zu einer Session in den Tony Pike Sound Studios in Putney. Sie beförderte die Instrumente und Verstärker hinten im Mercedes, während Ant, Rich und ich den Bus nehmen mussten.

      Tony Pikes Studio lag im hinteren Teil eines kleinen Hauses. Der Mann selbst war noch ein Vertreter der alten Schule. Wir merkten sofort, dass er weder unsere Musik noch die Lautstärke verstand. Er sprach mit einem leicht ländlichen und schwer verständlichen Akzent, wenn er sich über den möglichen Schaden beschwerte, dem wir seinem Studio zufügten. „Bitte achtet auf meine Kompresooooren …“

      „So ein blöder, alter Arsch“, murmelte ich, mir dessen nicht bewusst, dass der Sinn eines Regieraumes darin bestand, dass man von dort aus alles hören konnte. Und das tat er auch.

      „Oha! Ihr da unten – passt auf, was ihr sagt.“

      Wir nahmen „Pennsylvania Flickhouse“ auf, der größtenteils auf Ant zurückging, eine Art „Route 66“ aus Godalming. Da die Songs nur drei Minuten lang waren, hatte Rich ausgerechnet, dass wir problemlos sechs Nummern in einer Stunde aufnehmen konnten. Als wir herausfanden, dass uns nur einer gelang, schmiedeten wir Pläne für eine neue Session. Doch Richs Vater nahm ihn aus Charterhouse und schickte ihn nach Millfield in Somerset, da er glaubte, dass sein Sohn es bei The Anon mit zwielichtigen Gestalten zu tun habe. Möglicherweise hatte er sogar recht – zumindest, was meine Person betraf –, doch nun standen wir ohne Sänger da, woraufhin Ant mich verpflichtete.

      Ein Frontmann zu sein – mir passte die Vorstellung ganz und gar nicht. Bei einer guten Stimme hätte ich vielleicht anders darüber gedacht. Meiner Auffassung nach verfügten 60 Prozent der Weltbevölkerung über eine so passable Stimme, um als Sänger durchzugehen. Darüber hinaus gibt es auch Sänger, die eigentlich keine Stimme haben, aber etwas aus diesem Defizit machen. Ich fiel in keine dieser Kategorien (so wie auch Ant). Ant brachte mich nun dazu, „Mercy Mercy“ in der Fassung der Rolling Stones zu intonieren. Plötzlich fühlte ich eine Verschiebung im Bereich des Adamsapfels (es fühlte sich besorgniserregend an – als würden meine Stimmbänder verrutschen). In dem Moment begriff ich, nicht zum Sänger geboren zu sein. Egal, wenn man in jenen Tagen nur ein wenig singen konnte, war man ein Sänger, und so entschieden wir uns, alle Songs mit hohen Noten aus dem Repertoire zu streichen.

      Zwischenzeitlich verstärkte sich die Spannung zwischen meinem Vater und mir.

      Er schrieb mir (natürlich bewahrte ich die Briefe nicht auf), und während der Ferien stritt ich mit ihm permanent über die Länge meiner Haare und die Klamotten, die meist vom Kensington Market stammten. Ich fuhr am Wochenende dorthin, stöberte in den Auslagen der Stände, sah mir abends eine Band an und fuhr dann mit der Bahn zurück, darauf achtend, dass ich nie in dem erwarteten Zug saß. Einige Male blieb ich bei Nicky, die nun in einer Wohngemeinschaft mit einigen Mädchen in Hamilton Gardens lebte. Wenn ich sie besuchte, blieb mir fast das Herz stehen – als diese wunderbaren, ehrfurchtgebietenden Frauen mit langen Beinen, die durch die Wohnung schwebten!

      Auch Nicky hatte ein Internat besucht, die Royal Navy School for Girls in Haslemere, und arbeitete nun als Sekretärin beim Guardian. Sie war niemals so schusselig wie Mum oder ich. Schon mit zwölf Jahren konnte man sie als Erwachsene beschreiben, was für meine Eltern eine große Erleichterung gewesen sein musste, da sie selbst schon älter waren. Der Ansicht meines Vaters nach konnte Nicky gar nichts falsch machen. Sie war klug, schrieb meinen Eltern Briefe, besuchte sie gelegentlich und arbeitete in London, wohingegen ich mit Chris Piggott bei Veranstaltungen des „Anti-Establishments“ abhing wie dem Windsor Jazz and Blues Festival. (Keine so tolle Erfahrung!