Helen Donlon

Partyinsel Ibiza


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Jahrzehnten, und die ­Silhouette der Insel kündet in nebelverhangenen Wellen von den Abenteuern vieler Jahrhunderte. Schon am Hafen selbst gibt es genug Bars und Cafés, die selbstbewusst internationales Flair atmen, und ein paar Schritte weiter, auf der anderen Seite des Obelisken, der die Schiffe mit dem Spruch Ibiza a sus corsarios („Ibiza an seine Piraten“) begrüßt, wartet die ganze Fülle der Insel auf den Neuankömmling: uralte Grabstätten, eine befestigte Siedlung, riesige, kopflose, römische Statuen, eine lebendige, moderne Stadt und die verräterischen Zeichen legendärer Partys, vergangener wie noch bevorstehender.

      Zwar lassen sich die Wurzeln der örtlichen Hippie-Szene bis zu den ersten Reisenden zurückverfolgen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts eintrafen, aber es dauerte bis in die späten 1950er-Jahre, als die ersten Beatniks Ibiza erreichten, bis die internationale Bohème richtig Fuß fasste. Die Insel wurde zum Paradies für Lotusesser und zog mit seinen niedrigen Lebenshaltungskosten und den freundlichen, entgegenkommenden Einheimischen eine große Künstlergemeinde an, die sich teils aus der spanischen Gegenkultur speiste, aber vor allem Freigeister aus ganz Europa anzog. Am Hafen entstanden zahlreiche Bars, in Figueretes wuchs eine kleine holländische Enklave heran, und die Beatniks bekamen schließlich Gesellschaft von Hippies, Ausreißern, Eskapisten und Wehrdienstflüchtlingen, die nicht nach Vietnam gehen wollten.

      Bob Dylan entdeckte Formentera für sich, und Joni Mitchell schrieb auf Ibiza einen Song für ihr Album Blue. Mit dem Jazz und dann mit den Beatles waren neue Musik und auch neue Drogen auf die Insel gekommen, und mit ihnen brach eine neue Ära des Hedonismus an, als sich erst die Freaks und dann die Hippies als die neue Avantgarde etablierten. Dank der peluts fand Ibiza einen Platz auf der internationalen Freak-Landkarte, und plötzlich kannte man die kleine Insel auch Tausende von Kilometern von ihrer Küste entfernt. Die nächtelangen Partys am Strand oder in den Fincas auf dem Lande wurden so beliebt, dass sich daraus schließlich die ersten Nachtclubs entwickelten. Die Anfänge von Pacha, Ku (dem späteren Privilege) und Amnesia waren stark geprägt vom Geist der Hippie-Szene – es waren Outdoor-Partys, die den späteren Charakter dieser Clubs formten.

      Ibiza wurde zu einer wichtigen Station auf dem Hippie-Trail, der von Westeuropa über Istanbul, Teheran und Kabul bis nach Katmandu, Goa und Bangkok führte. Die Hippies reisten durch die Welt, entweder mit Bussen, mit dem Zug oder per Anhalter, und nahmen wenn nötig auch einmal eine Fähre; zwischendurch blieben sie immer wieder an Orten, in denen freakfreundliche Cafékulturen und entsprechende Gemeinschaften Möglichkeiten zum Unterschlupf boten. Den Trail gab es bis 1979, als die Revolution im Iran und der sowjetische Einmarsch in Afghanistan die Reisen in diese Gebiete unmöglich machten. Auf dem Weg von oder nach Osten machten viele „Trailers“ auf Ibiza Station und brachten alle möglichen Arten neuer Musik, Instrumente und Tanzrituale mit. Und große Mengen illegaler Drogen. Nach nur wenigen Jahren hatte es sich herumgesprochen, welch ein freies und von gesellschaftlichen Vorurteilen und Zwängen unbelastetes Leben man auf Ibiza führen konnte, und alle möglichen Außenseiter und Individualisten fanden sich auf der Insel ein, die auch für jene attraktiv wurde, die nicht ins Blitzlicht der Boulevardpresse geraten wollten.

      Die Strandpartys wurden dank der Mitbringsel der durchreisenden Hippies nach und nach um immer neue Elemente ergänzt. Sitars und afrikanische Trommeln erfreuten sich großer Beliebtheit, aber auch westeuropäische Musikanlagen, die damals allerdings noch relativ primitiv ausfielen. Der Sonnenuntergang galt stets als wichtiger Augenblick, wenn die sanften Wellen des gezeitenfreien Mittelmeers unter den pastellfarbenen Wolkenstreifen am dämmrigen Himmel ihre Farbe veränderten und maßgeblich die Atmosphäre dieser Partys bestimmten. Die starke Wirkung dieses Naturschauspiels wurde zur Inspiration für die Chillout-Sessions.

      Es fanden allerdings nicht alle Partys unter freiem Himmel statt. Oft traf man sich in einer Finca auf dem Land – etwas, das sich über die Jahrzehnte nicht geändert hat, auch heute noch finden die besten After-Partys abseits der Stadt an entlegenen Orten statt. Dabei kamen die unwahrscheinlichsten und faszinierendsten Menschen zusammen, denen lediglich gemeinsam war, dass sie ein Leben jenseits des durchgeplanten, spießigen, westlich geprägten Alltags führen wollten. Sie wussten, dass sie endlich einen Ort gefunden hatten, der nicht nur genau das ermöglichte, sondern der auch Gleichgesinnte magisch anzuziehen schien, die alle danach strebten, sich frei auszudrücken und hemmungslos zu feiern. In der inzwischen stark geschrumpften Hippie-Gemeinde Ibizas gibt es noch immer den Spruch: „Es ist egal, woher du kommst, es zählt nur, wie du drauf bist.“ Das traf auf die Partygänger damals mit Sicherheit zu.

      Als die Hippies auf Ibiza eintrafen, fanden sie bereits eine lebendige, wenn auch kleine internationale Kolonie interessanter Künstler vor. Der Architekt Erwin Broner, der 1934 vor den Nazis nach Ibiza geflohen war, hatte dort die Avantgarde-Gruppe Ibiza ’59 gegründet, die bis 1964 bestand und zu der auch die deutschen Künstler Hans Laabs, Egon Neubauer und Erwin Bechtold zählten. Bechtolds markante Häuser verbanden den Stil der traditionellen ibizenkischen Fincas mit der Moderne. Sein Haus in Sa Penya, einem kopfsteingepflasterten Viertel, steht noch immer. Die Gruppe traf sich im El Corsario oder in der neu eröffneten Galerie von Ivan Spence im Dalt Vila.

      Der exzentrische britische Autor und Fälscher William Donaldson alias Henry Root ließ sich auf der Insel nieder und gab sein ganzes Erbe für ein Glasbodenboot aus, dessen Zulassung allerdings schon abgelaufen war. Der frühere GI „Bad Hand“ Jack, der später wegen Mordes verhaftet wurde, begründete eine Jazz-Gemeinde auf Ibiza, indem er nicht nur seine Freunde auf die Insel lockte, sondern auch Musiker, die bereits in seinem Club in Barcelona aufgetreten waren. 1956 kam die Neuseeländerin Janet Frame nach Europa, als sie ein Stipendium gewonnen hatte. Auf Ibiza entdeckte sie für sich den Sex und verlor ihre Jungfräulichkeit mit 32 Jahren an einen amerikanischen Bohemien. Hedonistische Ideen, Musik und der Austausch mit Gleichgesinnten lockten immer mehr Menschen an, die nach Meditationsmöglichkeiten suchten, ihre sexuellen Neigungen offener ausleben wollten oder daran interessiert waren, mit einer aufstrebenden, jungen, europäischen Künstlerszene in Kontakt zu kommen. Als das Hafenviertel 1973 vor der Ankunft des spanischen Prinzen Juan Carlos von allen unliebsamen Elementen gesäubert wurde, stellte der spätere König dem Bürgermeister von Ibiza-Stadt die berühmte Frage: „Was haben Sie mit meinen Hippies gemacht?“ Aristoteles Onassis, Fürst Rainier und Fürstin Gracia Patrizia segelten nach Ibiza, weil die Hippie-Gemeinde dort Trends schuf, die sich über den ganzen Mittelmeerraum verbreiteten. Später bauten sich Niki Lauda, Ursula Andress und Roman Polanski auf der Insel Häuser und ließen sich von der jungen Szene inspirieren.

      Allerdings war Ibiza auch zu einem Drehkreuz für den Drogenschmuggel geworden, und in der Szene tummelten sich Dealer und Diebe, Zuhälter und heruntergekommene Prostituierte – die Schattenseite der Beatnik-Welt. Mit den Augen des Pauschaltouristen betrachtet, wirkte Ibiza in den 1960ern und 1970ern recht abgewirtschaftet, trotz der charmanten Hippie-Note, und galt gewissermaßen als isla non grata, während die Nachbarinsel Mallorca gerade für den Tourismus aufpoliert wurde. Ibizas Tageszeitung Diario de Ibiza sprach im September 1963 von „diesen verkommenen und unmoralischen Leuten“, vom „Abschaum der Gesellschaft“, von Gammlern und Außenseitern und „dreckigen, unehrlichen, verachtenswerten Subjekten“.

      Zu den Kennern der Insel und der Hippie-Szene zählt Monica Gerlach, eine gebürtige Holländerin, die schon lange auf Ibiza zu Hause ist. Sie wuchs in Angola auf, „in der Wildnis, völlig ungezähmt, wo ich halbnackt herumlaufen konnte“, und heiratete später den Briten Richard Brooke-Edwards, einen illegitimen Adelsspross und Schriftsteller, der jedoch wie viele Auswanderer auf Ibiza nicht zurechtkam. „Er konnte sich nicht einleben. Sie saßen alle in den Bars und tranken den ganzen Tag, erzählten Geschichten, spielten Backgammon und Schach. Er wurde Alkoholiker und starb recht jung.“ Aber trotz der ersten Drogenexperimente, die allmählich Einzug auf den Partys hielten, beschreibt Monica die Sechziger und Siebziger als eine recht unschuldige Zeit. „Es war alles sehr natürlich. Die Leute tanzten und tranken ein bisschen was, rauchten vielleicht auch mal Pot, aber harte Drogen gab es nicht … noch nicht.“

      In Sa Penya eröffnete die Bar Anfora – heute ein weltberühmter Schwulenclub, damals eine der ersten Bars mit Live-Musik. „Wir gingen entweder dorthin oder ins Lola’s, das heute auch ein Schwulenclub geworden ist“, berichtet Gerlach weiter. „Dort trafen wir uns nach dem Abendessen, nahmen ein paar Drinks, rauchten, verliebten uns. Wir waren alle zwischen