Matthew Collin

Rave On


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um ihnen mehr perkussive Power und elektronische Energie zu verleihen. Damit ebnete er den Weg für House und jenen Sound, den er selbst als „die Rache von Disco“ bezeichnete.

      Ich sah ihn zum ersten Mal Anfang 1988 im Londoner Club Delirium auftreten. House galt damals in Großbritannien immer noch als eine Art obskure Sekte. Die große Rave-Explosion sollte erst einige Monate später beginnen. In dieser Nacht spielte er jedenfalls auch eine seiner besten Produktionen, „Let the Music Use You“ von The Nightwriters. Mit ihren optimistischen Akkorden, die sich gen Himmel recken, während der Sänger uns auffordert, seine Hände zu ergreifen und dem musikalischen Spirit zu erlauben, uns in immer luftigere Höhen emporzuheben, gelingt es dieser Nummer immer noch, einige der Elemente, die das Beste an jenem fragilen Zaubergebilde namens House ausmachen, explizit zu veranschaulichen.

      An diesem Abend in London hätte man sich nie vorstellen können, dass eines Tages die Nachrufe auf Frankie Knuckles auf BBC und CNN ausgestrahlt würden und sogar der Präsident der USA diesem weisen wie anständigen Gentleman seinen Respekt zollen würde. Aber genau so sollte es kommen: „Frankies Schaffen half dabei, persönliche Horizonte zu erweitern und Menschen zusammenzubringen, wobei er Genres vermengte und so unsere Aufmerksamkeit erweckte und unsere Fantasie beflügelte,“ schrieben Barack und Michelle Obama nach Knuckles’ Tod in einem unerwartet herzlich formulierten Brief aus dem Weißen Haus. „Zwar wird er aufrichtig vermisst werden, doch wir vertrauen darauf, dass Frankies Geist auch weiterhin als wegweisende Kraft fungieren wird.“

      Das Ableben von Frankie Knuckles verursachte einen Ausbruch kollektiven Wehklagens, der wiederum zum ersten Mal seit Jahren die entfremdeten Clans der Dance-Music-Szene in ihrer Trauer und ihrem Gedenken zu einen vermochte. Dies offenbarte, wie viel Leidenschaft und Glaube in einer Popkultur, die bereits mehr als drei Dekaden auf dem Buckel hatte, noch immer steckte –

      aber auch, wie weit wir es doch gebracht hatten, seitdem er Disco in den amerikanischen Clubs der Schwarzen und Schwulen zu House umgeformt hatte.

      Unsere Kultur hatte sich in ein wildes Tohuwabohu von gigantischen Ausmaßen, eine Orgie kapitalistischer Ausbeutung verwandelt. Ende 2015 schätzte ein Marktanalytiker von Danceonomics, einem Unternehmen, das Daten erhebt und auswertet, dass Dance-Music weltweit Einkünfte von 7,1 Milliarden Dollar pro Jahr erwirtschaftete – und wie das in einem globalen kapitalistischen Markt nun einmal so ist, wanderte ein Großteil davon auf die Konten einiger weniger an der Spitze. Laut einem Bericht mit dem Titel „Electronic Cash Kings“, der im Wirtschaftsmagazin Forbes erschien, scheffelte der Bestverdiener unter den DJs, ein Mann namens Adam Richard Wiles aus dem schottischen Dumfries, mit seinen Auftritten, Tonträgern, Merchandise-Verkäufen, Werbeeinnahmen und anderen kommerziellen Projekten unter seinem Künstlernamen Calvin Harris in diesem Jahr geschätzte 63 Millionen Dollar.

      Electronic Cash Kings …

      Damals, Mitte der Neunzigerjahre, wurde viel über „Superstar-DJs“ berichtet, die exklusive Sportautos fuhren und sich kostspielige Drogen leisteten. Doch im Vergleich zu den Kolossen, die auf sie folgen sollten, waren sie allerhöchstens Liliputaner. All diese Showmänner aus der Oberliga – bei diesen „Cash Kings“ handelte es sich tatsächlich fast ausschließlich um Männer – hatten sich zu Globetrottern gemausert, die permanent auf Reisen waren, von Gig zu Gig jetteten und in VIP-Abflugbereichen und Fünf-Sterne-Suiten auf ihren Laptops an neuen Tracks bastelten, während sie am obligatorischen Champagner nippten und dabei fleißig Bonusmeilen sammelten. Sogar jene, die sich auf weniger massentaugliche Spielarten elektronischer Musik spezialisiert hatten, befanden sich ununterbrochen auf Achse oder in der Luft, um zwischen den so ungleichen Versammlungsstätten ihrer internationalen Jüngerschaft hin und her zu reisen. Die Berliner Techno-DJane Ellen Allien trat beispielsweise im Verlauf eines einzigen Monats, dem Mai 2016, gleich in elf verschiedenen Ländern auf: Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Österreich, Türkei, Israel, Indien, Kolumbien, Ecuador und den USA – ein knallharter Terminplan, der nichts für schwache Nerven oder mental Unausgewogene ist.

      Im gleichen Jahr verkündete der schwedische Trance-DJ Avicii, der 2018 schließlich starb, dass er sich mit gerade einmal 26 Jahren aus dem Geschäft zurückziehen wolle, da er offenbar unter Alkoholismus und Erschöpfung litt, ausgelöst durch den Druck, den sein Vagabunden-Lifestyle mit sich brachte. Auf die Gewinner wartete wahrlich fürstlicher Luxus, doch lauerten eben auch toxische Tücken entlang des Weges.

      Die unerwartete Langlebigkeit und das kommerzielle Wachstum der Szene hatten zur Folge, dass ein DJ sich für manche, die einst nur inbrünstige Enthusiasten gewesen waren, zu einer legitimen, lebenslangen Berufswahl entwickelte. Es kam nicht selten vor, dass über 50 Jahre alte DJs ihre Platten für Bewunderer auflegten, die jung genug waren, um ihre Kinder zu sein. (Die Kinder mancher Veteranen wie Pete Tong und Kevin Saunderson wurden tatsächlich selbst auch DJs.) Bei den DJs handelte es sich auch nicht länger ausschließlich um die alten Vinyl-Junkies. Bei einem Festival bekommt man mitunter etwa auch ein Set des über 70 Jahre alten Disco-Produzenten Giorgio Moroder zu hören. Andere Prominente, die es ihm gleichtun, sind etwa der Rap-Star Snoop Dogg, die Alternative-Rock-Ikone Thom Yorke von Radiohead, der Bassist von New Order und Joy Division, Peter Hook, oder sogar reiche Erbinnen wie Paris Hilton. „Du kannst heute jeden buchen – solange die Kasse stimmt!“, mutmaßte die Detroiter Techno-Legende Derrick May.

      Es herrschte nun, wie Hunter S. Thompson einmal über das Kalifornien der Sechzigerjahre schrieb, Wahnsinn in jeder Richtung, zu jeder Stunde. Als elektronische Dance-Music ab den Neunzigerjahren zunehmend zu einer global stattfindenden Angelegenheit wurde, konnte man in fast jeder beliebigen Metropole DJs finden, die fast jeden beliebigen Stil auflegten: Dubstep in Istanbul, Psytrance in Shanghai, Footwork in Belgrad. Es wäre praktisch unmöglich gewesen, einen umfassenden Almanach zusammenzustellen, der sämtliche globale Szenen und ihre musikalischen Ausprägungen porträtierte – außer in Form einer Reihe regelmäßig auf den neuesten Stand gebrachten Enzyklopädien, verfasst von einem rigoros programmierten Online-Aggregat.

      Der sich global ausbreitende Zugang zum Internet trug dazu bei, Trends zu propagieren, die zuvor womöglich viel länger lokale Phänomene geblieben wären, und erlaubte grenzübergreifenden Netzwerken, sich rund um jede nur denkbare Art von Sound zusammenzufinden. Die Kultur der Electronic Dance Music wuchs simultan zum Internet und griff instinktiv auf die Möglichkeiten zurück, die es bot. Hier handelte es sich um eine digitale Kultur für die digitale Epoche. Die reichlich vorhandenen Attraktionen der Dance-Music-Festivals und die extravaganten audiovisuellen Spektakel der amerikanischen EDM-Szene trugen ebenfalls dazu bei, dass diese Kultur anders wahrgenommen wurde. Was machte einen guten Club denn nun genau aus? War wirklich alles, was man dafür benötigte, „ein Keller, eine Blinkleuchte … und ein paar gute Pillen“, wie der DJ Terry Farley, ein wahres britisches House-Urgestein, einst meinte?3 Oder brauchte man doch ein opulentes, maßgeschneidertes Videoprojektionsmapping sowie ein breites Arsenal an pyrotechnischen Effekten, die entzündet wurden, sobald die Bassdrum einsetzte? Oder Flaschenverkauf und VIP-Tische rund um die DJ-Kabine? Leicht beschürzte Showgirls oder sorgfältig enthaarte Muskelprotze? Ein makelloses Soundsystem von Funktion One und ein paar der exaltiertesten Techno-Spezialisten aus Berlin? Oder doch nur einen Acker, eine Waldlichtung, einen weitläufigen Strand oder eine alte dreckige Lagerhalle, die man für eine irre Nacht okkupieren konnte und von wo aus man rasch das Weite suchte, sobald die Hüter des Gesetzes eintrafen?

      Damals zu Beginn der Neunzigerjahre, als ich anfing, an Im Rausch der Sinne zu arbeiten, einem Buch, das die Ursprünge der Acid-House- und Rave-Szene in Großbritannien beleuchtete, wurde bereits lang und breit darüber diskutiert, ob unsere Kultur zu groß, zu kommerziell und zu zersplittert geworden wäre und ob ihr rebellischer Geist bald schon der Vergangenheit angehören würde. Doch rückblickend waren dies unschuldige Zeiten. Die „House Nation“ oder „Techno-Community“, oder wie auch immer man diese Szene nennen will, war in jenen Tagen noch relativ überschaubar und isoliert. Im Grunde genommen entsprach sie immer noch Terry Farleys Idealvorstellung von einem dunklen Raum mit ein paar starken Nummern, pulsierenden Strobos und bewusstseinsverändernden Chemikalien. Sogar die Veranstalter, von denen wir dachten, sie würden mit hohen Einsätzen hantieren, waren letztendlich nur kleine Fische im Vergleich zu den Firmengiganten, die später versuchen sollten, Profit aus unserer Kultur zu schlagen.

      Diese