Ian Christe

Höllen-Lärm


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wegen der Überzeugungskraft lauter, eingängiger Lieder wie „Deuce“ und „Cold Gin“ Platin erhielt. Es han­delte sich um Rockbonbons mit Heavy-Metal-Zuckerguss, eine Art Kaugummi mit Black-Sabbath-Geschmack.

      Kiss wendeten sich an ein Publikum, das zu jung war, um Vietnam zu ver­stehen. Die an Cartoon-Ästhetik angelehnte Bühnenshow strotzte nur so von ägyptischen Katzenstatuen, Kristallgebilden und verfallenen Steinmauern. Es war ein finanzielles Risiko, das man zugunsten eines unvergesslichen Ereignis­ses auf sich nahm. „Als wir anfingen, waren die Leute einfach nur verwirrt“, meint der Gitarrist Stanley Eisen alias Paul Stanley. „Wir trugen Plateaustiefel. Unser Make-up war absurd. Der größte Künstler in Amerika war damals John Denver. Wir waren nicht cool, aber wir waren von unserer Sache überzeugt. Es war eine Kamikazemission. Wir ließen uns keine andere Wahl, als erfolgreich zu sein. Es hätte entsetzlich schief gehen können.“

      Die Destroyer-Tour schlug 1976 den Bogen zwischen jung und hungrig auf der einen und überlebensgroß auf der anderen Seite. Trotz ihrer extravagan­ten Plastikpräsenz wateten Kiss noch immer im Schlamm – bei einer Show in El Paso, Texas, spielte die Gruppe vor zehntausend Grenzstadtarbeitern in einer Scheune, die sonst regelmäßig für Viehauktionen genutzt wurde. In diesem Sommer kämpften Kiss in ganz Amerika einen Lautstärkekrieg, überdröhnten Vorbands wie Bob Seger und Ted Nugent und zahlten später die doppelte Stromrechnung für ihren gleißend hellen Bühnenhintergrund aus grellen Scheinwerfern. In einer Zeit, in der es noch keine allmächtige Konzertkarten­agentur wie Ticket Master, keine professionellen Sicherheitsunternehmen oder Metalldetektoren gab, trafen Kiss auf ein schlecht organisiertes Chaos. Am Ende waren sie Superstars und halfen bei der Entstehung einer professionellen Kon­zertkultur, die zur Nabelschnur des Heavy Metal wurde.

      Das Make-up, das Blut und das Feuer hinterließen einen unauslöschlichen Eindruck bei den Fans, von denen viele die Musik zuvor überhaupt nicht gehört hatten. Kiss überbrückten die sich vergrößernde Kluft zwischen den Genera­tionen mit Merchandise, schufen Puppen, Schlafanzüge, Kaugummiaufkleber, ein Gesellschaftsspiel, ein von Marvel veröffentlichtes Comicheft und einen Flipperautomaten. Längst waren sie kostümierte Überwesen und wurden bald Stars ihres eigenen Sciencefiction-Films, Kiss Meets the Phantom of the Park. Bald gehörte es zum Initiationsritual in amerikanischen Grundschulen, Kinder­buchautor Dr. Seuss den Rücken zu kehren und sich stattdessen für „Dr. Love“ zu entscheiden. Derart geprägt, wendete sich ein riesiger Teil der Bevölkerung nach dem Ende der Kindheit mit versengten Augen dem Heavy Metal zu – in der Erwartung, dort denselben Schock und Donner zu erleben.

      Black Sabbath boten dem Hörer mehr als nur drei Akkorde und eine gute Show – aber Sounds von ähnlicher Durchschlagskraft musste das Publikum noch immer suchen. Mitte der Siebziger konnte man die Heavy-Metal-Ästhetik wie ein mythisches Ungeheuer in dem traurigen Bass und den komplexen Gitarren von Thin Lizzy, der Bühnenkunst von Alice Cooper, der zischenden Gitarre und dem protzigen Gesang bei Queen oder den wuchtigen mittelalterlichen The­men bei Rainbow entdecken. Dann kamen Judas Priest 1974 im Gefolge von Black Sabbath aus Birmingham und vereinigten und erweiterten die verschie­denen Highlights auf der Klangpalette des Hardrock. Zum ersten Mal wurde Heavy Metal ein wirklich eigenständiges Genre.

      Judas Priest stellten die schleppende Wucht von Deep Purple in den Dienst eines bedrohlichen Angriffs, neben dem die theatralischen Höhen von Led Zep­pelin im Vergleich wie kleine Scharmützel wirkten. Nichts zuvor kam an das Tempo von Glenn Tipton und K. K. Downings Gitarren oder die großartige Theatralik in Rob Halfords phänomenaler Stimme heran. Judas Priest schöpf­ten die intensivsten Momente aus der Vergangenheit in einen Kessel und mix­ten sie zu einer neuen magischen Art der Wahrnehmung zusammen.„ Ich habe meine Gesangstechnik eigentlich beim Singen erfunden“,sagt Rob Halford.„Ich habe mich nie nach Leuten umgesehen, die sich cool anhörten, und dann ver­sucht, genauso zu klingen.“

      Judas Priest machten kein Geheimnis aus ihrem Ziel: Sie wollten die ulti­mative Heavy-Metal-Band der Welt sein. Dabei bestanden durchaus einige wit­zige Verbindungen zu Sabbath. Die hatten beispielsweise der jüngeren Band ihren Probenraum überlassen, und ein Judas-Priest-Musiker hatte kurzzeitig mit Earth zu tun, der Band, aus der Black Sabbath entstanden war.

      Verglichen mit Sabbath jedoch war die Musik von Judas Priest sehr formal, streng um Breaks, Bridges und dynamische Höhepunkte herum organisiert. Wäh­rend sich Black Sabbath eher nach „Gefühl“ richteten und nicht nach einem steti­gen Metronomtakt, bevorzugten Judas Priest eine stark geordnete Herangehens-weise. Bei dem melodischen, bewusstseinserweiternden Zusammenspiel von Tip­ton und Downing wurden zwei Leadgitarren wie Schnitzwerkzeug verwendet, um den Sound bei hoher Dezibelstärke geschickt herauszuschneiden und zu formen. Jeder sengende Break der Leadgitarre war in eine perfekte Songvertiefung einge­lassen,die den Weg zu neuen unverwüstlichen Kreationen wies.Anders als bei den ausgesprochen urwüchsigen Black Sabbath eiferten junge Musiker Priest nach, ohne aber wie deren Kopie zu klingen – das erstaunliche Repertoire musikalischer Techniken verlangte nach eingehenderer Beschäftigung mit der Band.

      So, wie bei Paranoid Politik und Machtkämpfe angesprochen wurden, so bediente sich Rob Halford beim Erzeugen der unheimlichen Momente auf Sad Wings Of Destiny bei den Ausführungen von Sunzi (Die Kunst des Krieges) und den Dramen von Shakespeare. Er entzündete sie mit glühendem Gesangs­feuerwerk. „Ich bin mit außergewöhnlichen Stimmbändern gesegnet, mit denen ich einige bizarre Sachen anstellen kann“, sagt Halford, „und ich versuche immer eher, von Song zu Song zu sehen, was man anders und neu machen kann. Es ging vor allen Dingen immer ums Experimentieren.“

      HARDROCK

      Dutzende früher Zeitgenossen von Black Sabbath beteiligten sich an der Entwicklung dessen, was später als Heavy Metal bezeichnet werden sollte. Einige orientierten sich am Blues wie Led Zeppelin und Deep Purple; King Crimson, Queen, Rush und andere verwendeten Elemente klassischer Musik. Blue Cheer und die Stooges drehten dagegen einfach ihre Verstärker bis zum Anschlag auf und ließen es scheppern. Alle waren langhaarig und laut, trugen Schlaghosen und hatten Courage. Sie hatten sich vorgenommen, die Rock ’n’Roll-Explosion der Sechziger in zehnfacher Lautstärke zu überdröhnen. Selbst als ihre Musik schließlich in Vergessenheit geriet, blieb Heavy Metal der Kühnheit dieses Pionierzeitalters verpflichtet.

      Freakografie:

      Alice Cooper, Killer (1971)

      Blue Cheer, Vincebus Eruptum (1967)

      Blue Öyster Cult, Tyranny And Mutation (1973)

      Deep Purple, Machine Head (1972)

      Flower Travelin’ Band, Satori (1972)

      Hawkwind, Hall Of The Mountain Grill (1974)

      Jimi Hendrix, Electric Ladyland (1968)

      King Crimson, Starless And Bible Black (1974)

      Led Zeppelin, IV (1971)

      Queen, A Night At The Opera (1975)

      Rush, 2112 (1976)

      The Stooges, Raw Power (1973)

      Cream, Disraeli Gears (1967)

      MC5, Kick Out The Jams (1969)

      Obwohl die „flashing senseless sabers“ in „Genocide“ als Schlachtfeldfanta­sie aufgefasst werden konnten, wurde der Song im selben Jahr geschrieben, in dem Pol Pot den Gefängnisstaat Kambodscha von ethnischen Minderheiten „säu­berte“ und viele dieser eineinhalb Millionen Menschen mit Schwertern ent­hauptet wurden. Denn darin bestand die Mission des Heavy Metal: sich dem gan­zen Bild zu stellen – eine Verbindung zwischen dem Leben und dem Kosmos zu schaffen. Wenn es Liebeslieder gab, dann waren es epische Erzählungen, keine Oden oder niedliche Teenagergeschichten über Liebe im Limoladen. Konflikte wurden in den Texten immer im großen Maßstab behandelt, was in den Siebzi­gerjahren bedeutete, dass man auf Despoten, Diktatoren und antidemokratische Watergate-Einbrecher eindrosch.„Ich habe Rock immer als Form der Revolution jüngerer Leute gegen das Establishment verstanden“, sagt der Metaller Tom War­rior von Celtic Frost.„Obwohl es heute natürlich eine einzige große kommerzielle Maschinerie ist, steckt dieser Geist noch immer in mir drin. Das kann ich nicht verleugnen, weil ich mit dieser Vorstellung groß geworden