und hatte schon eine eigene Facebook-Seite und einen Twitteraccount, bis Biologen dem ganzen Spaß ein Ende setzten und nachwiesen, dass diese Art Lurch – Kleine erinnerte sich nicht mehr an die genaue biologische Bezeichnung – nicht in der Region lebte, niemals gelebt hatte und auch niemals leben würde. Schilda ließ grüßen.
Die Brücke war schließlich gebaut worden. Nachdem der Busparkplatz für einen Sommer gut gefüllt war und Tagesgäste etwas Geld in die Kassen gespült hatten, suchte sich die Gemeinde der Nervenkitzelfans schnell andere Thrills. Seit gut zwei Jahren hing das Ding nun da herum und kostete Unsummen an Geld. Jeder am See kannte das gespenstische Heulen, wenn an trüben Herbstabenden der Wind durch die Spanndrähte pfiff. Weder die Gemeinde noch der Unternehmer hatten bedacht, dass Tagesausflügler, die in ihrer Freizeit auf Nervenkitzel stehen, diesen, einmal gehabt, schnell an anderer Stelle suchen würden und immer noch eine Steigerung mehr benötigten. Der letzte Schrei war in diesem Sommer eine Messerwurfanlage in Thüringen. Kleine schüttelte innerlich den Kopf.
Der Bürgermeister saß direkt an der Stirnseite des Raumes. Er trug einen dunklen, dreiteiligen Anzug und eine Krawatte. Wie der Journalist blätterte auch er noch in verschiedenen Unterlagen und schien sich, hoch konzentriert, von dem Stimmengemurmel im Saal nicht ablenken zu lassen. Neben ihm stand eine auf Hochglanz polierte Sitzungsglocke. Andreas Figge, ein Parteiloser, war seit fast zehn Jahren im Amt und konnte auf eine gediegene Arbeit verweisen. Und das will hier in der Region etwas heißen, dachte Kleine immer wieder. Skandale wie in Großstädten gab es in diesen ländlichen Regionen eher seltener. Die Finanzen waren solide, es wurde nichts veruntreut und nichts korrumpiert. Dafür standen Versorgungsthemen verschiedenster Art regelmäßig auf der Tagesordnung. Wie ist es zu schaffen, genügend Ärzte für eine medizinische Grundversorgung der immer älteren Bewohner in der Gegend zu halten? Was ist mit Geschäften für die Nahversorgung mit Lebensmitteln? Was ist mit der Versorgung in puncto Bildung? Welche Schulform ist die bestmögliche in einem Landstrich, in dem nahezu jedes Kind mehr als eine Viertelstunde mit dem Bus zur Schule und wieder zurückfahren musste? Was geschieht mit den jungen Leuten, die in Korbach auf dem Gymnasium ihr Abitur machen? Wie können Jobs geschaffen werden, die eine Rückkehr in die Region nach dem Studium attraktiv machen? Wie können überhaupt Jobs geschaffen oder bewahrt werden in einer Region, die in früheren Jahren zu beinahe einhundert Prozent von der Landwirtschaft und dem Erzbergbau abhängig war – beides Wirtschaftszweige, die es nun gar nicht mehr oder zumindest nicht mehr in der Form gab, in der sie früher einmal prosperiert und gleich mehrere Generationen auf einem Hof gut ernährt hatten. Die jähe Insolvenz eines Fleisch- und Wurstzulieferers mit über 200 Beschäftigten im benachbarten Twistetal – der Betrieb war über Nacht nach einem Lebensmittelskandal geschlossen worden – hatte auch in der Gemeinde für einen sprunghaften Anstieg an Arbeitsuchenden gesorgt und das ganze Können Figges gefordert. Kleine schaute auf sein Tischchen. Er war jedes Mal aufs Neue betroffen, wenn er darüber nachdachte, was sich hier in Nordhessen in den vergangenen drei Jahrzehnten alles unwiederbringlich gewandelt hatte. Mit einigem Entsetzen hatte er vor einigen Jahren bemerkt, dass es kaum noch Ferien auf dem Bauernhof zu buchen gab. Mit Grimmelmann, der nicht nur Experte für Amphibien war, sondern mit seiner Frau auch eine Ferienwohnung auf seinem Hof vermietete, hatte er darüber ein langes Gespräch geführt. „Tja“, hatte der gesagt. „Die Ansprüche sind einfach zu hoch. Da muss dann schon eine Kälbchengeburt und mindestens ein Maislabyrinth dabei sein, damit die Kids was zu posten haben. Keine Instagramfähigkeit, kein cooler Urlaub.“ Sie hatten lange geschwiegen.
Bei solchen Gesprächen mit den Einheimischen merkte Kleine jedes Mal, wo seine eigenen Wurzeln lagen. Denn eigentlich war er einer von hier, seine Jahrzehnte in Düsseldorf bildeten nur eine Zwischenstation in seinem Leben. Als Sohn eines in den fünfziger Jahren an den Niederrhein gekommenen Handwerkers hatte er früh erkannt, dass Lesen und noch mehr Lesen das war, womit er sein Brot verdienen wollte. „Dann musst du Journalist werden“, hatte seine Mutter gesagt. Kleine hatte im Alter von sechs Jahren nicht die geringste Idee, was das war, ein Journalist, aber das Wort alleine klang schon mal irgendwie gut. Zumindest besser, als Feuerwehrmann und Lokführer, die beiden anderen Wunschberufsgruppen, die bei Fragestunden im Kindergarten und in der Grundschule regelmäßig am häufigsten genannt wurden. Und er hatte damals auch stets die Anfangsmelodie einer Politiksendung im Fernsehen im Kopf, die sein Vater stets mit großem Ernst am frühen Sonntagabend zu gucken pflegte. Zu einer Zeit, in der er selbst ins Bett musste. „Das ist Politik, das ist noch nichts für dich“, hatte sein Vater immer gesagt, während auf der Mattscheibe bereits Pauken, Bassposaunen und eine langsam von links oben ins Bild rotierende Weltkugel mit Verheißungen der großen Nachrichtenwelt lockten. Nun, später hatte er diese Verheißungen als Fluch kennengelernt. Gründlich. Vielleicht mehr, als ihm lieb war. Der Spruch seines Vaters, „Politik, das ist nichts für dich“ schien inzwischen auf den Großteil der Deutschen zuzutreffen.
Das helle Läuten der Glocke riss ihn aus seinen Gedanken. Es war 18 Uhr. Der Bürgermeister hatte sein Aktenstudium beendet. Das Gemurmel im Raum ebbte mit einem Mal ab. Als hätte jemand auf die Beschleunigungstaste eines Videogeräts gedrückt, kam Bewegung in die Gesprächsgruppen, die Ratsleute und Gäste strebten ihren Plätzen zu. Andreas Figge blickte über den Rand seiner Hornbrille in die Runde, schaltete das Tischmikrofon ein und prüfte mit einem kurzen Antippen die Funktion. „Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Bürgerinnen und Bürger“, erklang seine Stimme blechern aus den aufgestellten Boxen wie bei einer Sportübertragung vergangener Zeiten. Er atmete durch und machte eine kurze Pause, als wolle er sich ins Gedächtnis rufen, was er nun sagen wollte. Ein kurzer Blick zum Oppositionsführer, dann zum Pressesprecher der Gemeinde. Beide Männer nickten dezent und zeigten dem Bürgermeister – und auch dem aufmerksamen Beobachter – auf diese Weise ihre Einverständniserklärung mit dem, was nun folgen sollte. Kleine begriff und ahnte es: Hier war zuvor etwas abgesprochen und inszeniert worden. Der Bürgermeister fuhr fort: „Sie alle haben gehört, was sich gestern in Heringhausen zugetragen hat. Carl Lieberknecht, ein hier am Diemelsee stets sehr gerne gesehener und von uns allen geschätzter Gast, ein Mann, der Großes mit dieser Gemeinde vorhatte …“ Es schien, als würde sich die Stimme von Figge vorsichtig vortasten wie ein Soldat auf vermintem Terrain. Kleine bemerkte, dass Grimmelmann unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte. Der Hotelier dagegen hob in stiller Erwartung das Kinn. Kleine war sich sicher, dass Gröner informiert worden war über das, was nun folgte. „… ist durch eine abscheuliche, unfassbare Tat von uns gegangen. Ich möchte Sie aus Gründen des Respekts gegenüber dem Verstorbenen und als Form der Anteilnahme gegenüber der Familie bitten, sich für eine Schweigeminute von Ihren Plätzen zu erheben.“
Das Geräusch von rückenden Stühlen, Stimmrauschen und Raunen ging durch die Reihen, als sich der Gemeinderat und die weiteren Anwesenden in der Halle von ihren Plätzen erhoben. Alle, bis auf die Mitglieder der Fraktion der Grünen. Grimmelmann und seine vier Fraktionsmitglieder blieben wie festgeklebt sitzen. Der Fraktionschef faltete trotzig die Arme über der Brust zusammen und drehte sich noch mal kurz zu seinen Fraktionskollegen um. Bürgermeister Andreas Figge schien es zunächst gar nicht zu bemerken, als Ruhe bei den Besuchern und den Lokalpolitikern einkehrte, doch dann sah er, was dort vor sich ging. Seine Stimme nahm einen kühlen tadelnden Ton an, als er das Mikro zur Seite drehte und sprach. „Herr Grimmelmann, wir wollen angesichts der Ereignisse unsere möglichen Differenzen ad acta legen. Hier geht es nur darum, einem Verstorbenen die Referenz zu erweisen. Ich bitte und fordere Sie auf, dies ebenfalls zu tun.“
Tatsächlich stand Grimmelmann auf. Der Rest seiner Fraktion jedoch nicht, und Kleine und allen anderen im Raum war auch sofort klar, dass er den Worten des Bürgermeisters nicht folgen würde. Er stand nur auf, damit er besser zu verstehen war. „Sehr geehrter Herr Bürgermeister, liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr verehrte Gäste.“ Kleine blickte kurz zu Emde hinüber, der erwiderte den Blick: Grimmelmann hatte sich seine Worte vorher zurechtgelegt. Dies war keine spontane Aktion. „Nichts würde uns fernerliegen, als diese Zusammenkunft zu provozieren. Doch ich halte eindeutig fest, dass der hier zu ehrende Verstorbene, der gewiss unter tragischen Umständen ums Leben kam, in unseren Augen ein rücksichtsloser Profiteur war, dessen einziges Anliegen es hier in unserer Gemeinde war, sich die eigenen Taschen zu füllen. Ohne Rücksicht auf die Natur, ohne Rücksicht auf weitere Nachteile für die Gemeinde.“ Ein erstes Raunen setzte ein, bei den Besuchern rief ein Mann laut „Buuh!“ Grimmelmanns Stimme stieg vor