Peter Langer

Krawattennazis


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Auffassung nicht dazu. Ich danke Ihnen.“ Grimmelmann nahm wieder Platz, das Stimmgemurmel unter den Zuhörern wurde lauter. An anderer Stelle im Raum war ein einsames Klatschen zu hören. Kleine sah nicht, wo. Er registrierte bei seinen Journalistenkollegen emsig über Papier kritzelnde Kugelschreiber. Die Schlagzeile war im Kasten und sicher war es für die lokalen Ausgaben auch noch nicht zu spät, das mitzunehmen. Gröners Gesicht war eine düstere Landschaft wie aus Gestein geworden. Er bekam sichtbar nicht verarbeitet, was er gerade gesehen und gehört hatte. Gut gemacht, Grimmelmann. Wieder mal ein Zitat für die Ewigkeit. Die Titelstory geht an dich. Die Unruhe, die nach den Worten Grimmelmanns im Saal aufgekommen war, ebbte nur langsam ab. Bürgermeister Figge, der zunächst wie viele um Luft und Fassung gerungen hatte, musste mit der Tischglocke nachhelfen. „Ich rufe Sie alle zur Ruhe auf. Bitte, stellen Sie das Reden ein, Ruhe bitte!“ Noch ein energisches Klingeln der Glocke, schließlich war es still im Saal. Alle schauten auf den Bürgermeister, als wäre nur er in der Lage, eine angemessene Reaktion zu liefern. So war es dann auch. „Herr Grimmelmann …“ Figge suchte nach Worten. Er war offenbar unvorbereitet. Dabei hätte man eigentlich damit rechnen können. Die Rivalität zwischen den Grünen und dem Unternehmer war ja nicht erst seit gestern bekannt, dachte Kleine. „Herr Grimmelmann, Ihre persönliche Fehde mit Herrn Lieberknecht bleibt Ihre private Angelegenheit. Ich schließe Sie und Ihre Fraktion nicht von der Sitzung aus. Ich werde jedoch über eine geeignete Form der Rüge nachdenken, spreche einen Tadel aus und fahre nun mit der Tagesordnung fort.“ Spreche einen Tadel aus, Kleine musste schmunzeln. Wie in einer Schulklasse. Lokalpolitik blieb ein spannendes Spielfeld voller Überraschungen. Fast war es, als würde ein kollektives Aufatmen der Erleichterung durch den Rat und auch alle Zuhörerinnen und Zuhörer gehen. Keiner im Saal war erkennbar auf Krawall aus. Keiner. Bis auf … Kleine rückte sich seine Lesebrille zurecht, um über die Gläser hinwegzuschauen, als sein Blick durch die Reihen glitt. Scheinbar bis auf einen gertenschlanken, sportlichen Mann Mitte 40, der ihm vorher gar nicht aufgefallen war, was möglichweise an dem absolut unauffälligen Dutzendgesicht lag. Kurzhaarfrisur über einer hohen Stirn. Eine modische Blockstreifenkrawatte und ein weißes Hemd mit Kentkragen zum dunklen Anzug wiesen ihn allerdings als einen Nichteinheimischen aus. So etwas trug hier im Alltag kaum einer. Nur zu festlichen Anlässen. Fast war es Kleine, als würde er ein diebisches Grinsen der Zufriedenheit auf dem Gesicht dieses Mannes ablesen können, das dessen eigentlich sympathischen Gesichtszügen etwas Diabolisches, fast schon Bösartiges gab. Ein Streitsucher, wie er im Buche stand. Einer, der vielleicht eine Rechnung mit Grimmelmann oder Lieberknecht offen hatte und sich nun darüber freute, dass der eine Dank seiner hochkochenden Emotionen und seinem Mangel an Diplomatie und Empathie ein weiteres Mal nach dem ‚Lurchgate‘ nun in eine Situation hineingeraten war, für die er sich möglicherweise noch würde rechtfertigen müssen – und der andere in der Gerichtsmedizin in einer Edelstahlwanne lag. Wer bist du? Kleine kam es so vor, als hätte er dieses Gesicht schon mal gesehen. Doch er wusste nicht, wo. Vor einigen Monaten oder Jahren? Kein Gesicht, das einem beim Einkaufen im Supermarkt in Adorf, beim Bummel durch die Professor-Bier-Straße in Korbach oder beim Wandern begegnete und dann im Gedächtnis haften blieb. Eher so eines, das man auf Fotos irgendwelcher Ehrungen in der Zeitung sah. Mit Prominenten, ein Sektglas haltend, das Foto meist mit der Unterzeile ‚von links nach rechts‘ versehen, aber dann irgendwie nie an erster Stelle genannt. Ein Mann der stillen zweiten Reihe, in der effektiv gearbeitet anstatt geglänzt und geprotzt wurde. Der Mann hatte eine frappierende Ähnlichkeit mit dem ehemaligen Landesvorsitzenden einer nicht ganz demokratisch gesinnten Partei. Oder …? Plötzlich glaubte Kleine die Antwort zu ahnen. Er schickte einen stillen, ganz und gar undiplomatischen Fluch gen Himmel, dass es vor einigen Jahren verboten worden war, aus Rats- oder Ausschusssitzungen heraus Smartphones zu benutzen. So sollte und wurde auch erfolgreich die ständige Twitterei und Versendung sonstiger Kurznachrichten – und damit auch die produktive Unterhaltung der Gerüchteküche – erfolgreich eingedämmt. Zwar konnte der Journalist nicht überprüfen, ob er mit seiner Vermutung richtig lag. Doch wenn er sich nicht irrte, musste es sich bei dem Unbekannten um Thomas Bergmann handeln. Der Anwalt und lokale Ortsfürst einer kleinen und leider noch nicht verbotenen politischen Gruppierung – Partei wollte Kleine sie nicht nennen und auch die Presse mied das Wort in diesem Zusammenhang – namens Nationale Einheit. Hervorgegangen war die NE oder schlicht Einheit, wie deren Mitglieder sich selbst nannten, aus der Alternative für Deutschland, der AfD, als diese sich nach einer aus ihrer kruden Sichtweise erfolgreichen Saison im Bundestag aufgespalten hatte. Kleine erinnerte sich noch gut. Einige gefährlich kluge Köpfe der AfD hatten damals die Seiten gewechselt. Keine Schreihälse und tumben Raufbolde, sondern ausnahmslos Akademiker, Hochschulabsolventen mit Doktortiteln in Rechts- und Politikwissenschaften aus bestem Hause. Und daher umso gefährlicher. Denn das Licht der Öffentlichkeit suchte diese Bande nicht, sondern knüpfte Verbindungen im Stillen, schuf Synergien und wartete auf den richtigen Augenblick – ohne auf die Drohgebärden und Einschüchterungen von Schlägertrupps mit Glatzen zu setzen. Außerdem machte sie in dieser Zeit durch messerscharfe Leserbriefe hart am rechten Rand der Legalität, durch Petitionen auf allen erdenklichen durch die Verfassung gedeckelten Wegen und durch gezielte kurze Zwischenrufe bei öffentlichen Veranstaltungen von sich reden. Niemals laut. Niemals plump. Aber immer in bösartiger Weise wachsam und lauernd. Stets die Wählerschicht im Auge, die sich niemals als antisemitisch oder rassistisch bezeichnen würden, deren politische Diskussionen aber oft von Sätzen wie „eigentlich haben die doch Recht“ geprägt waren. Sie waren richtige Krawattenazis, stets modisch akkurat und immer dem Anlass angemessen gekleidet. Stets korrekt und niemals grob unhöflich. Und wahrscheinlich, so vermutete Kleine, in Schliff und Manieren der damaligen SS so nahe, wie es mitunter sicherlich nur Historiker am ehesten nachvollziehen konnten. Diese Spezies wusste, was sie tat. Bis zum Endsieg ihrer Ideologie.

      Bergmann war, den Gerüchten zufolge, vor einigen Jahren in die Region gekommen, nachdem er seine Kanzlei in Frankfurt aufgeben musste. Bis heute wusste keiner, welche Rolle er eigentlich genau bei der Nationalen Einheit spielte und ob er überhaupt noch etwas damit zu tun hatte. In Nordhessen zumindest war er bislang nicht negativ aufgefallen, eigentlich überhaupt nicht, man wusste noch nicht einmal genau, wo er wohnte, und Kleine sah ihn hier nun auch zum ersten Mal. Wenn er es überhaupt war. In Frankfurt jedenfalls war Bergmann in Bausch und Bogen gescheitert. Kleine grübelte, ob er damals auch seine Zulassung als Anwalt verloren hatte, zumindest wurde darüber auch in der Presse geschrieben. Irgendetwas mit einem Insiderdeal bei Derivaten, bei dem der Herr seine Finger nicht herauslassen konnte. Eine Strafverfolgung wurde gerade noch so verhindert. Jedenfalls schien dieser Kerl nun in der letzten Reihe der Sitzplätze für Besucher zu sitzen und das Theater sichtbar zu genießen. Kleine widmete sich wieder dem Geschehen auf den Ratsplätzen, doch eine innere Unruhe ließ ihn nicht los. Der Bürgermeister sprach nun mit einer Frau, die bislang eher teilnahmslos auf einem separaten Stuhl gesessen hatte. Direkt vor großen Schautafeln, auf denen Kleine – und sicherlich auch alle anderen Anwesenden in der Halle – auf den ersten Blick einen Querschnitt durch das Stollen- und Sohlensystem der Erzgrube Christiane erkannten. Beinahe exakt so, wie auf den großen Metalltafeln unten am Besucherparkplatz des Bergwerks selbst.

      Die Frau hatte lange rötliche Haare und eine große Hornbrille, die sie immer wieder über den Nasenrücken nach oben schieben musste, was ihr ein Stück sonst sicherlich nicht vorhandener Unbeholfenheit verlieh. Figge schaltete das Tischmikrofon wieder ein und kündigte den nächsten Tagesordnungspunkt an, der in der ursprünglichen Sitzungsordnung mal der erste gewesen war. Aha, dachte Kleine, dann musste die Frau also tatsächlich die Sachverständige des zuständigen Bergamtes sein. Maria Vanderwalde oder so? Er hatte den Namen bereits irgendwo in der Tischvorlage der Sitzung gelesen und hin und wieder Statements von ihr in der Presse, wenn es um die stillgelegte Grube ging. So sah sie also in Wirklichkeit aus.

      „Sehr geehrte Damen und Herren …“ die Stimme des Bürgermeisters hatte endgültig ihre Souveränität wiedergewonnen, mit der Figge auch Eröffnungsreden zu Schützenfesten und Wandertagen anzustimmen pflegte. Stolz und Optimismus. Alles wird gut. „… ich darf Ihnen Frau Vanderwalde vorstellen …“.Kleine bemerkte einen kleinen Anflug von Unsicherheit. Figge räusperte sich, blätterte in seiner Tischvorlage, fand dann offenbar, was er suchte und setzte neu an. „… Dr. Vanderwalde, die zuständige Geologin des Bergamtes in Arnsberg. Sie wird uns nun in einer länderübergreifenden Zusammenarbeit über die geologischen Herausforderungen und Zeiträume