Peter Langer

Krawattennazis


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Aber Lieberknecht, und da war sich der ehemalige Pressemann sicher, dass er nicht nur für sich selber sprach, war einer dieses Kalibers. Sie waren sich zwei, drei Mal begegnet, Kleine erinnerte sich nicht ohne ein gewisses Schaudern an diese Abende zurück. Lieberknecht hatte ihn während des kurzen Gesprächs abschätzend taxiert. Er erschien Kleine wie ein Mensch, der Stunde um Stunde damit zubringt, die Umgebung zu sondieren, die Lage zu checken, andere in Schubladen zu packen und sich dann selbst in das Ranking einzufügen – stets an oberster Stelle. Seine Eingaben im Gemeinderat waren von einer Arroganz und Eitelkeit geprägt, dass sich Kleine sicher war: Nicht nur ihm wäre beinahe übel geworden. Und dennoch: Der ehemalige Bankvorstand wurde hofiert, wurde scheinbar geschätzt. Dem großen Geld klopft man gerne auf die Schulter. Und findet immer Ausreden und Entschuldigungen. Lieberknecht war stets Ehrengast bei Schützen- und Feuerwehrfesten. Hatte er nicht sogar vergangenes Jahr drüben in Benkhausen den Schützenkönig bei den Ehrentänzen ausgebootet? Kleine erinnerte sich an fassungslose Blicke und trotzdem hatte niemand etwas gesagt, als der sprachlose Brauchtumsmonarch seiner Frau und dem Millionär beim Schneewalzer zugucken durfte. An Speichelleckern mangelte es nie, wenn Geld im Spiel war. Nun, das änderte nichts daran, dass er den Leuten hier am Diemelsee sagte, was sie gefälligst zu tun und zu lassen hatten und was der wahre Weg zu Glück und Zukunft ist. Und so etwas kommt nirgendwo besonders gut an, schon gar nicht in einer ländlichen, von Tradition und Brauchtum geprägten Region, auch wenn Lieberknecht es nicht direkt bemerkt haben sollte und es unter der Oberfläche brodelte. Also, dachte sich Kleine, den hatten ganz sicher einige auf der Rechnung. Seinem Freund standen harte Ermittlungen bevor, denn die möglichen Motive in diesem Fall würden eine Streuung haben wie der Schuss aus einer abgesägten Schrotflinte.

      Kapitel 2

      Es war für ihn gar nicht so einfach wegzukommen. Aufträge dieser Art schätzte er für gewöhnlich nicht. Rasche An- und Abreise war ihm deutlich lieber. Der Mann war in einem unauffälligen Mittelklasse-Mietwagen unterwegs, den er am Flughafen Düsseldorf übernommen hatte. Der Abgabeort des Fahrzeugs, der Flughafen Frankfurt, war zuvor vereinbart worden. Aber dieser Weg zurück zur Autobahn zog sich endlos über Landstraßen und machte ihn nervös. Wer nervös ist, macht Fehler. Kein guter Zustand für ihn. Das Navi hatte ihn durch kleine Ortschaften und an einer größeren Stadt vorbeigelotst, von der er in seinem Leben noch nie etwas gehört hatte. Korbach. Nun, es gab Orte, die man nicht unbedingt gesehen haben musste. Auch wenn ihm die Stadt vom bloßen Anblick aus der Ferne nicht unsympathisch erschien. Zwei hohe Kirchtürme ragten wie Landmarken in den Himmel. Die Bebauungen der Stadtviertel umringten sie, wie sich eine scheue Kinderschar um ihre Eltern versammelt. Schließlich war er durch das Edertal gefahren und hatte bei Fritzlar die A49 erreicht.

      Alles lief nun nach Plan. Um 13.25 Uhr hob seine Maschine nach Paris ab. Diesen Flug hatte er tatsächlich unter seinem richtigen Namen gebucht, einem Namen, den er seit Jahren nicht mehr benutzt hatte. Ein guter, vertrauter Name, der in ihm Erinnerungen an ein fernes Leben weckte. In Paris würde er die Flughäfen wechseln, ein Taxi von Charles de Gaulle nach Orly nehmen, um von dort mit einem französischen Pass und anderem Namen weiter nach London zu fliegen. Nach diesem knapp dreiviertelstündigen Flug würde er reichlich Aufenthalt in Heathrow haben, bevor er schließlich einen Nachtflug an sein endgültiges Ziel nehmen würde. Es war gut für seine Art von Geschäft, dass der Zivilflugverkehr nach der Corona-Krise beinahe sein altes Niveau wieder erreicht hatte. Er hoffte, mit seinem Flugplan seine Spuren halbwegs gut verwischt zu haben. Neben dem Flughafen von Dubai und dem neuen Flughafen in Istanbul gab es kaum einen Ort auf der Welt, an dem es Profis so gut gelang, unsichtbar zu werden wie in Heathrow. Die Briten lernten einfach nicht aus den zahlreichen Terroranschlägen in ihrem Land dazu.

      Wie eine bestürzte Frau, die gerade vom Tod ihres geliebten Gatten erfahren hatte, wirkte Constanze Lieberknecht irgendwie nicht, dachte Emde. Er kam sich vor wie in einem Derrickfilm aus den achtziger Jahren. Der späte Vormittag brach gerade an, und gemeinsam mit einem Beamten der Kripo in Dortmund, der ihm bei diesem Gespräch zur Seite gestellt worden war – offenbar hielt man es vonseiten der Behörden für angebrachter, einen Vertreter aus NRW dabei zu haben – überbrachte er in einer an den kantig-modernen Stil von Le Corbusier erinnernden Villa in Dortmund-Kirchhörde die Nachricht vom vorzeitigen Ableben des ehemaligen Bankvorstands. Draußen um die Straßenecke herum und von Hecken gut verborgen, parkte das Fahrzeug eines Seelsorgers. Nur für den Fall. Doch Emde erkannte auf den ersten Blick, dass die Anwesenheit des Mannes nicht notwendig sein würde.

      Constanze Lieberknecht trug einen bunt gemusterten Sari, der ihre schlanke Figur unterstrich. Minutenlang stand sie am Panoramafenster zum Garten. Schweigend. Mit einem „Marlene, bieten Sie den Herren doch einen Kaffee oder Tee an“ beendete sie schließlich die Stille. Emde und sein nordrhein-westfälischer Kollege wandten sich erstaunt um. Nirgendwo in dem weitläufigen, spärlich möbilierten Wohnzimmer, in dem sich neben einem Bücherregal und zwei Lounge Chairs an der Rückwand lediglich ein Quartett weißer Panton Stühle wie eine Gruppe verhuschter Gespenster um einen Glastisch sammelte, war eine Person zu sehen, die sich angesprochen fühlen könnte. Und doch öffnete sich nach weiteren Augenblicken eine Milchglastür und eine adrette Frau in den Fünfzigern in einem eleganten dunklen Hosenanzug erschien mit einem Tablett mit zwei Tassen, zwei Kannen, Milch, Zucker und Kandis. Keine Marlene, eher eine Stephanie, aber nicht mit einem profanen F, sondern mit P und H, bitteschön, dachte Emde. „Meine Herren, ich stelle Ihre Getränke hier auf den Seitentisch.“ Ein kurzes Nicken der sich umdrehenden Hausherrin, und Marlene war wieder wie vom Erdboden verschluckt. „Mein Mann und ich haben seit Jahren nicht mehr das geführt, was man eine Ehe nennen könnte“, begann Constanze Lieberknecht. „Wir hatten unsere eigenen Interessen, unsere eigenen Freundeskreise … und … nun ja, was mir sonst gefehlt haben könnte, daran ließ ich es mir nicht mangeln.“ Emde blickte erstaunt auf. Ein Lächeln huschte über das gleichmäßige und schöne Gesicht von Constanze Lieberknecht. „Sie haben mich schon verstanden, Herr …“ Die Augenbrauen der Frau wichen vor ihren fragenden Augen darunter zurück. „Emde“, sagte Emde mit einem verhaltenen Tonfall, als würde er in einem Beichtstuhl sitzen. „… Herr Emde. Mein Mann wusste davon. Ein jugendlicher Liebhaber verleiht einer in die Jahre gekommenen Ehe manchmal noch den nötigen Rückhalt.“ Mit der Grazie einer antiken Marmorfigur – elegant und dennoch eiskalt – wies ihre Hand auf den Beistelltisch und auf das Tablett dort. „Bitte bedienen Sie sich doch.“ Dann, als hätte Constanze Lieberknecht erkannt, dass es eigentlich eine Unhöflichkeit war, Gäste nicht selbst zu bedienen, schwebte sie die vier Schritte zum Beistelltisch. „Mit Milch oder Zucker?“ „Schwarz“, sagte Emde. „Mit etwas Zucker, bitte“, ergänzte der NRW-Kollege. Emde hatte sich seinen Namen nicht wirklich gemerkt. Domburg? Dromburg? Irgendetwas, das einen an Trutz erinnerte. Festgemauertes.

      „Gibt es Feinde oder Widersacher, die Ihr Mann gehabt haben könnte“, griff Emde den Faden wieder auf. „Personen, denen eine solche Tat zuzutrauen gewesen wäre?“ Die Dame des Hauses nahm ihre Position am Fenster wieder ein, nachdem sie den beiden Polizeibeamten die zierlichen Porzellantassen gereicht hatte. „Feinde …“, wiederholte sie, als müsse sie erst über den Sinn dieses Wortes nachdenken. Nein, ging es Emde durch den Kopf. In einer Welt voller Luxus und glanzvollem Dasein, in der alles nur nach deinem Willen zurechtgebogen wird, existiert so etwas nicht. Wie zur Bestätigung schüttelte Constanze Lieberknecht dann auch den Kopf, es war eher ein gelangweiltes Hin- und Herschauen.

      „Als wäre sie ein Wesen von einem anderen Stern. Unfassbar. Die beiden müssen jahrelang nebeneinander irgendwie koexistiert haben. Wie auch immer die das geschafft haben.“ Emde schüttelte voller Schaudern den Kopf. Erst für den folgenden Tag hatte Constanze Lieberknecht einen Termin gefunden, ihren toten Gatten in der Gerichtsmedizin in Kassel zu identifizieren. Zwischen Malkurs, Yoga und angstfreiem Atmen, hatte er gedanklich für sich gefrotzelt. Die Autopsie würde bereits am Nachmittag abgeschlossen sein, wenn es bei der vermuteten Todesursache blieb und nicht herauskam, dass Lieberknecht schon tot war, bevor die Schüsse ihn trafen. Das Gespräch mit der Witwe war ohne greifbares Ergebnis verlaufen. Am Ende hatten sie in ihrer Ratlosigkeit sogar gefragt, ob sich im Bekanntenkreis möglicherweise ein ehemaliger Zeitsoldat der Bundeswehr oder anderer Streitkräfte befand, der technisch zu so einem Mord fähig wäre. Was natürlich nicht der Fall war. Constanze Lieberknecht hatte das Wort Bundeswehr ausgesprochen, als würde es sich dabei um