alle Soldaten des Mordes bezichtigen würde. Wie sie jahrelang mit einem sich an der Jagd erfreuenden Ehemann klargekommen war, würde ihr Geheimnis bleiben.
Nun befand sich Emde auf dem Heimweg auf der A44 in Richtung Kassel, in den Ohren das Headset seines privaten Mobilfunkanschlusses. Am anderen Ende der Leitung lauschte Paul Kleine. Noch wenige Kilometer bis zum Autobahnkreuz Werl, ab dort in Richtung Arnsberg. Kleine hatte ihm in der Vergangenheit einmal erzählt, dass er, wann immer er dieses Autobahnkreuz hinter sich gelassen hatte, beim Anblick der Höhenzüge, der Ausläufer des Rothaargebirges, auch alle Sorgen abgelegt hatte. Aber ob das Leben in dem kleinen Weiler im Naturpark Diemelsee für ihn wirklich so sorglos war? Emde hatte manchmal so seine Zweifel. Er wusste, dass der ehemalige Journalist und jetzige Lokalreporter – Emde war der genaue Unterschied nicht so ganz klar, Zeitungsleute waren für ihn Zeitungsleute, oder? – viel gesehen hatte und über die Ursache der Albträume, die ihn oft plagten, nicht sprechen wollte. Emde hakte nicht nach, er spürte, dass es Kleine so lieber war. Es gab sicher auch viele Dinge in Kleines Vergangenheit, über die Emde froh war, nichts zu wissen.
Im Laufe des Tages hatte Kleine ihm mal wieder einen großen Dienst erwiesen und Augen und Ohren nach möglichen Hinweisen aufgehalten. Doch scheinbar waren die Einwohner von Heringhausen direkt am See keine großen Journalistenfreunde. Kein einziger Hinweis war bislang eingegangen, keine einzige Anfrage bei den Polizeidienststellen in Korbach oder bei der zuständigen Staatsanwaltschaft Kassel gestellt worden. In dem kleinen Dorf wurde eisern geschwiegen, obwohl, da war sich Emde sehr sicher, der Einsatz oben auf den Wiesen des Eisenbergs Ortsgesprächsthema Nummer eins bei den kurzen Gesprächen über Gartenzäune hinweg und in der Bushaltestelle sein würde. Offenbar war aber auch kein Kollege der schreibenden und berichtenden Zunft auf der Wiese über dem See erschienen, um sich am Tatort umzuschauen. Stattdessen hatte es von der Staatsanwaltschaft inzwischen eine nüchterne und sehr offizielle Pressemitteilung gegeben, die seitens der Medien bislang einfach nur zur Kenntnis genommen worden war. Von Mord war natürlich nicht die Rede. Die Sprachregelung sah in solchen Fällen das „Auffinden einer leblosen Person“ vor. Auch von einer Pressekonferenz war zunächst mit Rücksicht auf die Familie des Opfers und des derzeitigen Ermittlungsstands abgesehen worden. Was gab es zum jetzigen Zeitpunkt auch schon zu berichten? Der Deckel war gut unter Kontrolle: Kein einziger Verdacht wies in die Richtung eines mutmaßlichen Mordfalls. Zwei Leute in seinem Team hielten wachsam weiterhin in den sozialen Medien nach irgendwelchen Erkenntnissen Ausschau, überprüften Facebook-Kontakte, mögliche verdeckte Gruppen. Man wusste ja nie. Obwohl Emde sich sicher war, dass der dahingeschiedene Lieberknecht eher weniger der agile Facebook-affine User war. Carl Lieberknecht war bis ins Mark die Generation Encyclopaedia Britannica, ledergebunden und mit Goldschnitt.
Es war eine stille Absprache zwischen den beiden Männern Paul Kleine und Stefan Emde, dass Emde hin und wieder unerlaubterweise Details von seiner Arbeit berichtete und Kleine ihm mit seinem Fachwissen, nicht selten auch mit seinen guten Kontakten zur regionalen und auch überregionalen Presse, weiterhalf. Nicht so ganz im Sinne der Dienstvorschriften. Aber sehr wertschöpfend. Und schon so manches Mal konnte auf diese Weise der Zünder vor einer Detonation aus dem Sprengsatz brisanter Informationen herausgedreht werden.
„Könnte der Liebhaber von ihr eine Spur sein?“, fragte Kleine. Emde ächzte. „Ein Fotograf. David Kline. Ist natürlich nur sein Künstlername. Heißt in Wirklichkeit Torben Wagner, was auch nicht viel besser ist. War in der Nacht und den Morgenstunden zur mutmaßlichen Tatzeit zu Gast zwischen den Satinlaken von Frau Lieberknecht. Sagt sie zumindest. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, warum die beiden den Alten aus dem Weg schaffen wollten. Da ist nirgends ein echtes Motiv, das die Anheuerung eines Profis rechtfertigt.“
Constanze Lieberknecht hatte den Beamten während des Gesprächs ein Foto ihres jugendlichen Liebhabers gezeigt. Es stand offen im Bücherregal des Wohnzimmers. Ein Jesustyp. Lederjacke, Dreitagebart, wilder, der Welt entrückter Blick. Handschriftliche Notizen ihres Mannes bewiesen: Er wusste tatsächlich von der Liaison und billigte sie. Einen finanziellen Vorteil schien Constanze Lieberknecht durch den Tod ihres Gatten nicht zu genießen: Durch ein Erbe war sie, ersten Ermittlungen und Gerüchten zufolge, fast so vermögend wie ihr verstorbener Mann. Dennoch hatten sie ihn und auch die schweigende Marlene überprüfen lassen. Doch es gab nirgends einen Punkt des Zweifels. „Bleibt also auf den ersten Blick nur noch die große Nummer“, zog Kleine ein Fazit. „Prospersoil.“ Emde nickte, während er an einem niederländischen Wohnwagengespann vorbeizog. Mit Freude und Neid gleichermaßen gönnte Emde sich eine kurze mentale Auszeit von seinen Ermittlungen, als er registrierte, dass der Wohnwagen von einem Mercedes-Benz 300 TE gezogen wurde. Grünmetallic, sicherlich noch die Originallackierung aus den achtziger Jahren. Emde beobachtete mit Genuss, wie der Kombi in seinem Rückspiegel immer kleiner wurde, ein fantastisches Bild. Die Frontpartie des Wagens mit den gleichmäßigen Linien, Scheinwerfern und Kühlergrill mit Stern strahlte gelassene Kraft und die Zuversicht eines längst vergangenen Jahrzehnts aus. Auch in seiner Garage stand ein 300 TE in Dunkelblau, Baujahr 1986. Und irgendwann, Emde schwor es sich beinahe jeden Tag, würde er das Fahrzeug wieder ans Laufen bekommen. Gekauft hatte er den Wagen von einem Bauern in Gembeck, der das Auto als dritter oder vierter Besitzer mehr als Ackerschlepper denn als Personenwagen genutzt hatte. Es war praktisch nichts mehr wert. Bei dem unsanften Versuch eines Vorbesitzers, den Tacho mit einer Zange zurückzudrehen, war gleich der ganze Tachoblock in Stücke gegangen. Emde war es egal, er liebte seinen Benz und wusste: Er würde ihn eines Tages fahren und sich vorkommen, als säße er auf einem rollenden Sofa.
„Bist du noch da?“, drang Kleines Stimme in seine Träume. Prospersoil! Emde war wieder im Jetzt. Prospersoil war das Explorationsunternehmen, in das Lieberknecht viel Kapital gesteckt hatte. Eine Firma mit einem steuersparenden Sitz in Wilmington im US-Bundesstaat Delaware, unter Fachleuten als Steuerparadies bekannt. An sich nicht illegal. Aber mit reichlich Geschmäckle. Das Thema Versteuerung von Gewinnen in dem Land, in dem sie erwirtschaftet wurden oder eben in Steueroasen war regelmäßig Gelegenheit zu empörten Wutartikeln der Wirtschaftsseiten von Zeitungen und Magazinen. Dass sich hier so manches Fragezeichen in ein Ausrufezeichen verwandeln würde, lag auf der Hand. Schon mehrfach hatte es wegen des Prospersoil-Vorhabens in der beschaulichen Gemeinde handfesten Streit gegeben, bei dem es auch zu Androhungen gekommen war. Nicht selten spielten dabei auch soziale Unterschiede eine Rolle. Hier der vermögende Investor, der mit viel vermeintlichem Gönnertum und Pathos in Rats- und Ausschusssitzungen die große Geige spielte und den Tenor vortrug, die Gemeinde sei ja eigentlich nur mit seinem Geld zu retten. Dort die Einheimischen, die sich nicht kaufen lassen wollten. Und eigentlich, dachte Emde, gab es dabei noch mindestens eine weitere Gruppe. Die der stillen Mitläufer, die betroffene Mienen machten, davon sprachen, dass sich die Region nicht ausliefern dürfe, wenn sie ihre Ursprünglichkeit nicht verlieren wolle – aber klammheimlich Begeisterung empfanden, wenn wieder in der Zeitung von hochtrabenden Plänen zu lesen war. Sei es nun eine wieder in Gang zu bringende Erzgrube oder – Emde fröstelte es immer noch bei der Erinnerung an das ganze Hin- und Hergerede – eine Hängeseilbrücke, die sich über eine selbstmörderische Distanz von 400 Metern in großer Höhe quer über den Diemelsee spannen sollte.
Emde wand sich aus den Erinnerungen heraus und wieder seinen Überlegungen zum Fall zu. Auf dem Parkplatz am Ortsrand von Heringhausen war Lieberknechts Geländewagen sichergestellt worden – mit zwei völlig verängstigten Jagdhunden im Fond. Die schon im Laufe des Vormittags zusammengestellte Sonderkommission, die unfassbarerweise tatsächlich den Namen ‚Wiesenruhe‘ erhalten hatte, hatte rasch wertvolle Fakten zu dem besonderen Geschäftsverhältnis zwischen dem verstorbenen Bankvorstand und dem Unternehmen Prospersoil zusammengetragen. Zwar hatte die nächste Mordkommission, die MoKo, ihren Sitz in Kassel. Doch da die Korbacher Ermittler näher an dem Fall dran waren und wussten, wie das zu erwartende Schweigen der Einheimischen zu knacken war, wurde, wie Emde es schon am Morgen geahnt hatte, in Korbach eine Sonderkommission gebildet. Mit ihm als Leiter, was wiederum für ihn ein kleines Wunder war. Ob sich das wohl auch bei seinen Bezügen bemerkbar machen würde? Vier Kollegen der MoKo aus Kassel sollten kurzfristig die ‚Wiesenruhe‘ unterstützen. Und bei den Ermittlungen waren beim näheren Hinsehen durchaus einige Fragezeichen aufgetaucht, während die Hundertschaft im Wald bislang auf keinerlei verwertbare Spuren gestoßen war. Emde hatte zwei seiner Mitarbeiter als Tatortteam abgestellt, die sich mit dem Ermittlungsfortgang am Ort des