Peter Langer

Krawattennazis


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Ansonsten freuen wir uns auf die gute Zusammenarbeit.“ Werheim blickte wieder genüsslich auf die Bücher. „Denken Sie immer dran, lieber Herr Westermann: Es wurden ganze Länder und Ozeane erfunden, wenn es um die Darstellung der eigenen Lebensleistung geht. Denken Sie an Ibn Battuta und lernen Sie von der Weisheit vergangener Forscher!“ Der Mann blickte auf seine Armbanduhr, eine elegante Longines, erhob sich, machte zwei Schritte rückwärts und deutete kurz eine Verbeugung an wie ein Palastdiener, der sich von einem Herrscher entfernt, dann drehte er sich um und verschwand zwischen den Regalreihen, ohne sich ein weiteres Mal umzuwenden. Westermanns Knie waren zu schwach zum Aufstehen, ihm wurde schwarz vor Augen.

      Der Mann, der sich Werheim nannte, eilte durch den Hauptausgang und war unter den Arkaden zwischen den Säulen und einer großen Touristengruppe schnell in der Menschenmenge verschwunden. Es war höchste Zeit. Selbst wenn Westermann die Kraft gehabt hätte, ihn zu verfolgen, hätte er ihn rasch verloren und nicht gesehen, wie der Unbekannte die Treppe hinab zum U-Bahnhof Friedrichstraße verschwand. Dort stieg er in eine gerade mit Getöse einfahrende U-Bahn in Richtung Alt-Tegel ein. Alles lief minutengenau nach Plan. Geduldig wartete er, bis sich das Knäuel der Wartenden von den Aussteigenden gelöst hatte, und bestieg dann selbst den gelben Waggon. Drinnen musterte er aufmerksam die dort sitzenden Fahrgäste. Am Ende des Wagens nahm ein Mann mit Frank-Sinatra-Hut und großer Sonnenbrille seine Tasche von Sitz gegenüber und nickte ihm zu. Es waren noch reichlich andere Sitzplätze frei, doch Werheim setzte sich auf den angebotenen Platz. Der U-Bahn-Zug hielt an der nächsten Station und das Spiel des Aus- und Einsteigens von Fahrgästen wiederholte sich, als Werheim eine Berliner Morgenpost aus der Aktenmappe nahm und sie aufschlug. Sie hatten diese Geste abgesprochen. Schließlich kündigte ein Gong und eine blechern klingende Lautsprecherstimme die Einfahrt in die Haltestelle Naturkundemuseum an. „Er hat angebissen“, sagte Werheim tonlos. Sein Gegenüber reagierte nicht. Werheim sah sein eigenes Spiegelbild in den großen dunklen Brillengläsern. Augenblicke vergingen. Dann sprach der Mann schließlich doch. „Gut. Steigen Sie hier aus. Machen Sie sich unsichtbar.“ Die Aktenmappe wechselte ihren Besitzer. Nach einem weiteren Augenblick, als Werheim bereits im Aufstehen begriffen war, fügte der andere noch hinzu: „Gute Arbeit. Wenn wir Sie wieder brauchen, lassen wir es Sie über den üblichen Kanal wissen. Die Uhr können Sie behalten“ Werheim nickte, wandte sich der sich mit einem Druckluftzischen öffnenden Tür zu und stieg aus. Sein Job war getan. Helles Tageslicht und tobender Straßenverkehr umfing ihn, als er die Treppen aus dem U-Bahn-Hades zur Chausseestraße hochstieg. Eigentlich war dies nur eine Verlängerung der Friedrichstraße. Doch Werheim, der in Wirklichkeit Bertram Kortes hieß und alles andere als das war, was er gerade dargestellt hatte, kam es vor, als wäre es eine andere Stadt. Er blieb kurz stehen. Jetzt einen Espresso. Am liebsten noch einen kleinen Schluck von irgendetwas Hochprozentigem. Er wollte versuchen, nun zunächst an die schöne Summe Geld zu denken, die ihm für sein kleines Bühnenstück, das er gerade abgeliefert hatte, bereits vor zwei Tagen überwiesen worden war. Vielleicht würde er sich von dem Geld den großen Atlas historischer Seekarten gönnen, den er sich von seinem normalen Gehalt als Kleinkünstler und gelegentlicher Filmstatist niemals würde leisten können, denn das war er tatsächlich auch in der Wirklichkeit: Ein Liebhaber klassischer Reiseberichte und antiker Karten. Wenn er die Uhr versetzte, in deren Besitz er nun überraschend gekommen war, kam bestimmt noch viel mehr zusammen. Er hatte keine Ahnung, was auf dem Markt für so einen Wecker zu erzielen war. Es war ja schließlich für eine Sache, der er sich problemlos mit seiner Meinung anschließen konnte, soweit er darüber Bescheid wusste, oder etwa nicht?

      Kortes entdeckte ein kleines, namenloses Café, wie es sie hier in Berlin auf halber Strecke ins Problemviertel Wedding viele gab. Sie existierten ein paar Wochen, wenn sie ein Publikum fanden, dem der Laden gefiel, vielleicht auch etwas länger, wenn der Kaffee fair gehandelt und ökologisch einwandfrei, also dem Geschmack des Berliner Publikums zugeschnitten war. Eines Morgens waren dann doch die Scheiben mit Zeitungspapier verklebt. Kortes bestellte einen doppelten Espresso. Und … er zögerte noch … einen Grappa. Die langhaarige Aushilfskraft mit Rastamähne und sichtbarem Hang zu alternativen Lebensstilen führte die Bestellung ohne eine einzige Gefühlsreaktion aus. Kortes wählte einen Platz am Fenster, von dem er die Straße beobachten konnte. Doch, dachte er sich. Heute war zweifellos ein guter Tag.

      Kapitel 4

      Billie Holiday beklagte mit ihrer von Drogen zerstörten Stimme, dass sich ihr Liebhaber geändert habe, das Strahlen aus seinen Augen verschwunden und sein Lächeln nur noch ein gedankenloses Grinsen sei, während Kleine bereits den dritten Single-Malt in die schweren geschliffenen Gläser goss. Emde lehnte sich zurück, genoss die Musik, obwohl er eigentlich kein Jazzfan war. Er mochte dennoch die besondere Atmosphäre in Kleines Hütte. Die Schirmlampen verströmten ein warmes Licht, aus den Holzwänden war durch den Temperaturunterschied zwischen drinnen und draußen ein leichtes Knacken zu hören.

      Emde hatte André Grimmelmann tatsächlich auf dessen Hof angetroffen. Vom Tod des Bankvorstands hatte dieser schon gehört. Erstaunlich, wie schnell sich manche Neuigkeiten dann doch verbreiten, ohne dass man etwas davon mitbekommt, hatte Emde gedacht. Und nein, natürlich hatte Grimmelmann ein Alibi für den Zeitpunkt des Todes und hätte auch gar nicht vor Ort sein können. Das einzige Transportmittel der Familie, ein betagter VW-Bus, bereits schrottreif aus Bundeswehrbeständen gekauft, die Bataillonsabzeichen notdürftig mit grüner Farbe übertüncht, war derzeit nicht fahrtüchtig. „Was willst du?“, hatte ihn Grimmelmann mit einem gereizten Ton gefragt. „Glaubst du etwa, dass ich den Typen erledigt habe? Manchmal denke ich, ich könnte es wirklich tun.“ Vor einiger Zeit hatte er im Eifer eines Streits im Rahmen einer öffentlichen Diskussion tatsächlich gepoltert, bei Typen wie Lieberknecht könne jeder rechtschaffene Bürger nur noch zur Waffe greifen. Lieberknecht hatte daraufhin durch seine Anwälte eine Strafanzeige prüfen lassen, doch davon war ihm abgeraten worden. Grimmelmann kam ungeschoren davon. Natürlich war Emde sich darüber im Klaren, dass Grimmelmann weder finanziell in der Lage war, einen Auftragsmörder zu engagieren, noch so eine Tat selbst zu vollbringen. Ein solcher Umweltfreund, der sich schon scheut, eine Herde Kühe über die Straße zu treiben, um deren Seelenfrieden nicht zu stören, ballert einem Banker doch nicht das Gehirn an die Lattenwand. Für gewöhnlich wollen solche Leute auch nichts mit einer solchen Tat zu tun haben. Und dennoch: Dieser wilde Blick in Grimmelmanns Augen und die Tatsache, dass er genau wie dessen Frau den Tod Lieberknechts kein Stück weit bedauerte, hatten Emde frösteln lassen.

      Umso wohler war ihm nun bei der Wärme des Whiskys und der Glut von Billie Holidays Stimme. Emde würde zwar nie so ein Jazzfan wie Kleine werden. Ein Discofox mit seiner Frau Susanne zu Musik von Helene Fischer, wenn unten in der Festhalle wieder gefeiert wurde, das war schon eher nach seinem Geschmack. Aber andererseits hatten die Songs der Ausnahmesängerin aus den USA etwas Außergewöhnliches, dem er sich nicht entziehen konnte, wann immer Kleine die Platte auflegte. Beim Durchstöbern durch Kleines Plattensammlung hatten sie vor einigen Jahren in einem Album von Al Jarreau tatsächlich eine gemeinsame Schnittmenge gefunden. Für Kleine gerade noch Jazz genug, war die Musik des amerikanischen Stimmakrobaten für Emde schmusiger achtziger Jahre Pop, an den er sich noch gut erinnern konnte.

      Emde hatte dem Journalisten inzwischen weitere Details des mutmaßlichen Mordes berichtet. Der ehemalige Pressemann räusperte sich, Emde sah fragend auf. „Was mir keine Ruhe lässt: Es gibt zig Möglichkeiten, eine unliebsame Person aus dem Weg zu räumen, ohne dass es direkt nach Mord aussieht. Du kannst es wie einen schiefgegangenen Raubüberfall aussehen lassen, du kannst ihn von der Straße abdrängen an einer Stelle, an der sichergestellt ist, dass er nicht überlebt. Du kannst ihn mit Worten töten, ihn lächerlich machen und jeder Ehre berauben. Bei solchen Kerlen ist auch das genau so, als würdest du sie töten. Dann bist du den entsprechenden vermeintlichen Widersacher los, aber hast auch nicht sofort Ermittlungen am Hals. Denn die andere Seite muss ja zuerst darauf kommen. Was ich mich wirklich frage, ist: Warum wird er von einem Profi erschossen – und es soll auch genauso aussehen?“ Kleine blickte Emde über den Tisch an. Der erwiderte den Blick und zuckte mit den Schultern. „So, als wäre die Tat auch gleichzeitig eine Warnung: Passt bloß auf, die Ihr noch lebt und Ähnliches vorhabt.“ Emde nickte bedächtig. Der Gedankengang hatte etwas für sich und tatsächlich hatte er diesen Aspekt noch gar nicht bedacht. Schande! Er suchte nach Worten, er drang nur äußerst ungern in die Vergangenheit