Peter Langer

Krawattennazis


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Bangert fuhr fort. „Da könnte einem schon der Hals anschwellen, wenn man so liest, wie diese Herrschaften ihre Unternehmensgewinne aus dem einen Land in dem anderen Land versteuern, weil sie dort ihren Sitz haben und es dort eine nahezu unbegrenzte Steuerfreiheit gibt.“ Er füllte sich Kaffee aus einer Borussia-Dortmund-Thermoskanne nach. „Verdammt, Finanzminister in so einem Inselstaat möchte ich mal sein. Ich würde mir eine eigene Fantasieuniform schneidern lassen, blau wie das Meer ringsherum, damit das Metall meiner vielen Orden umso mehr blitzt. Mann, was hätte ich einen Dienstwagen. Und natürlich würde ich mit einer ganzen Kolonne von dunklen Limousinen unterwegs sein, und wenn ich zum Golfen will, müssen für mich die Straßen abgesperrt werden.“ Emde musste schmunzeln und dachte unwillkürlich an einen großartigen Roman, der genau so etwas zum Inhalt hatte und den Kleine ihm mal geliehen hatte. ‚Der Schneider von Panama‘, eine wunderbare Satire, aber mit einem bitterernsten Kern. Emde hatte sie zunächst eher mit Widerwillen gelesen und um seinem Freund einen Gefallen zu tun. Am Ende wollte er das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen, was für Wahrheiten sich darin wiederfanden, du glaubst es gar nicht. Als dann einige Zeit später die Verfilmung ins Kino kam, waren sie extra nach Kassel gefahren, um sie zu sehen. Seitdem war auch Emde Fan des Autors John le Carré und von guten Politthrillern.

      Der Hauptkommissar warf einen flüchtigen Blick auf die eingegangenen Mails und schlug den ersten Ordner auf. Die Unternehmensgründung von Prospersoil, aha. Er warf einen Blick hinüber zu Bangert, der seinerseits gerade das BVB-Plakat an der Wand anschmachtete, das er als in der Wolle gefärbter Fan in den Diensträumen aufhängen durfte. Stimmt, die Borussia hatte ja am zurückliegenden Wochenende in Bayern gewonnen. Ein glanzvoller Sieg, Fußball vom anderen Stern, großer Sport! Hatte er dem Erfolg eigentlich Referenz gezollt? „Bangert, weißt du, was der gravierende Unterschied zwischen uns und deinem Fantasiestaat ist?“ Der Gefragte erwachte aus seinen Titelträumen und blickte neugierig herüber. „Bei uns wirst du schlimmstenfalls abgewählt und musst dich in einer Elefantenrunde im Fernsehen am Wahlabend deinem Nachfolger stellen und geschlagen geben. Und alle finden es ganz okay, wenn du dabei vielleicht nicht mehr ganz nüchtern bist.“ Er machte eine kurze Pause. „In solchen Kleptokratien aber“, er liebte das Wort, Kleine hatte es ihm mal genannt und erklärt, was das ist, „endest du in einem Hinterhof, als Fischfutter oder dein toller Dienstwagen wird von Geschosssplittern durchsiebt. Samt dir. Das willst du nicht. Ich auch nicht, denn dann muss ich den ganzen Kram hier alleine machen.“ Er beschrieb mit seiner Hand einen Halbkreis über seinen Schreibtisch, Bangert schnitt eine Fratze. „Also. Bleib lieber bei deiner Borussia, denn Fußball spielen können die dort meistens auch nicht.“ Die Borussia allerdings manchmal auch nicht, seit Klopp, der Große, das Weite gesucht hatte, dachte Emde, aber das behielt er lieber für sich.

      Eine Mail ging mit einem Glockenspielton ein: Der Autopsiebericht aus der Gerichtsmedizin, eigentlich bereits für gestern angekündigt. Anders als in Fernsehkrimis nahmen einzelne Bestandteile einer Autopsie mitunter eben doch einiges an Zeit in Anspruch, denn chemische Prozesse mussten überprüft und abgeglichen werden. Und anders als im Fernsehen waren Rechtsmedizinische Institute auch nicht immer so perfekt ausgestattet und hatten meist eine zeitraubende Wochenenddienstregelung. Die ‚Klienten‘ konnten sich ja nicht mehr über lange Wartezeiten beschweren. Emde klickte den Bericht auf und überflog flüchtig, was er beinahe schon erwartet hatte: Unmittelbar eingetretener Tod durch massive Einwirkung auf den Schädel bedingt durch das Eindringen eines Geschosses. Also endgültig doch kein Herzklabaster. Lieberknecht war vermutlich wirklich schon tot, bevor er rückwärts gegen die Holzlatten san. Bei ihrem Austritt aus dem Hinterkopf hatte die Kugel einen großen Teil des Okzipitallappens mitgenommen. Was auch immer das genau war, die Kollegen von der SpuSi durften ihn später mit Schwamm und Eimer von der Rückwand aufnehmen, bevor sie das Geschoss vorsichtig aus dem Holz kratzen und in die ballistische Untersuchung geben konnten, dachte Emde. Er blickte kurz durch die anderen Mails: Der Bericht der Ballistiker war noch nicht eingegangen. Der Autopsiebericht endete mit einem Fazit: Tod wurde vermutlich bewusst herbeigeführt. Emde seufzte und vertiefte sich in die weiteren Unterlagen.

      Als Kleine erwachte, war es draußen längst wieder hell. Sein Plattenspieler hatte den Tonarm nach Abspielen der ersten Seite wieder in die Ausgangsstellung zurückgefahren, der Plattenteller drehte sich aber noch und die Nadelbeleuchtung war eingeschaltet. Kaffee! Er trank einfach zu viel davon. Seine Mischung aus der vergangenen Nacht war längst ungenießbare Plörre geworden und erinnerte ihn mit ihrem grässlichen Aroma an endlose Redaktionstage, als er zigmal frischen Kaffee aus der kleinen Teeküche … warum hießen diese kleinen Kabinette eigentlich immer noch so, obwohl dort deutlich mehr Kaffee als Tee getrunken wurde? … geholt hatte, der dann erkaltete, ohne getrunken worden zu sein. Er rief sich den zurückliegenden Tag in Erinnerung. Lieberknecht war tot. Erschossen, Donnerwetter. Er konnte sich vorstellen, wie die Bewohner der Region mit dieser Nachricht umgehen würden. Viele hatten es sich sicherlich oftmals ausgemalt: Kommt schon, seid ehrlich zu euch, wie oft habt ihr gedacht, ihr entzündet ein Freudenfeuer, wenn der Typ den Arsch zukneift. Doch nun, nachdem es wirklich passiert ist, sitzen wahrscheinlich viele am Küchentisch und wissen nicht, was sie denken und vor allem, wie sie auf die Frage „Hast du’s schon gehört?“, reagieren sollen, die sie theoretisch in dem Augenblick ereilen kann, wenn sie vor die Tür treten. Er war doch schon so eine Art Heilsbringer für die Region, nicht? Schade eigentlich.

      Kleine überprüfte die Termine des heutigen Tages. War heute nicht sogar die Ratssitzung? Tatsächlich, um 18 Uhr in der Dansenberghalle. Ursprünglich hatte sie im Festsaal der evangelischen Kirchengemeinde Adorf stattfinden sollen. Aus Platzmangel in den Amtsräumen der Gemeindeverwaltung wurden stets andere Räumlichkeiten genutzt, je nachdem, welche Tagesordnungspunkte besprochen wurden und mit welchem Interesse in der Bevölkerung gerechnet wurde. Heute wurde mit großem Interesse gerechnet. Kleine überflog die Tagesordnung, die auf der Webseite der Gemeinde eingefügt war. Tatsächlich hätte es heute einen weiteren Sachstandsbericht zur Reaktivierung der Grube Christiane geben sollen. Eine Expertin des Bergamts sollte Risiken, Möglichkeiten und Chancen ausloten und dem Rat vorstellen. Ob dieser Punkt wohl so stattfinden würde? Kleine griff zum Telefon.

      Emde hatte an seinem Schreibtisch beinahe zeitgleich von der Ratssitzung erfahren, als das Telefon klingelte. Er schaute auf die Nummer im Display. Hier innerhalb des Kommissariats musste er vorsichtig sein, auch wenn immer mal wieder der eine oder andere Kollege etwas von seiner nützlichen Liaison mit dem Journalisten mitbekommen hatte. So meldete er sich auch mit einem halblauten „Was willst du?“ und lauschte Kleines Vorschlag, die Sitzung gemeinsam aufzusuchen. „Gut. Gute Idee. Sonst noch etwas?“ Kleine blickte verdutzt sein Handy an. Was für ein unwirscher Ton. Emde hatte offenbar Stress. Oder war im Büro. Oder beides traf zu, was ja auch mal vorkommen konnte. Er fasste sich kurz. „Wir sehen uns dann.“ Ein Klicken in der Leitung beendet das Gespräch. Emdes Blick wanderte zu der Thermoskanne seines Kollegen. Der Kaffee im Präsidium war eigentlich ungenießbar. So sehr, dass er schon öfters, sehr zur Freude seiner Frau, auf Tee ausgewichen war. Earl Grey, second flush. „Ist da noch etwas drin?“ Bangert schaute erstaunt rüber und nickte kaum merklich. Erleichtert und ohne seinen Wunsch weiter ausdefiniert zu haben, stand Emde auf und besorgte sich eine Tasse, angeschlagen und mit bereits angeklebtem Henkel: Die Polizei in Hessen – Dein neuer Arbeitgeber.

      Die Szene war unwirklich. Fast wie in einem Film. Constanze Lieberknecht trat gefasst in den Raum, dessen Temperatur deutlich niedriger als die in den anderen Räumen des Instituts für Pathologie in Kassel war, das für die nordhessische Polizei bei Bedarf auch als Rechtsmedizin fungierte. Doch abgesehen vom Verhalten der Bankierswitwe erinnerte wenig in dem Raum an die entsprechend gleichen Szenen in Fernsehkrimis. Es gab keine Milchglasscheiben und kein diffuses Licht. Keine Reihe von Alutischen mit zugedeckten Körpern und auch keinen Gerichtsmediziner mit Kittel und Mundschutz, der nach einem kurzen Augenblick ein Tuch zurückschlug. Der Raum hatte eher etwas von der sterilen Freundlichkeit eines Krankenzimmers, war weniger ein angsteinflößender Operationssaal als ein Sterbezimmer, die Wände waren nicht gefliest, sondern verputzt, lediglich bis Knöchelhöhe reichte der rutschfeste Bodenbelag aus PVC, der in den Kanten für eine bessere Reinigung hochgewölbt war. Über der Tür hing ein Kruzifix. Das eigentliche Gemetzel hatte in einem anderen Raum stattgefunden.

      Emde war etwas später als Constanze Lieberknecht an der Gerichtsmedizin angekommen und