Wieder waren junge Israelis in Deutschland auf grausame Weise ums Leben gekommen. Die Älteren erinnerten sich noch an das Attentat des Schwarzen September während der Olympischen Spiele 1972. Die neue Regierung Israels hielt sich allerdings, von diplomatischen Protestnoten abgesehen, zurück.
Entsetzlicherweise war der Jubel in einigen Problemvierteln im Ruhrgebiet und in Sachsen als Reaktion auf die Tat größer gewesen als die Protest- und Solidaritätsbekundungen. Zwar wurden zwei muslimische Jugendliche festgenommen, die auch vor Gericht gestanden, das Feuer gelegt und die Fluchttüren versperrt zu haben. Doch es war schnell klar, dass es dabei auch Anstifter und Hintermänner gegeben hatte, deren Identität im Dunkeln blieb, denn die beiden Jungs hatten sich schnell in Widersprüche verwickelt. Sie konnten gar nicht über das Wissen verfügen, wie man die Sicherheitseinrichtungen und die Brandmeldeanlage schachmatt setzt. Und auch ein Untersuchungsausschuss stocherte nur hilflos im Dunklen. Es schien geradezu, als wolle die Politik die Schuldigen gar nicht finden.
Nachdem die Weihnachtsmarkttradition nach der Pandemie gerade wiederbelebt worden war, wurde im vergangenen Dezember wieder ein Weihnachtsmarkt Ziel eines Anschlags radikaler Islamisten. In Düsseldorf. Obwohl die Stadt durch verschiedene Anschlagspläne, die im Vorfeld aufgedeckt worden waren, eigentlich hätte vorgewarnt sein müssen und einiges zur Sicherheit der Einwohner und Besucher getan hatte. Doch die Mörder kamen dieses Mal nicht mit einem heranrasenden Lkw. Auch nicht mit einem Sprengstoffgürtel oder automatischen Waffen. Nein, diese Radikalen, ausnahmslos Konvertiten mit nicht-orientalischem Erscheinungsbild und daher unauffällig, wurden freundlich von den schwerbewaffneten Polizisten, die den Weihnachtsmarkt bewachten, durchgewunken. Sie näherten sich zum blinkenden gelben Licht ihres städtischen Fahrzeugs und in orangefarbenen Overalls die Straße kehrend im Schritttempo ihren Opfern, die ahnungslos vor den Hütten am Schadowplatz um Glühwein anstanden – und zündeten dann an der engsten Stelle ihren unter dem Müll auf der Ladefläche verborgenen Sprengsatz. Kleine hatte später mit einem ehemaligen Kollegen der Westdeutschen Gazette gesprochen, der zum Zeitpunkt des Anschlags gerade Redaktionsdienst hatte. Der Knall ließ noch in den Redaktionsräumen an der Königsallee, fast einen Kilometer entfernt, die Fenster vibrieren. Viele der Ersthelfer litten seitdem durch das, was sie am Tatort sahen, unter Albträumen. Die Druckwelle konnte sich wegen der engen Straßen nicht ausbreiten, das Blut war bis in den dritten Stock gespritzt, während aus den Lautsprechern Bing Crosby mit Christmas in Killarney weiter erklang:
The door is always open, and the neighbors pay a call. And father John, before he is gone, will bless the house and all.
Es war wirklich kein Deutschland, das einem derzeit Freude bereitete, dachte Kleine. Wenigstens hatte Bundeskanzler Magilsky nicht den Fehler seiner Vorgängerin Merkel wiederholt, er blieb ganz ein Mann des Volkes – und der Kameras, Blitzlichter und der Schlagzeilen der darauffolgenden Tage. Innerhalb einer Woche hatte es am Anschlagsort in Düsseldorf eine Gedenkfeier mit Kabinettsmitgliedern, dem Ministerpräsidenten, beiden Innenministern und den Angehörigen der Opfer gegeben. Magilsky hatte dabei Vätern, Müttern, Ehemännern und -frauen sowie plötzlich zu Waisen gewordenen Kindern mit ernster Miene beide Hände gedrückt. In Kommentaren der Tageszeitungen wurden Vergleiche mit dem Warschauer Kniefall Willy Brandts gezogen, wenn auch die Opposition machtlos gefaucht hatte, der Bundeskanzler würde die Leiden der Hinterbliebenen zu seinen Zwecken instrumentalisieren. Aber bei den Bürgern kamen die Bilder an.
Kleine ging in die Küche und goss sich heißes Wasser in einen Becher mit Instantkaffee. Wenn er jetzt schon wach war, konnte er ebenso gut etwas Musik hören und dem neuen Tag auf dem Sofa im Wohnzimmer entgegendämmern. Er öffnete kurz das Wohnzimmerfenster und ließ einen Schwall kühle Nachtluft ins Zimmer. Die meisten Straßenlaternen im Dorf wurden um Mitternacht vom Stromnetz genommen, die Nacht draußen war stockdunkel wie in einem Gebrüder-Grimm-Märchen. Er wählte eine Platte von Antonio Carlos Jobim und setzte vorsichtig die Nadel auf den Tonträger. Er versuchte, noch den ersten Bossa Nova-Klängen zu lauschen, doch bereits nach wenigen weiteren Akkorden war er weggeschlummert, während der Kaffeebecher lautlos vor sich hin dampfte.
Kapitel 5
Einen noch mehr an Spionageromane erinnernden Treffpunkt hätten sie sich nicht aussuchen können, dachte der jüngere Mann. Ein Parkplatz an einem Waldrand. Ein großes Hinweisschild zeigte eine Karte mit einem Muster bunter Wanderwege.Nach Süden hin verschwanden weite Felder im dichten Dunst des frühen Morgens. Die Umrisse einer Viehtränke waren neben einem Zaun gerade noch auszumachen. Sie warteten nun schon geraume Zeit. Er blickte verstohlen auf seine Armbanduhr. Schon fast eine Dreiviertelstunde! Da sie den Motor des Autos, in dem sie warteten, ausgeschaltet hatten, kroch langsam die Kälte ins Fahrzeuginnere. Auf der Zufahrt zum Parkplatz regte sich etwas. Es schien wie waberndes Licht, aus dem ein Scheinwerferpaar herauswuchs. Na endlich! Der junge Mann musterte mit einem kurzen Seitenblick die Frau auf dem Beifahrersitz rechts von ihm, doch die starrte mit einem entrückten Blick geradeaus. Sie scheint noch nicht einmal zu bemerken, dass unser Besuch anrückt. Nicht zum ersten Mal an diesem Morgen fragte sich der Mann, was er da eigentlich machte. Das andere Auto, ein neuer BMW in einer in diesem Morgenlicht unmöglich festzulegenden Farbe, beschrieb einen Halbkreis und kam dann etwa 20 Meter vor ihrem Fahrzeug zum Stehen. Ein Mann stieg aus, Managertyp, hoch aufgeschossen, kurze Haare, Anzug und Kurzmantel. Er ging um seinen Luxusschlitten herum, fischte eine Zigarette aus einem Metalletui, etwas, das der junge Mann nur aus alten Filmen kannte, und zündete sich die Zigarette an. Doch bereits nachdem er nur zwei, drei Mal mit sichtbarem Genuss den Rauch inhaliert hatte, warf er die Zigarette zu Boden und trat sie mit dem linken Fuß, dem linken, aus. Das Signal: Es war alles in Ordnung, sie wurden nicht überwacht. Die Frau neben ihm öffnete bereits die Wagentür und stieg aus. Sie und der Manager schienen sich zu kennen, sie traten aufeinander zu und umarmten sich kurz. Auch der junge Mann stieg aus. Die Worte wurden nur geflüstert, die Information, wegen der sie so früh an diesem gottverlassenen Ort sein mussten, schien bereits ausgetauscht. Er hörte nur „… sehr zufrieden … absolut unvermeidlich … abwarten!“ Ohne weitere Worte wandte sich die Frau um und stieg wieder ein. Der junge Mann folgte ihr mit seinem Blick, schaute dann nochmals den Älteren an, doch nichts deutete darauf hin, dass noch weitere Worte gewechselt werden sollten. Also folgte er der Frau, setzte sich hinters Steuer und ließ den Motor an. Was tat die Wärme der Heizgebläse gut!
Emde staunte nicht schlecht. Er hätte mit einem Aufschrei der Medien gerechnet, mit Presseanfragen an die Staatsanwaltschaft und einem verunsicherten Unternehmen, das um Rat fragte, was man denn nun bekannt geben dürfe. Stattdessen herrschte eine große Ruhe, es klingelten weder Mobiltelefone, noch riss ein Assistent alle paar Minuten die Türe mit einer neuen Wasserstandsmeldung auf. Als er das Gebäude der Polizeidirektion Waldeck an der Korbacher Pommernstraße betrat, war lediglich ein Anruf mit Rückrufbitte für ihn eingegangen. Wie schon öfters und eigentlich von der Dienststellenleitung nicht gerne gesehen, hatte er auf einem Parkplatz einige Gehminuten entfernt geparkt und seinen Dienstparkplatz verschmäht. Über den freute sich wie immer eine Kollegin, die jeden Morgen aus Frankenberg kam. Wer schon morgens lange im Auto sitzt, sollte dann nicht auch noch lange Wege zu Fuß laufen müssen. Sein Wagen stand, für schnelle Ermittlungen immer noch gut zu erreichen, gegenüber der Korbacher Stadthalle. „Hier“, einer der Assistenten reichte ihm einen Zettel, „ziemlich kompliziert, der Herr. Möchten wissen, welche Ergebnisse wir vorweisen können. Und natürlich alles erfahren, noch bevor es die Presse erfährt.“ Kleine las den Namen. Johannes Döhrenbach. Pressesprecher von Prospersoil. Er stöhnte innerlich und schüttelte den Kopf. Was konnte das für eine Art Pressesprecher sein, der ernsthaft davon ausging, dass die Polizei sofort Ermittlungsergebnisse an Dritte weitergab? Denn das und nichts anderes wollte dieser Typ doch. Von seinem Schreibtisch aus wählte er die Nummer, während er seinen Computer hochfuhr, doch der Anschluss war besetzt. Offenbar kam das Interesse am Tod Lieberknechts doch langsam in Fahrt. Und die Ermittlungen auch, dachte Emde, nachdem er die vier Leitz-Ordner bemerkte, die aufrecht auf seiner Schreibtischunterlage warteten. „Ist schlimmer als es aussieht“, machte ihm eine Stimme hinter ihm Mut. Frank Bangert, einer seiner Mitarbeiter, ein Experte für Wirtschaftsdelikte, saß hinter seinem Schreibtisch und faltete gerade eine Frankfurter Allgemeine zusammen. „Die Kollegen haben ziemlich viel zum Thema Einordnung von Prospersoil in den internationalen Markt, Steuersparmodelle, Offshore-Unternehmen und so etwas zusammengetragen.“