Moralphilosophie enthält sich die Diskursethik der Stellungnahme zu inhaltlichen Fragen eines guten Lebens. Sie geht vom moralisch Gesollten aus. Sie postuliert, dass das moralisch Gerechtfertigte von allen vernünftigen Wesen gewollt werden muss. Und sie besteht darauf, dass diese Grundannahmen allgemein gelten. Daher ist den Diskursethikern vorgehalten worden, dass sie Fragen ausgrenzen, die für eine zeitgemäße Ethik von großer Bedeutung sind. Es gehe doch nicht nur um rational ausweisbare Standards dessen, was als das normativ Richtige bezeichnet wird, sondern auch darum, wie Menschen leben wollen oder sollen und was das Gute vom Bösen unterscheidet. Der gleiche Vorwurf war seinerzeit Kant gemacht worden: Die Ethik werde formalisiert und alles Inhaltliche, das eine philosophische Ethik für Einzelne, aber auch für Gruppen und Gemeinschaften relevant macht, ausgeblendet.
Auf Kant werden wir noch ausführlich zurückkommen (siehe Kap. 5.1 und 6.1–2). Habermas wollte mit der [60]Ausblendung der Fragen nach dem Guten, den Werten und den Tugenden verdeutlichen, dass die Diskursethik nicht den vermessenen Anspruch erhebt, den Menschen sagen zu können, was sie tun sollen. Man solle lediglich formale Rahmenbedingungen klären, unter denen Menschen das selbst herausfinden können. Um die Not des Ausblendens als eine Tugend kluger Selbstbeschränkung kenntlich zu machen, verwies er darauf, dass die Diskursethik in Wirklichkeit eine Moralphilosophie des Diskurses sei; genauer gesagt, der diskursiven Klärung von Handlungsnormen und Gerechtigkeitsfragen.
Doch ist diese Distinktion überzeugend? Waren – oder sind – Ethiken und Moralphilosophien nicht immer (auch) genau dafür zuständig? Indem man sagt, Moralphilosophie würde nur dort stattfinden, wo ausschließlich streng formal über Gerechtigkeit nachgedacht wird, während man es nur dort mit Ethik zu tun habe, wo ausschließlich über Werte, Güter und existentielle Fragen der Person nachgedacht wird, zieht man eine willkürliche Trennungslinie. Wir nehmen also zur Kenntnis, dass Habermas auf diese Unterscheidung Wert legt (übrigens anders als Apel, der die Diskursethik als inhaltlich-materiale Ethik der globalen Verantwortung verstanden wissen wollte). Doch wir stellen auch fest, dass er damit noch einmal bekräftigt, dass seine Diskursethik einen Bereich außen vor lässt, der mit der Frage der Begründung von Normen nicht nur aufs engste zusammengehört, sondern zuinnerst mit diesem Bereich vermittelt ist. Und deshalb ist es mit hohen Kosten verbunden, wenn dieser Bereich aus methodologischen Gründen hinausdefiniert wird.
[61]3. Praktische Vernunft
Im Folgenden werden ›Ethik‹ und ›Moralphilosophie‹ synonym gebraucht; beide Begriffe stehen, wie gesagt, für einen Reflexionszusammenhang, der sich – verstehend, erklärend und oft auch vorschreibend – auf die Gesamtheit dessen bezieht, was in der europäischen Philosophie seit der Neuzeit so schön als »praktische Vernunft« bezeichnet worden ist. Damit ist all das gemeint, was im engen und weiten Sinne mit der Frage zu tun hat, wie Menschen ihr Leben so gestalten, dass individuelles Handeln und gemeinsame Praxis vernünftiger Rechtfertigung standhalten – dass also das Handeln von vernünftiger Reflexion und dadurch gewonnenen Grundsätzen angeleitet wird.
Diese vernünftige Rechtfertigung wird in der Philosophie der Neuzeit immer als allgemein verbindliche Rechtfertigung gedacht. Das ist hier ganz buchstäblich zu verstehen: Praktische Vernunft muss allgemein und verbindlich sein. Ist von praktischer Vernunft die Rede, hat das eine doppelte Bedeutung: zum einen, dass versucht wird, konsistent über Praxis nachzudenken, und zum andern, dass Vernunft praktisch werde – dass also vernünftige Gründe und Maximen bestimmen, was geschieht, sei es in individuellen Lebensfragen oder in kollektiver Praxis. Beide Male zielen entsprechende philosophische Überlegungen auf einen allgemeingültigen Zusammenhang.
Das war in der Antike anders. Hier war praktische Vernunft, etwa bei Aristoteles, das Vermögen, zu erkennen, was für die Einzelne und den Einzelnen sowie für die Polis gut ist, und die eingeübte Fähigkeit, das individuelle Handeln darauf einzustellen. Dem lag kein deduzierbares, [62]rationales Moralprinzip zugrunde, sondern eine solide Vertrautheit mit den Sitten und Gebräuchen des jeweiligen Gemeinwesens. Was in Athen gut und gerecht war, das musste es an einem anderen Ort nicht unbedingt ebenfalls sein. Moral war dabei stets auch sozial differenziert (»Quod licet iovi, non licet bovi«, wie es im alten Rom hieß: Das, was den Göttern erlaubt ist, ist noch lange nicht dem Ochsen erlaubt).
3.1 Begründbarkeit von Moral
Noch vor der scheinbar endlosen und kontroversen Debatte, wie Moral begründet werden kann, ist in der Philosophie der Streit darüber angesiedelt, ob sie überhaupt begründet werden kann. Das Paradigma der Moralbegründung wurde vom platonischen Sokrates formuliert. Demnach ist moralisches Handeln vernünftiges Handeln: Niemand handelt wissentlich und willentlich schlecht bzw. unmoralisch, denn solche Handlungen schaden nicht nur dem Objekt der Handlung, sondern immer auch ihrem Subjekt. Niemand, so lässt Platon seinen Sokrates argumentieren, würde freiwillig die schlechte oder böse Handlung wählen, wenn er eine richtige, gerechte oder gute Alternative kennt.
Das scheint zunächst nach Art eines Nutzenkalküls formuliert zu sein. Die Folgen schlechten oder bösen Handelns sind stets noch auf ihre Urheber zurückgefallen, daher ist es klug, gerecht und gut zu handeln. Doch Platon ging andere argumentative Wege als der individualistische Utilitarismus. Der von Platon entwickelte ethische Intellektualismus, der in Verbindung mit dem Namen Sokrates [63]berühmt geworden ist, belässt es nämlich nicht bei dem rationalen Vernunftinteresse, das auf das Interesse des Individuums an der Selbsterhaltung zurückgeht. Wer durch vernunftgeleitetes Erkennen begreift, was das moralisch Richtige und Gute in einer je konkreten Handlungssituation ist, so argumentiert Platon, der erkennt etwas vom objektiven Prinzip des Guten. Vermöge seiner intelligiblen Überzeugungskraft lässt dieses Prinzip gar keine andere Wahl, als ihm zu folgen – nicht (nur) deshalb, weil das für die Handelnden vorteilhaft ist, sondern (auch) deshalb, weil es an sich besser ist.
Hier spielt die platonische Unterscheidung zwischen Meinung und Wahrheit eine wichtige Rolle. Immer dann, wenn Handlungsalternativen geprüft werden, kommt es auch darauf an, mit Hilfe stringenter kognitiver Akte vom bloßen Dafürhalten wegzukommen und zu angemessener Erkenntnis zu gelangen. In ethischen Reflexionen wird gefragt, was gut ist, nicht, was nur so scheint. ›Schein‹ ist der Schlüsselbegriff von Platons Kritik des Irrtums und des falschen Bewusstseins. Wer dem Schein der Dinge aufsitzt – wer also die Weise, wie ihm die Dinge erscheinen, für ihr wahres Wesen hält –, unterliegt einem Irrtum. Seine Aussagen werden sich im Bereich der Meinung bewegen, der doxa. Damit meint Platon bloßes Dafürhalten; darauf können keine philosophischen Erkenntnisse fundiert werden.
Erkenntnis, führt Platon in seinem Dialog Theaitetos aus, muss untrüglich sein und sich auf das Seiende beziehen. Gibt es überhaupt eine »untrüglich wahre Erklärung des Wissens«?, fragt er zunächst (Platon, Theaitetos, 208b). Wahre Erkenntnis entsteht nicht durch Sinneswahrnehmungen, die häufig täuschend sind; sie entsteht vielmehr [64]durch logische Tätigkeit der Vernunft (152c, 186d–e). Mittels rationaler Schlüsse schreitet man von der sinnlich wahrgenommenen Erscheinung von etwas fort zu einem Begriff seines Seins (ontos) bzw. seines Wesens (ousia) und damit seiner Wahrheit (aletheia). Das Zwischenergebnis, das der aporetisch unaufgelöst abgebrochene Dialog Theaitetos anbietet, lautet: Erkenntnis ist wahre Meinung über einen bzw. wahre Vorstellung von einem Gegenstand, die im Zusammenhang einer diskursiv-begrifflichen Begründung dieser Meinung steht (201d). Und woher weiß man, ob die eigene Meinung der Sache angemessen, adäquat ist? Wie lässt sich dies herausfinden? Nur durch eine Begründung. Die Qualität der Begründung ist das einzige Kriterium, mit dem man entscheiden kann, ob die Meinung zutrifft, ob sie also eine Erkenntnis oder ein Irrtum ist. Wissen ist dann die »richtige Meinung verbunden mit Erklärung« (208b). Wer das Gemeinsame und die spezifische Differenz von etwas benennen kann, »der wird nun ein Wissen haben von dem Gegenstande, von dem er vorher nur eine Meinung hatte« (208e). Wissen ist mithin ein Urteil, das ausreichend begründet wird; »Wissen ist Fürwahrhalten mit vollständiger Gewissheit« (Apelt, Anmerkungen zum Theaitetos, 188).
Platon kommt zu dem Resultat, dass dies noch keine wirklich guten Erklärungen sind. Der beste Ansatz immerhin sei der letzte: Wahre Erkenntnis ist eine gut begründete, zutreffende Meinung. Doch warum genügte Platon das nicht? Er argumentiert in seinen späteren Werken, dass eine subjektive