Terminologie, mit »beschreibender Moralwissenschaft«. Brenzlig wird es erst dann, wenn behauptet wird, nur die deskriptive, empirische Moralbetrachtung sei sinnvoll, und sinnlos sei es, normative Moralphilosophie (oder normative Moraltheorie) zu betreiben. Diese Auffassung wird häufig vertreten; für Moralphilosoph*innen ist sie höchst fragwürdig.
Nicht nur die soziologische Systemtheorie Luhmann’scher Provenienz vertritt diesen Standpunkt; auch in der »evolutionären Ethik« wird so argumentiert. Man sucht dort nach den »natürlichen Invarianzen« (Neumann 1999, 18) des sozialen und moralischen Handelns der Menschen und stellt dabei das Paradigma der Evolution in den Mittelpunkt. In deren zielgerichtetem Verlauf hätten sich bestimmte Verhaltensweisen, die für die Entstehung der Menschengattung vorteilhaft gewesen sind, gleichsam genetisch festgeschrieben. Konrad Lorenz hat erforscht, wie moralähnliche Verhaltensweisen von Tieren physiologisch gesteuert werden, die dem Wohl des Rudels nützen. So verhalte es sich auch bei Menschen: Diese seien in ihrem Verhalten teilweise oder auch ganz determiniert durch den Evolutionsprozess. Eine Verhaltensdisposition, die einst nützlich zum Überleben war, nämlich Aggressivität, sei [49]sozial problematisch geworden, weshalb sie durch Moral gebändigt werde.
Die evolutionäre Ethik ist heute in zwei Lager zerfallen, von denen das eine, in der Nachfolge von Lorenz, sich auf das Kollektiv der Art konzentriert, während das andere Lager individualistisch argumentiert.
Die Gruppenselektionstheorie basiert auf der lange Zeit unbestrittenen Beobachtung von Lorenz über »moralanaloges Verhalten bei soziallebenden Tieren« und geht von der Existenz einer artbezogenen und deshalb arterhaltenden Gemeinnutzenstrategie aus. Erscheinungen im Sozialverhalten werden als für die Gesamtpopulation zweckmäßig und aus Sicht der rivalisierenden und kooperierenden Individuen als altruistisch interpretiert und als funktionale Bestandteile der Instinktausstattung begriffen. Damit wird die Vorstellung vertreten, es existiere so etwas wie eine stammesgeschichtliche Vorprägung »moralischen« Verhaltens, weshalb moralische Imperative keinesfalls »amoralischen« Naturtrieben schroff gegenüberstehen. (Neumann 1999, 18.)
In neuerer Zeit ist diese Theorie, die an kollektivistische Ideologien der Vergangenheit gemahnt (»Gemeinnutz geht vor Eigennutz«), aus der Mode gekommen. Propagiert wird nun eine individualistische Theorie, deren Nähe zu neoliberalen Ideologien unverkennbar ist.
Der evolutionäre Selektionsprozeß zeigt sich als Individualselektion und wird nicht durch ein artbezogenes Prinzip des Gemeinnutzes, sondern durch das Prinzip [50]des genetischen Eigennutzes bestimmt. Untersuchungen über Konfliktpunkte im Sozialleben tierischer Sozietäten bestätigen danach die »moralische« Indifferenz der belebten Natur. Behauptet werden natürliche Gesetzmäßigkeiten, die nicht das fördern, was wir unter moralischem Verhalten verstehen. Wollte der Mensch seine natürlichen Ziele erreichen, so müßte er in der Lage sein, aus den Gesetzmäßigkeiten der Natur herauszutreten. (Ebd.)
Moral ist demzufolge nur eine »Illusion, die uns von unseren Genen für den Zweck der Fortpflanzung angedreht wurde« (Ruse, zit. nach Pieper 1998, 75); eine ›kollektive Illusion‹ der Freiheit, in Wahrheit ein deterministisches Programm der sozusagen ›altruistischen‹, letztlich aber egoistischen Gene. Weil wir von unserer Biologie festgelegt seien, mache die Suche nach normativen Moralprinzipien keinen Sinn.
Wenn man der evolutionären Ethik glaubt, geht Moral aus einem Naturverhältnis hervor. Freiheit und moralisches Sollen sind dann nichts als Schein: ein Ergebnis der List der Gene und der Evolution. Ethik, so der Kampfruf der Biologen, ist damit gegenstandslos. Diese naturalistische Position setzt das Faktum der Entscheidungsfreiheit zu einer bloßen Einbildung herab. Dabei arbeitet sie mit einer Konstruktion, die alles andere als evident ist: nämlich mit einer Teleologie des evolutionären Prozesses. Der Naturalismus legt die Existenz eines Sinns nahe und definiert mit Hilfe dieser Sinnunterstellung bloße Fakten (den im Nachhinein zu beobachtenden Erfolg im evolutionären ›Kampf‹ der Arten) wie einen Endzweck, dem einzelne biologische Elemente der Verhaltenssteuerung durch ein [51]genetisches »Programm« sinnvoll zugeordnet seien. Wenn die genetischen Programmierungen aber Mittel zu einem Zweck sind, auf den sie hin geordnet sind, dann ist dieser Zweck eine Norm. Das leugnen die Vertreter der evolutionären Ethik im Grunde auch nicht. Doch damit ist klar, dass sie in einen Widerspruch verstrickt sind, denn sie sind in die Falle des naturalistischen Fehlschlusses gegangen.
Dieser Fehlschluss besteht darin, dass aus einem Ist-Zustand ein Soll-Zustand abgeleitet wird. Das ist ein Verstoß gegen das sogenannte Hume’sche Gesetz, welches besagt, dass aus einem Sein niemals logisch ein Sollen folgt: Es ist logisch unzulässig, aus einer Tatsachenfeststellung einen moralischen Schluss zu ziehen. Ein klassisches Lehrbuchbeispiel dafür: In Afrika hungern Menschen. Also soll ihnen geholfen werden. Menschlich ist das höchst plausibel, sozial gesehen äußerst sinnvoll; aber logisch stimmig ist es nicht. Angelsachsen nennen so etwas jumping to conclusions. Denn dass jenen Menschen geholfen werden sollte, lässt sich erst dann schlussfolgern, wenn zur Beobachtung der ersten Prämisse noch eine zweite hinzugenommen wird. Etwa so:
(1) In Afrika hungern Menschen.
(2) Hungernden Menschen soll man helfen.
Also soll den Hungernden in Afrika geholfen werden.
Die zweite Prämisse ist eine moralische Setzung. Wenn sie gilt, kann man aus ihr Schlussfolgerungen ziehen. Dass sie gilt, ist aber logisch nicht selbstevident.
Die Lehre aus Humes Hinweis auf naturalistische Fehlschlüsse: Das Moralische bleibt zu einem gewissen Teil [52]immer »unableitbar«. Moralische Schlüsse können nur dann gezogen werden, wenn moralische Prämissen im Spiel sind. Das heißt, über die logische Korrektheit hinaus: Moralisches Handeln kann aus nichts anderem abgeleitet werden als aus der Entscheidung, moralisch zu handeln. Diese Entscheidung fällt nicht vom Himmel, ebenso wie ihr Gegenteil; aber sie kann nicht aus etwas anderem abgeleitet werden, das ihr letztlich äußerlich ist.
Wie kann man erklären, dass ein Übergang von einem Sein zu einem Sollen stattfindet, weil das normativ gerechtfertigte Ziel im naturhaften Sein selbst steckt? Man kann solches nur behaupten. »Aus etwas, das der Fall ist, kann […] nicht geschlossen werden, daß es der Fall sein soll.« (Pieper 1998, 75.) Es ist ein Fehlschluss, wenn aus beschreibenden Sätzen vorschreibende Sätze gefolgert werden; solche Schlussfolgerungen machen das Faktische zur Norm. Die Variante des naturalistischen Fehlschlusses der Evolutionsethiker*innen besteht darin, dass sie vom Resultat aus folgern, es gäbe die Impulse, die für das Resultat unverzichtbar sind. Der Erfolg im Evolutionsprozess ist einerseits ein Faktum, andererseits wird er als Norm ausgegeben. Weil wir ohne »moraläquivalente« Programmierung durch unser genetisches Material das bisherige Evolutionsziel nicht erreicht hätten, sei anzunehmen, dass es sie gibt.
Die beiden Ebenen, auf denen ich mit dem Theorem des naturalistischen Fehlschlusses operiert habe, gilt es noch einmal ausdrücklich voneinander zu unterscheiden. Einmal ist er ein kritisches Argument gegen die Leugner*innen des Moralisch-Normativen. Diese machen den Fehler, das Faktum moralischen Verhaltens und Reflektierens aus dem moralfreien Geschehen der Biologie abzuleiten. In dieser [53]Kritik wird ein naturalistischer Fehlschluss auf ontologischer Ebene nachgewiesen. Zum anderen wurde gezeigt, dass moralische Kritik entgegenkommender Voraussetzungen bedarf. Moralität und kritische Normativität sind kein Naturprodukt, wie die Evolutionsethiker*innen nahelegen; sie sind aber auch nicht einfach Teil unserer zweiten, gesellschaftlichen Natur. Die Überzeugung, dass man hungernden Menschen helfen sollte, gibt es ja; sei es, dass sie aus einer Moral des Geizes heraus begründet wird, sei es (auf den Spuren des Ökonomen Robert Malthus) mit dem Hinweis auf das Bevölkerungswachstum auf diesem Planeten. Dass Gesellschaften möglich sind, die auf der Bandenmoral von Machtcliquen aufruhen oder von dieser kolonisiert werden, zeigt der Blick in Geschichtsbücher und aktuelle Berichte über die USA, Brasilien, die Türkei, Ungarn, Polen und andere Staaten. Moralische Standards, die universalen Geltungsanspruch haben, verstehen sich nicht von selbst, sondern müssen immer wieder erkämpft werden; sie sind immer wieder Resultate moralischer Entscheidungen.
Das Hauptproblem »naturalistischer Fehlschlüsse« besteht also nicht darin, dass legitime moralische Forderungen auf logisch unzulässige Weise hergeleitet werden. Weitaus misslicher ist es, wenn Sollensforderungen, die nicht als solche ausgewiesen sind, als Zustandsbeschreibungen