Gerhard Schweppenhäuser

Grundbegriffe der Ethik


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sich die kulturell geprägten Hintergründe individuellen Handelns in Grenzsituationen katastrophisch oder tragisch auswirken können, zeigen nicht die Beispiele aus ethischen Lehrbüchern, sondern vor allem historische Erfahrungen, etwa solche, von denen Jorge Semprún in seinen Erinnerungen an das Konzentrationslager Buchenwald berichtet (Semprún 2002). In Buchenwald war der organisierte politische Widerstand mitunter in der Lage, Gefangene vor der Deportation in die Vernichtungslager zu schützen. Das geschah, indem die zur Deportation Selegierten heimlich gegen andere, todgeweihte Gefangene ausgetauscht wurden. Über Leben und Tod entschied, wie man zur KP stand. Die Struktur der nationalsozialistischen Lagerherrschaft zwang den im Widerstand organisierten Gefangenen tragische Handlungsalternativen auf. Deren Folgen kann man im Nachhinein als Heldentaten feiern, mit Parteidisziplin rationalisieren oder verurteilen. Dass jüdische, »unpolitische« Gefangene nicht gerettet wurden, damit politisch organisierte am Leben erhalten werden konnten, ist indessen historisches Faktum. Es darf ebenso wenig den Widerstandskämpfer*innen zur Last gelegt werden, wie es Gegenstand der Verklärung sein darf.

      Zu Ehren der ermordeten Gefangenen des kommunistischen Widerstands wurde der Satz »Aus Eurem Opfertod wächst unsere sozialistische Tat« ins Weimarer [77]Thälmann-Monument gemeißelt, das auf dem heutigen »Buchenwaldplatz« steht. Der Ansatz, das System der Konzentrationslager als Vorstufe zum realen Sozialismus zu betrachten, war ein so verständlicher wie vergeblicher Versuch, einen geschichtlichen Sinn zu konstruieren, wo von einem solchen nur schwerlich noch die Rede sein kann. Hier begegnet man einer gewissermaßen spiegelverkehrten, historisch belehrten Variante jener rationalistischen Dilemmata, die belegen sollen, dass Menschen im Prinzip homini oeconomici sind, die in Ausnahmesituationen ihren persönlichen Vorteil hintanstellen können, was in der wirtschaftsliberalistischen Anthropologie wiederum als vorteilsorientiertes Handeln auf Umwegen (sei es zu den eigenen Gunsten, sei es zugunsten der Gattung) gedeutet werden kann. Die spiegelverkehrte Variante idealisiert nicht den nüchternen Akteur des aufgeklärten Eigeninteresses, sondern den Helden der mutigen Tat und des Opfers zugunsten des ›großen Ganzen‹.

      [78]4. Ethik und Politik

      Nach dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie ergriff die chinesische Staatsführung 2020 drastische Isolationsmaßnahmen, um das Tempo der Masseninfektion abzubremsen. Als die Pandemie nach Europa kam, reagierten die Regierungen unterschiedlich. Großbritannien setzte »zunächst auf minimale Intervention, […] womit vier bis sechs Prozent [der Bevölkerung] zugunsten der Aufrechterhaltung der Geschäftstätigkeit geopfert worden wären«, berichtete die Soziologin Eva Illouz (2020). Sie bezeichnet die Haltung der englischen Regierung zu Recht als »Ökonomismus« und resümiert:

      Die beispiellose Wahl ist diese: entweder das Leben vieler älterer Menschen opfern oder das wirtschaftliche Überleben der jungen. […] Deutschland und Frankreich reagierten zunächst ähnlich und ignorierten die Krise, bis es nicht mehr ging (ebd.).

      Schon bald wurden Worst-Case-Szenarien entworfen, in denen mit bis zu einer Million Todesopfer kalkuliert wurde, um zum Normalbetrieb in Wirtschaft und Gesellschaft zurückkehren zu können. Auf die Tagesordnung kam auch die Frage nach ethischen Kriterien, an denen sich Ärzte orientieren sollen, wenn sie angesichts knapper Ressourcen im Sanitätswesen entscheiden müssen, wer intensivmedizinisch behandelt und wer in den Tod geschickt wird. Allmählich schien sich in der europäischen Politik die Auffassung durchzusetzen, dass es moralisch skandalös wäre, das Leben von Schwachen und Verwundbaren für den Gang [79]der Geschäfte zu opfern. ›Vulnerabilität‹ wurde gleichsam zum politischen Wort des Jahres.

      Darüber geriet in Vergessenheit, dass Verwundbarkeit ein universales menschliches Wesensmerkmal ist (Butler 2005, 48), nicht nur eines von partikularen sozialen Gruppen. Verletzbarkeit kann durchaus als »Fluchtpunkt der Ethik« (Stöhr [u. a.] 2019, 225) gelten, wie schon Arthur Schopenhauer lehrte. – Zu durchgreifender Konsequenz hat jene Einsicht indessen nicht geführt; so blieb etwa hierzulande die zeitweilige Schließung von Industriebetrieben als Maßnahme zur Eindämmung der Seuchenausbreitung tabu.

      4.1 Entscheidungen, Mittel und Zwecke

      Ethisches Handeln ist Handeln nach Grundsätzen, und zwar nicht gemäß irgendwelchen Grundsätzen, sondern nach solchen, die bestimmten Kriterien gehorchen. Jede ethische Entscheidung ist durch eine Abwägung von Mitteln und Zwecken gekennzeichnet. Können die Mittel, die anzuwenden sind – und die Ergebnisse, die ihnen voraussichtlich folgen –, durch die Zwecke gerechtfertigt werden, die man durch das Handeln verwirklichen will? Werden sie auch wirklich gerechtfertigt sein, wenn die beabsichtigten Handlungsfolgen eintreten? Das sind verzwickte Grundfragen, die sich immer dann stellen, wenn man bei der Abwägung seines Handelns nicht nur über die innere Stimmigkeit und Legitimität der Grundsätze nachdenkt, denen man folgt, sondern auch über die Legitimität der möglichen und realen Konsequenzen der eigenen Handlungen.

      [80]»Der Zweck heiligt die Mittel«, lautet die verflachte Überlieferung eines berühmt-berüchtigten Grundsatzes jener politischen Ethik, die der italienische Staatsphilosoph Niccolò Machiavelli 1513 formulierte. Die rationale Überlegung hinter diesem Slogan lautet: Es gibt Zwecke (d. h. Handlungsziele), die so wertvoll (und das bedeutet auch: moralisch legitim) sind, dass einzelne Handlungen unter allen Umständen durch sie gerechtfertigt werden können, und zwar auch dann, wenn sie dem herrschenden Moralkodex zuwiderlaufen. Mit dieser Formel kann das klassische Dilemma, in das man gerät, wenn man eine unmoralische Handlung verhindern oder beenden will, dabei aber selbst unmoralisch handeln muss, aufgelöst werden.

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