Handlung, die ihm zum Vorteil gereicht, er ist jedoch auch in der Lage, von seinem vernünftigen Eigeninteresse zu abstrahieren. Es handelt sich um Hobbes’ Modell des Menschen. Ein klassisches Beispiel liefert das Dilemma im Rettungsboot: Drei Menschen befinden sich darin, obwohl nur Platz für zwei ist. Entweder wird einer geopfert oder alle werden untergehen. Wie entscheiden? Wie begründen? Das Beispiel ist typischerweise so konstruiert, dass der ›Konkurrenzkampf‹ ums Überleben nicht in Frage gestellt werden kann, sondern wie eine Naturgegebenheit erscheint. Dem Glück der größten Zahl ist das Glück der Einzelnen dann gegebenenfalls zu opfern. In »ausgeklügelten Problemfällen der Art, ob man eine Weiche umstellen dürfe, damit eine führerlose Straßenbahn nicht fünf, sondern nur einen Menschen [71]überfahren wird«, bemerkt der Philosoph Hans-Ernst Schiller, betreiben derartige utilitaristische Gedankenspiele »die Aufweichung des Grundsatzes einer Ethik, die über der des Interessenausgleichs steht, der Ethik der Würde oder des Menschen als Zwecks an sich« (Schiller 2011, 14 f.). Ähnliches gilt für das Dilemma, in dem ein entführtes Passagierflugzeug von der Ordnungsmacht abgeschossen werden müsste, damit die Entführer es nicht als bemanntes Geschoss in ein Atomkraftwerk oder ein vollbesetztes Fußballstadion steuern. »Wer nach Regeln für solche Fälle sucht, ist schon dabei, sie zu normalisieren« (15), kommentiert Schiller treffend. – Virulent wird in Pandemiezeiten die Frage nach Triage bzw. der Aufteilung von begrenzten, lebensrettenden Gütern auf zu viele Bedürftige: Wer soll das Beatmungsgerät bekommen?
Doch lassen wir die notwendige (Ideologie-)Kritik an dieser Art der Beispielbildung noch einen Augenblick außen vor. – Nehmen wir an, die Autofahrerin aus dem Ausgangsbeispiel findet kein Netz für ihr Mobiltelefon, verfügt aber über Ortskenntnis und einen Kleinwagen, der die Möglichkeit bietet, zwei Verletzte zu transportieren. Sie weiß, dass sich im nächsten Ort ein Krankenhaus mit Notaufnahme befindet. Dorthin könnte sie zwei Verletzte mitnehmen. Wen wird sie auswählen? Frauen und Kinder zuerst? Oder vielleicht die Dogge? Es kommt an dieser Stelle nur auf die triviale Feststellung an, dass die Überlegungen der hilfsbereiten Autofahrerin in so einem (unwahrscheinlichen) Fall (höchstwahrscheinlich) von Gesichtspunkten verschiedenster Art geleitet werden, die aber alle mit Erkenntnisakten zu tun haben. Wie schwer sind die Verletzungen? Nach welchen Kriterien würde die Autofahrerin [72]entscheiden, wer dringender sofortiger Hilfe bedarf als andere? Von welchen Annahmen wird sie sich leiten lassen?
Man darf annehmen, dass dabei neben affektiven oder emotionalen Gesichtspunkten auch Gesichtspunkte kognitiver Art im Spiel sind. Wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass sich jemand in einer derartigen Situation tatsächlich von kognitiven Überlegungen leiten lässt, anstatt nur emotional zu reagieren bzw. allgemeinen Konventionen oder persönlichen Neigungen und Idiosynkrasien zu folgen, ist nebensächlich. Es kommt darauf an, dass Handlungsentscheidungen, die von moralischer Relevanz sind, stets bis zu einem gewissen Grad kognitive Grundlagen haben. Hiermit ist nicht nur die Einschätzung empirischer Einzelfälle gemeint (zum Beispiel in Bezug auf die Schwere der Verletzungen), sondern die Art des moralischen Urteilens. Angefangen bei der Entscheidung ›Anhalten oder Weiterfahren‹, über den Entschluss zum Handeln und die einzelnen Handlungsentscheidungen bis hin zur Unterscheidung zwischen verschiedenen Graden der Würde verschiedenartiger Lebewesen: Das sind alles Erkenntnisakte.
Wichtig ist hier die Unterscheidung zwischen einer Common-Sense-Überlegung und kognitiven bzw. rationalen Überlegungen. Erstere kommen ohne Verstandesargumente und Vernunftschlüsse zu Entscheidungen, die mit Hilfe von Erfahrungswissen und intuitiven Vorstellungen von der Lebensrelevanz der Handlungsmöglichkeiten operieren. Kognitiv-rationale Abwägungen sind anderer Art: Sie zielen auf die Frage, was getan werden sollte, also auf normative Universalisierung als Moralkriterium.
Ungeachtet der Künstlichkeit, Trivialität und Ideologieanfälligkeit des Beispiels geht es hier um die Illustration des [73]allgemeinen Satzes, dass wir uns in Konfliktfällen mit moralischer Bedeutung gemeinhin an Kriterien orientieren, die mit unseren Vorstellungen von Menschenwürde zu tun haben, aber auch mit Wertpräferenzen. Beides bestimmt unser Handeln in der Regel als eine komplexe Mischung aus heteronomen Sozialisationsfolgen und autonomen Überlegungen. Die neuere psychologisch-kognitive Moralforschung hat herausgefunden, dass diese komplexe Mischung ontogenetisch (beim Einzelnen) in gewisser Weise wiederholt, was sich phylogenetisch (stammes- oder besser: kulturgeschichtlich) als moralphilosophische Überlieferung durchgesetzt hat.
Berühmt ist das Dilemma, das der Moralpsychologe Lawrence Kohlberg bei seinen Untersuchungen, nach welchen Gesetzen sich die moralische Urteilsweise beim einzelnen Menschen entwickelt, in den 1970er Jahren heranwachsenden Proband*innen vorlegte: Heinz’ Frau ist todkrank. Das einzige Medikament, das ihr helfen könnte, ist unbezahlbar. Der Apotheker ist nicht bereit, es Heinz umsonst oder für wenig Geld zu überlassen. Was wird Heinz tun? In die Apotheke einbrechen, um das Medikament zu stehlen? Oder sich dem Schicksal fügen und seine Frau sterben lassen? Wird er das Gesetz brechen oder das Gebot der Hilfeleistung missachten?
Unabhängig davon, wie sich Heinz entscheiden wird: Sofern er nicht einfach impulsiv handelt (dann würde er sich nicht in einem Dilemma befinden, zumindest nicht bewusst), wird er rationale Überlegungen anstellen müssen. Er wird abwägen, Prinzipien gegeneinanderstellen. Was hat den Vorrang: Ein allgemeingültiges Gesetz? Die Nähe zu einem Familienmitglied? Eine verallgemeinerbare Norm, [74]die Menschenleben als höheren Wert über Gesetzestreue stellt, oder das Leid von unvertretbaren Einzelnen?
Hier zeigt sich wirklich ein Dilemma. Der Ausdruck wird in der Alltagssprache gern dann verwendet, wenn es um schwierige Entscheidungen geht. Doch im philosophischen Sinn befindet man sich nur dann in einem Dilemma, wenn man sich zwischen zwei konträren, einander ausschließenden Handlungsmöglichkeiten entscheiden muss, deren Folgen man beide Male nicht wollen kann.
Kohlberg interessierte sich für die Überlegungen, die seine jugendlichen Proband*innen anstellten, um ihre Handlungsempfehlungen für Heinz zu begründen (bzw. um die erwartete Handlungsweise von Heinz aus ihrer Sicht zu bewerten). Er stellte fest: Es gibt eine Abfolge bestimmter Urteilsweisen, die nicht strikt an Altersstufen gebunden sind, aber in ihrem Erscheinen beim Individuum unumkehrbar sind. Sein Lehrer Jean Piaget hatte herausgefunden, dass sich das kognitive Urteil von Kindern und Heranwachsenden in einer bestimmten Abfolge entwickelt. Diese erlaubt ihnen zum Beispiel in einer frühen Phase nicht, zu begreifen, dass ein Kilo Federn genauso schwer ist wie ein Kilo Blei. Haben sie die Stufe erreicht, auf der sie Allgemeinbegriffe wie Gewicht und Volumen (oder z. B. allgemeine Maßeinheiten) erkennen können, operieren sie fortan immer mit diesen. Ähnlich stellte Kohlberg fest: Kleine Kinder gehen zunächst davon aus, dass es eine Art natürlicher Ordnung der Dinge gibt, in der jeder die Konsequenzen seines Handelns zu tragen habe. Auf der folgenden, frühsten Stufe der moralischen Urteilsweise hielten Kinder das für moralisch richtig, was die Erwachsenen anordnen, und dann etwas später das, was der Maximierung [75]von Lust und Wohlsein aller Beteiligten dient. Später ist das, was Heranwachsende für gerechtfertigt halten, an diejenigen Rollenvorstellungen und bestehenden Normensysteme gebunden, in die sie sozialisiert werden. Auf der dritten Stufe in Kohlbergs Skala sind das die Handlungserwartungen konkreter Personen aus der Bezugsgruppe, während sich Heranwachsende auf der vierten Stufe an jenen überlieferten Normensystemen orientieren, die sie kennen. Schließlich gehen sie laut Kohlberg zu einer moralischen Urteilsweise über, die sich an verallgemeinerbaren Moralprinzipien orientiert: Auf Stufe fünf hält man jene Handlungsweisen für gerecht, die vorteilhafte Resultate für die meisten Beteiligten erwarten lassen, während irgendwann einmal (Stufe sechs) die moralische Argumentation nur noch das als normativ richtig anerkennt, was mit einer universalistischen Pflichtethik in Einklang steht.
Kohlberg gliederte diese sechs Stufen der Entwicklung des moralischen Urteils in drei Ebenen. Die erste bezeichnete er als präkonventionelle, die zweite als konventionelle und die dritte als postkonventionelle Ebene (Kohlberg 1987). Er erkannte hier die Struktur der Entwicklung moralphilosophischer Reflexion im Abendland wieder, die zu Gesinnungs- und Prinzipienethiken vom Typus der Moralphilosophie Kants geführt hatte. Dort gelten nicht mehr traditionale Üblichkeiten einer Gemeinschaft, auch nicht das größte Glück der größten Zahl, sondern universalistische normative Prinzipien.
An dieser Stelle zeigt sich freilich die Grenze der Parallele zwischen onto- und phylogenetischer Moralentwicklung, denn der Utilitarismus wurde ja als soziopolitische Moraltheorie paradigmatisch