Jermaine Jackson

You are not alone - Mein Bruder Michael Jackson


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Kinder nichts anderes taten, als den ganzen Tag zu spielen. Aber wenn das nicht so gewesen wäre, hätten die Jackson 5 vielleicht nie den großen Durchbruch geschafft, und die Welt hätte niemals die Musik von Michael Jackson gehört. Es sollte nun einmal so sein. Und wir hatten Spaß bei unseren Auftritten: Wir freuten uns genauso darauf wie andere Kinder auf ihre Hobbys und Spiele.

      Nachdem wir im Mr. Lucky’s und im Guys And Gals regelmäßige Auftritte absolvierten, kündigte Joseph seinen Job in der Konservenfabrik und übernahm im Stahlwerk nur noch Halbtagsschichten. Zwar waren unsere Gagen sicher noch nicht so üppig, aber er setzte weiterhin alles auf eine Karte. Er vertraute auf unsere Zukunft. Mutter machte sich natürlich große Sorgen, aber Joseph beruhigte sie immer wieder und versicherte, dass wir wirklich auf einem guten Weg seien. Sie nickte dann schweigend, und wie ich Mutter kenne, hatte sie viele schlaflose Nächte, in denen sie unablässig zu Jehova betete.

      Was sie zumindest nicht von Anfang an mitbekam, war die Tatsache, dass in einigen der Läden, in denen wir spielten, auch Stripperinnen auftraten. Damals boten die Bars ein sehr vielseitiges Programm, und oft, wenn wir von der Bühne gingen, warteten schon ein paar halbnackte Ladys in Netzstrümpfen und Strapsen am Aufgang. Nun waren schon Weihnachten und Geburtstage in Jehovas Augen eine Sünde, aber wenn man sich die Bühne mit Nummerngirls teilte, dann kam es einer Verabredung mit dem Teufel gleich, und deshalb kann man es Joseph nicht verübeln, dass er Mutter über die Shows der anderen Künstler ein wenig im Unklaren ließ. Eines Tages aber war das Spiel aus, als Mutter nämlich ein verirrtes Strip-Accessoire in einer unserer Taschen fand. Sie marschierte aus unserem Zimmer und hielt eine hübsche Nippelquaste zwischen den Fingern. „Wo kommt das her, bitteschön?“ Joseph war tatsächlich einmal sprachlos. „Du lässt die Kinder die ganze Nacht lang aufbleiben, obwohl sie morgens Schule haben, und dann lässt du sie auch noch nackte Frauen anschauen? Mit was für Leuten bringst du unsere Söhne zusammen! Du zeigst ihnen ja genau das richtige Leben, Joseph!“

      Wir Brüder bewerteten diese Umstände recht unterschiedlich. Für mich ist der Körper einer Frau faszinierend und wunderschön, aber Michael dachte, dass diese Frauen sich erniedrigten, um Männer aufzugeilen, während sie selbst für die Männer lediglich Sexobjekte waren. Ihm blieb vor allem eine der Stripperinnen im Gedächtnis, der wir regelmäßig begegneten und die Rosie hieß. Sie warf ihre Höschen in die Menge und ließ ihre Rundungen wackeln, während die Männer sie anzugrapschen versuchten. Michael wandte dann stets den Blick ab. „Oh Mann! Das ist doch grässlich. Wieso macht sie sowas?“

      Mutter sagte später, sie habe von den Stripperinnen erst aus Michaels Autobiografie erfahren. Das war vermutlich die „offizielle Version“ für die Zeugen Jehovas. Wobei sie sicherlich nicht allein deswegen gegen unsere Auftritte in einem solchen Umfeld war, weil sie eine Zeugin Jehovas war – sie betonte stets, dass vermutlich jede Mutter, egal welchen Glaubens, etwas dagegen gehabt hätte, dass ihre jungen Söhne spät nachts noch unterwegs waren und in solche Kreise gerieten. Das war wohl der entscheidende Unterschied zwischen ihr und Joseph: Sie sah uns vor allem als ihre Söhne und machte sich oft Sorgen darüber, wie sich die ganzen Auftritte und die langen Fahrten auf unsere Entwicklung auswirken würden, während wir für Joseph in erster Linie Künstler und erst in zweiter Linie seine Kinder waren. Für ihn ging es nur darum, dass all unsere Schritte in die richtige Richtung führten.

      Joseph reichte es nicht, dass wir unter der Woche auftraten. An den Wochenenden buchte er uns überall Konzerte, wo es irgend ging, unterstützt von zwei DJs aus Chicago, Pervis Spann und E. Rodney Jones. Sie agierten als unsere Promoter, arbeiteten aber auch für B.B. King und Curtis Mayfield; hauptberuflich waren sie bei WVON Radio angestellt, einem Chicagoer Sender, der in Gary so viel gehört wurde wie kein anderer. Die beiden hatten sich der Aufgabe verschrieben, den Soul in ihrem Sendegebiet populär zu machen – Purvis während der Nachtschichten und E. Rodney tagsüber –, daher war unsere Promotion bei ihnen in guten Händen: Die schwarzen Radiosender waren gerade erst im Aufwind begriffen und setzten sich immer stärker durch. Wenn man bei WVON „angesagt“ war, dann geriet man automatisch ins Blickfeld der örtlichen Plattenfirmen.

      Pervis, der stets einen grauschwarzen Filzhut im Stil der Dreißiger trug, sah ein wenig wie Otis Redding aus. Er machte die Leute auf uns neugierig, indem er immer wieder erzählte: „Wartet nur ab, bis ihr diese Kids einmal live gesehen habt!“ Joseph schimpfte zwar gelegentlich über ihn, wenn wieder einmal einer seiner Schecks geplatzt war, aber was Pervis an finanzieller Verlässlichkeit abging, glich er damit wieder aus, dass er für uns enorm die Werbetrommel rührte. Er und E. Rodney Jones setzten sich für uns ein wie niemand sonst.

      So kam es, dass wir fünf uns mitsamt unseren Instrumenten in Josephs VW-Bus stapelten, während Mutter und Rebbie mit La Toya, Randy und der kleinen Janet zu Hause blieben. Eine Zeitlang sahen wir mehr von der Schule und den Bühnen irgendwelcher Clubs als von den heimischen vier Wänden. Unser VW-„Tourbus“ hatte vorn zwei Sitze, während die Bank in der Mitte ausgebaut worden war, damit Platz für die Verstärker, Gitarren, das Schlagzeug und alle anderen Instrumente blieb. Hinten gab es noch einen Rücksitz, aber wir rollten uns meist irgendwo zusammen, wo gerade Platz war, und schliefen notfalls auch mal mit dem Kopf auf der Trommel ein. Und obwohl es so fürchterlich eng war, wurde auf den Fahrten trotzdem viel gelacht, gewitzelt und gesungen. Während Joseph fuhr, gingen wir Brüder unaufgefordert die ganze Show wieder und wieder durch.

      „Hier, an dieser Stelle, nicht vergessen, dass wir uns bei diesem Wort umdrehen“, sagte Jackie dann zum Beispiel.

      Oder Tito: „Am Anfang des Mittelteils, denkt dran, da streckt ihr die Hände in die Luft.“

      Oder Michael: „Jackie, du gehst auf die eine Seite der Bühne, ich bleibe in der Mitte, und Marlon, du gehst auf die andere Seite …“

      So bereiteten wir uns während der Fahrt vor und gingen alle Tanzfiguren und Bewegungen noch einmal durch. Dabei spielte es keine Rolle, dass wir zwischen sieben und 17 Jahre alt waren: Niemand stand über dem anderen.

      Wir alle brachten uns als gleichwertige Partner ein, und Michael, unser Jüngster, war dabei vermutlich der Engagierteste und Kreativste. Er wirkte weitaus älter als sieben, nicht nur aufgrund seiner Bewegungen und seiner Haltung beim Gehen, sondern auch aufgrund seiner Art zu reden. Joseph hatte uns darauf gedrillt, dass wir stets konzentriert und einsatzbereit waren, aber selbst als kleiner Junge hatte Michael noch zusätzlich das gewisse Etwas. Er brachte eine Dynamik in unsere Choreographien, die für genau den richtigen Schwung sorgte, und mitten im Auftritt bot er stets noch Improvisationen, die uns auf eine ganz andere Ebene führten, bevor er sich wieder zurücknahm und mühelos in die Show integrierte. Ich merkte immer, wenn er kurz davor stand, so etwas auszuprobieren, denn bevor die Musik einsetzte, wandte er sich um und zwinkerte mir zu.

      Zu gern spielte Michael uns Streiche. Wenn einer von uns beispielsweise mit offenem Mund einschlief, dann schnappte er sich ein kleines Stück Papier, schrieb irgendetwas Albernes darauf – „Ich rieche aus dem Mund“ oder dergleichen – und pappte es dem Schläfer, nachdem er es ein wenig mit dem Finger nass gemacht hatte, an die Unterlippe. Ebenso gern krümelte er Juckpulver in unsere Unterhosen oder platzierte Furzkissen auf einem Stuhl. Michael wurde jedenfalls schnell der Scherzbold unserer kleinen Truppe.

      Im Sommer 1966 fuhren wir fast zweieinhalbtausend Kilometer nach Arizona, um in der Old Arcadia Hall von Winslow bei Phoenix aufzutreten, weil Papa Samuel in der Nähe wohnte und vor den Leuten in seiner Nachbarschaft mit uns angeben wollte. Wir waren die ganze Freitagnacht bis in den Samstag hinein unterwegs und hielten zwischendurch nur kurz, um zu tanken, dann gingen wir am Samstagabend auf die Bühne und fuhren sofort zurück, damit wir vor Mitternacht am Sonntag wieder zu Hause waren und Montagfrüh wieder in der Schule sitzen konnten. Auf dieser quälend langen Fahrt lachte Michael nicht so viel. Lebhaft erinnere ich mich noch daran, dass ich vorn bei Joseph saß, und er irgendwann einmal anhielt, das Gesicht in den Händen verbarg und sich die Wangen massierte. Seine Augen tränten. Dann merkte er, dass ich ihn ansah. „Bin nur ein bisschen müde“, sagte er. Nach fünf Minuten Pause fuhr er weiter.

      Inzwischen hatten wir einen neuen Schlagzeuger, Johnny Jackson, der im Gegensatz zu dem, was später aus marketingstrategischen Gründen in der Presse gern behauptet wurde, kein Cousin und auch kein entfernter Verwandter von uns war. Sein Nachname war nichts weiter