Kleiner, immer raus damit“, sagte Jackie zu unseren Spiegelbildern, die er vor sich sah.
Und nun bombardierte Michael ihn mit Fragen. Wie fühlt sich das an, wenn Sie auf die Bühne gehen? Wie oft proben Sie? Wie alt waren Sie, als Sie angefangen haben? Mein Bruder war in seinem Wissensdurst nicht zu stoppen.
Aber es war Joseph, der anschließend mit der interessantesten Information dieses Abends aufwarten konnte: Er berichtete uns, dass einige von Jackie Wilsons Songs tatsächlich von niemand Geringerem als Mr. Gordy, dem Gründer des Motown-Labels, geschrieben worden seien. („Lonely Teardrops“ war Gordys erster Nummer-1-Hit gewesen.)
Nach diesen Treffen war für uns klar: Wir wollten die gleiche Stufe erreichen wie Smokey Robinson und Jackie Wilson. Vielleicht war es das, was Joseph insgeheim beabsichtigt hatte: Indem er uns den Königen vorstellte, bekamen wir selbst Lust zu herrschen. Es war beinahe, als wollte er uns sagen: „Hier könnt ihr auch stehen – aber ihr müsst daran arbeiten.“
Ich wünschte, ich könnte mich an die Showbiz-Weisheiten erinnern, die diese großen Männer mit uns teilten, denn jeder von ihnen hatte gute Ratschläge für uns parat, aber diese Worte sind in meiner Erinnerung längst verblasst. Michael hortete diese kleinen Perlen und prägte sich alle Einzelheiten genau ein. Er wollte stets wissen, wie unsere Vorbilder sprachen, sich bewegten, was sie sagten, ja sogar, wie sich ihre Haut anfühlte und wie sie aussah. Wenn die großen Stars auf der Bühne standen, beobachtete er sie mit dem Scharfblick eines jungen Regisseurs, ganz und gar auf Smokeys Texte oder auf Jackies Füße konzentriert. Später dann, wenn wir mit dem Bus nach Hause fuhren, war er stets von uns allen am muntersten und lautesten: „Habt ihr gehört, wie er gesagt hat …“ – „Ist euch aufgefallen, dass …“ – „Habt ihr gesehen, wie Jackie sich an dieser Stelle bewegt hat …“ Mein Bruder war ein Meister darin, andere zu studieren, und ihm entging nie etwas. Auch die kleinsten Details legte er in einem Ordner in seinem Kopf ab, auf dem vermutlich „Größte Einflüsse und Inspirationen“ stand.
Inzwischen verdienten wir um die 500 Dollar pro Show. Unser Vater drillte uns härter denn je und erwartete äußerste Präzision. „Wir haben das doch schon x-mal geprobt. Wieso vergesst ihr dauernd, was ihr tun müsst?“, brüllte er, wenn ein Song oder eine Tanzeinlage nicht klappen wollte. James Brown, so sagte er uns immer wieder, pflegte seinen Famous Flames ein Strafgeld aufzubrummen, wenn jemand patzte.
Joseph verhängte natürlich keine Strafgelder. Schläge waren eher sein Stil. Marlon traf es am härtesten, weil er als das schwächste Glied in unserer Kette galt. Es stimmt, dass seine Koordination nicht so gut war wie die von uns anderen, und er musste sich zehnmal mehr anstrengen, um alles richtig hinzubekommen, aber von uns war trotzdem niemand der Ansicht, dass er uns bei den Auftritten behinderte. Und dennoch, Joseph benutzte Marlon immer wieder als Sündenbock, um Extra-Proben anzusetzen oder uns noch länger im Haus zu halten. Die wahren Gründe dafür waren ganz andere, aber das dämmerte uns erst viel später.
Als es Marlon einmal wieder nicht gelang, sich einen Tanzschritt richtig einzuprägen, riss Joseph der Geduldsfaden. Er befahl Marlon, rauszugehen und eine „Rute“, einen dünnen Ast, vom Baum draußen abzuschneiden. Wir sahen zu, wie Marlon den Stecken aussuchte, mit dem ihn Joseph, wie wir wussten, verprügeln würde – ausgerechnet von jenem Baum, der ihm zufolge unsere Familie und unsere Einheit symbolisieren sollte. „Wenn du etwas vergisst“, brüllte Joseph, „dann hängt Sieg oder Niederlage davon ab!“ Damit zog er Marlon die Rute hinten über die Oberschenkel. Michael rannte weinend davon; er konnte das nicht mit ansehen.
Der Gedanke an die Rute ließ uns alle mit noch mehr Konzentration an die Proben herangehen, aber trotzdem patzte Marlon doch immer wieder einmal. „Junge! Geh raus und hol eine Rute!“ Marlon versuchte nun schlau zu sein, er ließ sich Zeit, um den dünnsten, schwächsten Zweig zu finden, damit es nicht so wehtat. „Nein! Du gehst wieder raus und holst einen dickeren!“, befahl Joseph. Bald lernte Marlon, lauter zu schreien, als die Schläge es eigentlich rechtfertigten, denn so war die Strafaktion schneller vorbei.
Marlon bekam allerdings nicht mit, dass Joseph ernsthaft darüber nachdachte, aus den Jackson 5 die Jackson 4 zu machen.
„Er schafft es nicht, er tanzt verkehrt und singt falsch, und er ruiniert unsere Chancen!“, versuchte er Mutter zu erklären. Aber sie wollte um keinen Preis zulassen, dass Marlon aus der Gruppe geworfen wurde und sein Leben lang unter dieser Demütigung litt. Sie wusste ihre Sache gut zu vertreten, und Marlon blieb Teil der Band.
Eins muss ohnehin über Marlon gesagt werden: Er ist der Hartnäckigste von uns allen. Er kannte seine Grenzen, und trotzdem versuchte er immer wieder, sie zu überwinden. Wenn wir eine Pause machten, arbeitete er weiter. Er nutzte sogar den Schulweg zum Üben. Wir Brüder gingen gemeinsam zur Schule, und immer wieder löste sich Marlon von uns, tanzte auf dem Bürgersteig, ging seine Schritte durch, steppte zur Seite.
Wenn wir schlafen gingen, hörten wir Michael, wie er Marlon immer wieder beruhigte: „Du machst das prima, du schaffst das schon, mach einfach nur weiter.“ In der Schule nutzte Michael die Pausen, um Marlon beizubringen, wie man sich auf der Stelle drehte oder bestimmte Bewegungen machte. Weil wir alle die Filme von Bruce Lee großartig fanden, hatte jeder von uns seinen eigenen Nunchaku, diese zwei mit einer Kette verbundenen Stöcke, die in einigen asiatischen Kampfsportarten verwendet werden. Michael nahm sie mit zur Schule (damals brachten Kinder noch keine Waffen mit zur Schule, um sich gegenseitig zu bedrohen, und daher war so etwas damals noch nicht verboten), und er und Marlon nutzten die Nunchaku-Techniken, um besonders geschmeidige, fließende, elegante Bewegungen zu trainieren. Ich denke, dass Marlon gerade deswegen später ein so herausragender Tänzer wurde, weil er so viel außer der Reihe übte. Für Michael war es allerdings besonders hart, dass es seine eigenen Fähigkeiten waren, die Joseph als Maßstab für das Können seines Bruders anlegte. Und vor allem hasste er es, dass dieser gnadenlose Blick unseres Zuchtmeisters stets Zweifel säte: „War das gut genug? War es das, was er wollte? Habe ich einen Fehler gemacht?“ Hier lag die Wurzel für die heftigen Selbstzweifel, die jeden von uns später quälten und uns dazu brachten, immer wieder genau zu hinterfragen, ob unser Bestes wirklich unser Bestes gewesen ist.
Vielleicht war es die Verbitterung über diese Härte, die Michael schließlich rebellieren ließ. Wenn Joseph ihm bei den Proben sagte, er solle einen bestimmten Schritt machen oder eine neue Bewegung ausprobieren, dann weigerte sich mein Bruder, der inzwischen ohnehin einen Improvisationsstil entwickelt hatte und ohne Anleitung zurechtkam. Mit neun Jahren hatte er sich von einem gehorsamen Kind, das bereitwillig alles tat, was man ihm auftrug, zu einem störrischen Jungen mit erstaunlichem Selbstbewusstsein entwickelt. „Jetzt mach schon, Michael“, sagte Joseph mit hartem Blick, „sonst gibt’s Ärger.“
„Nein!“
„Ich sag’s dir nicht noch einmal.“
„Nein – ich will nach draußen zum Spielen!“
Michael begehrte schließlich gegen jede Form von Befehl auf, und er reizte seinen Spielraum viel weiter aus, als wir anderen uns das getraut hätten. Das führte natürlich unweigerlich dazu, dass auch er die Rute zu spüren bekam. Immer wieder stand er unter dem Baum, weinte und suchte möglichst langsam einen geeigneten Zweig aus, um noch ein wenig Zeit zu schinden. Die Rute war auch mir nicht fremd; ich erinnere mich, dass ich einmal geschlagen wurde, weil ich irgendeine Hausarbeit nicht erledigt hatte. Aber Marlon und Michael bekamen sie am meisten zu spüren. Der eine, weil er Fehler machte, und der andere, weil er nicht gehorchen wollte.
Manchmal versuchte Mutter Joseph zu bremsen, weil er es ihrer Meinung nach mit den Strafen übertrieb. „Hör auf, Joseph, hör auf!“, flehte sie und versuchte ihn zur Vernunft zu bringen, wenn er wieder einmal rot sah.
Nach und nach erkannte Joseph jedoch selbst, dass dieses Züchtigungsinstrument kontraproduktiv war, weil es dazu führte, dass Michael sich verkroch. Er verbarrikadierte sich im Kinderzimmer oder versteckte sich unter dem Bett und weigerte sich, herauszukommen, und all das ging von unserer kostbaren Übungszeit ab. Einmal schrie er Joseph ins Gesicht, dass er nie wieder einen Ton singen werde, wenn er ihn noch einmal anfasse. Es war dann an uns, den älteren Brüdern, ihn zu beruhigen und ihn mit Süßigkeiten zu bestechen, doch weiterzumachen: Es