Jermaine Jackson

You are not alone - Mein Bruder Michael Jackson


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über Michaels Gesundheitszustand“. Denn genau das war der Grund: Michaels Angst davor, dass er krank werden könnte. Wenn er eine Maske trug, dann hatte er vermutlich das Gefühl, dass eine Erkältung oder dergleichen im Anzug oder sein Immunsystem gerade nicht richtig auf der Höhe war. Genau wie ich fürchtete auch er sich sein Leben lang vor Keimen. Zumindest war das der Ursprung seiner Angewohnheit, einen Mundschutz zu tragen; später wurde er wahrscheinlich auch eine Art Mode-Accessoire, das ihm zudem die Möglichkeit bot, sich zu „verstecken“ – ein Mini-Schutzschild für einen Mann, der sich verzweifelt jedes noch so kleine Stück Privatsphäre zu erhalten versuchte.

      Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der Mutter nicht schwanger war. Wenn sie die Straße entlangging, dann stets mit diesem typischen Watschelgang und mit zwei Tüten in jeder Hand, die entweder Lebensmittel oder gebrauchte Kleidungsstücke enthielten. Zwischen 1950 und 1966 brachte sie neun Kinder zur Welt. Eine reife Leistung, wenn man bedenkt, dass sie und Joseph eigentlich höchstens drei Kinder geplant hatten.

      Als Erste kam meine Schwester Rebbie (Rie-bie ausgesprochen) zur Welt, dann Jackie (1951), Tito (1953), ich (1954), La Toya (1956), Marlon (1957), Michael (1958), Randy (1961) und Janet (1966). Wir wären zehn Kinder gewesen, aber Brandon, Marlons Zwillingsbruder, starb bei der Geburt. Deswegen sagte Marlon bei der Trauerfeier 2009 in seiner Botschaft an Michael: „Bitte umarme unser Geschwisterchen, meinen Zwillingsbruder Brandon, an meiner Stelle.“ Das Band zwischen Zwillingen bleibt eben über den Tod hinaus bestehen.

      Als Kinder erfuhren wir viel Zärtlichkeit von unserer Mutter. Es wird gern erzählt, dass wir eine unglückliche Kindheit voller Kälte und Distanz gehabt hätten, aber wir wuchsen ganz im Gegenteil in einem liebevollen Umfeld auf, mit einer Mutter, die uns viel küsste und in die Arme nahm. Die Stärke, die diese Liebe in uns erwachsen ließ, spüren wir alle noch heute. Ich war ein echtes Mamakind – ebenso wie Michael –, und wir beide, wie auch La Toya, kämpften stets um den begehrten Platz an Mutters Seite, eng an ihre Beine geschmiegt, die Hände an den Rock geklammert. La Toya gab sich dann immer alle Mühe, mich aus dem Feld zu schlagen.

      Wenn Mutter nicht zu Hause war und wir Brüder miteinander Streit hatten, versuchte jeder sie auf seine Seite zu ziehen. „Versprich uns, dass du nichts erzählst, La Toya. Versprich es!“

      „Versprochen“, sagte sie dann ganz überzeugend. „Ich verrate nichts!“ Sobald Mutter aber zur Tür hereinkam, war das Versprechen vergessen, und es folgte eine dramatische Schilderung der Ereignisse. „Mutter, Jermaine hat sich geprügelt.“ Wir hätten es ihr gern einmal richtig heimgezahlt, dass sie dauernd petzte. Sie war die stille Beobachterin, die sich alles merkte, um es später auszuplaudern. Notfalls erfand sie auch irgendwelche Geschichten – sie wollte sich einfach bei Mutter einschmeicheln, während ich zur Strafe zusätzliche Arbeiten im Haushalt aufgebrummt bekam. Aber später witzelten wir oft darüber, dass ich trotzdem sehr hoch in Mutters Gunst stand und „Mamas Liebling“ war, wie Rebbie das nannte.

      „Du warst das Lieblingskind!“, meinte auch Michael, und das war schon ein bisschen dreist, weil er in ihren Augen auch nichts falsch machen konnte.

      Ich fühlte mich jedenfalls nicht als etwas Besonderes, aber wenn Mutter mich wirklich jemals bevorzugt haben sollte, dann lag das vermutlich an einer Geschichte, die sich ereignete, als sie mit Michael schwanger war. Mit ungefähr drei Jahren wollte ich unbedingt ausprobieren, ob ich eine ganze Packung Salz essen konnte, und landete prompt mit Nierenversagen im Krankenhaus. Ich selbst kann mich an diese traumatische Erfahrung nicht mehr erinnern. Zwar war ich ein kräftiges Kind, aber ich musste trotzdem drei Wochen lang unter ärztlicher Aufsicht bleiben. Mutter und Joseph konnten es sich nicht leisten, jeden Tag zu mir zu fahren. Wenn sie aber kamen, dann erzählte ihnen die Schwester, dass ich mir den ganzen Tag die Lunge nach ihnen aus dem Hals schrie. Und wenn sie sich wieder verabschiedeten, stand ich heulend auf meinem Bett. Ich bin heute froh, dass ich mich nicht an Mutters Gesichtsausdruck erinnere, wenn sie mich wieder allein lassen musste. Es sei ein schreckliches Gefühl gewesen, sagte sie später.

      Schließlich durfte ich wieder nach Hause, aber vielleicht ist dieses Erlebnis eine Erklärung dafür, weshalb ich so empfindlich wurde und mich so übermäßig an sie klammerte, immer in der Angst, wieder alleingelassen zu werden. Am ersten Schultag riss ich mich von der Lehrerin los, rannte den Flur hinunter und hinaus auf die Straße, zurück zu meiner Mutter. „Du musst hierbleiben, Jermaine … du musst hier­bleiben“, sagte sie damals mit einer Ruhe, die für mich dann alles wieder in Ordnung brachte. Ihr Einfühlungsvermögen beruht auf einem tiefen, unerschütterlichen Glauben an Gott, und dabei vermittelt sie stets eine Haltung, die irgendwo zwischen der Aura eines Jüngers und der Autorität eines Friedensrichters liegt. Sicher hat auch ihre Belastbarkeit ihre Grenzen, aber mit ihrer Gelassenheit konnte sie viele schwierige Situationen entschärfen.

      Sie hat sich für uns aufgeopfert, schon allein dadurch, dass sie 81 Monate ihres Lebens mit uns schwanger war. Und sie war schön, mit ihrem gewellten schwarzen Haar und ihren makellosen Kleidern und mit dem perfekt aufgetragenen roten Lippenstift, der Flecken auf unseren Wangen hinterließ. Mutter war der Sonnenschein in dem Haus in der Jackson Street 2300.

      Sie arbeitete als Teilzeitkraft im Kaufhaus Sears. Wir konnten es nie abwarten, dass sie von der Arbeit nach Hause kam. Ich denke heute noch voller Wärme daran, wie sie zur Haustür hereinkam, nachdem sie sich durch den tiefen Schnee des Winters in Indiana gekämpft hatte. Sie stand da, stampfte mit den Füßen auf der Matte und bewegte den Kopf hin und her, um die Schneeflocken abzuschütteln. Dann kam Michael – inzwischen der Schnellste von uns allen – auf sie zugerannt und umklammerte ein Bein, gefolgt von mir, La Toya, Tito und Marlon. Bevor sie den Mantel ablegte, zog sie die Hände aus den Taschen und hatte dann immer etwas zum Naschen für uns darin: zwei Tüten mit heißen spanischen Erdnüssen.

      In der Zwischenzeit bereiteten Jackie und Rebbie in der Küche schon alles vor, damit Mutter mit dem Kochen anfangen konnte, bevor Joseph nach Hause kam. Wir nannten ihn immer Joseph. Nicht Vater. Oder Daddy. Oder Papa. Nur „Joseph“. Darum hatte er selbst gebeten. Das war für ihn eine Frage des Respekts.

      Es gibt in den USA einen Kinderreim über eine alte Frau, die in einem Schuh lebt und so viele Kinder hat, dass sie gar nicht weiß, wie sie zurechtkommen soll. Das ist vielleicht ein passendes Bild, um das Leben in der Schuhschachtel zu beschreiben, um die es sich bei unserem Haus in der Jackson Street 2300 handelte. Neun Kinder, zwei Erwachsene, ein Schlafzimmer, ein Kinderzimmer, ein Bad, eine Küche und ein Wohnzimmer auf einer Fläche von 10 mal 13 Metern. Von außen sah es so aus wie die typischen Häuser, die man als Kind malt: links und rechts ein Fenster neben der Eingangstür, und oben ragt ein Schornstein aus dem Dach. Unser Haus war in den 1940er-Jahren erbaut worden, eine Holzkonstruktion, die von einem so dünn gedeckten Pyramidendach gekrönt wurde, dass wir fest davon ausgingen, der erstbeste Tornado würde es herunterreißen. Es stand an der T-Kreuzung, an der die Jackson Street auf die 23. Avenue trifft.

      Vorn führte ein kurzer Gartenweg vom Bürgersteig über den Rasen zu einer schwarzen, soliden Tür, die, wenn man sie hart zuschlug, das ganze Haus erzittern ließ. Dahinter lag das Wohnzimmer, in dem unter anderem das braune Sofabett stand, auf dem die Mädchen schliefen; die Küche und der Hauswirtschaftsraum befanden sich zur Linken. Geradeaus führte ein kleiner Flur, etwa zwei Schritte lang, rechts zum Jungenzimmer und links zum Elternschlafzimmer, neben dem sich auch das Badezimmer befand.

      Die Jackson Street lag in einem ruhigen Viertel, das im Süden von der Schnellstraße Interstate 80 und im Norden von einer Bahnlinie begrenzt wurde. Der Weg zu unserem Haus war leicht zu beschreiben, weil es direkt neben der Theodore Roosevelt High School und einem Sportplatz lag. Der Maschendrahtzaun, der das Sportgelände einfasste, bildete das Ende der Sackgasse der 23. Avenue und bot einen freien Blick auf die Laufstrecke zur Linken und das Baseballfeld mit den Tribünen auf der anderen Seite zur Rechten. Joseph meinte immer, wir könnten uns glücklich schätzen, dass uns das Haus gehörte. Das war nicht bei allen in unserer Nachbarschaft so. Deshalb betrachteten wir uns auch nie als „arm“, denn die Leute in der Delaney-Siedlung – auf der anderen Seite der Schule – wohnten zur Miete in den Sozialbauten, die wir von unserem Grundstück aus sehen konnten. „Es gibt immer jemanden, der übler dran ist, egal, wie schlecht die Lage gerade erscheinen mag“, hieß es immer. Man konnte unsere Situation von daher wohl