schon eine kurze Zeit im Westen gelebt und war auf den Geschmack gekommen. Seine Ziele waren eng verbunden mit den Sonnenuntergängen über dem Pazifik und dem Anblick des Hollywood-Schriftzugs. Mit 13 Jahren war er aus Arkansas nach Oakland in der Bucht von San Francisco gezogen, und auf der Zugfahrt dorthin war er durch Los Angeles gekommen. Grund für den Ortswechsel war, dass sein Vater von der Affäre erfuhr, die Josephs Mutter Chrystal mit einem Soldaten hatte. Er gab seine Stelle als Lehrer auf und fand in Oakland Arbeit auf einer Werft. Dabei war Samuel Jackson zunächst allein aufgebrochen und hatte Joseph zu Hause zurückgelassen. Drei Monate später, nachdem viele bittende Briefe zwischen Vater und Sohn hin- und hergegangen waren, fällte Joseph „die allerschwerste Entscheidung“ und ging in den Westen. Noch mehr Briefe folgten, dieses Mal zwischen Joseph und seiner Mutter. Unser Vater war offenbar schon als Kind mit einer großen Überzeugungskraft gesegnet gewesen, denn einige Monate später verließ Chrystal Jackson ihren neuen Freund und kehrte zu dem Mann zurück, von dem sie sich erst kürzlich hatte scheiden lassen.
Das Familienglück hielt ein Jahr, bevor Chrystal wieder nach Osten zog, um ein neues Leben mit einem anderen Mann in Gary, Indiana, anzufangen. Joseph fühlte sich vermutlich wie der Strick bei dem Tauziehen, das zwischen seinen Eltern stattfand. Dabei war gerade er ein Mensch, dem der Zusammenhalt und der Familienverband so unendlich wichtig waren. Ich weiß nicht, wie er das aushielt. Ich weiß nur, dass er sich eines Tages in den Bus setzte und von Oakland nach Gary fuhr. Er fand die Stadt zunächst „klein, dreckig und hässlich“, aber seine Mutter lebte dort, und wenn ich heute zwischen den Zeilen lese, dann glaube ich, dass er sich ein wenig wie eine „Berühmtheit“ fühlte – für die anderen Jugendlichen in seinem Alter kam er nicht aus Arkansas, sondern aus Kalifornien, und mit seinen Geschichten vom Leben an der Westküste war ihm die Aufmerksamkeit der Mädchen von Gary sicher. Und so blieb der sechzehnjährige Joseph mit seiner Mutter in Indiana, aber in Gedanken hielt er daran fest, dass er eines Tages nach Kalifornien zurückkehren würde. „Wir gehen in den Westen. Wartet nur ab, bis ihr gesehen habt, wie es dort ist“, pflegte er zu uns zu sagen, wie ein Entdecker, der seine Reise nur kurz unterbrochen hat, um sein großes Abenteuer zu einem späteren Zeitpunkt wiederaufzunehmen.
Die Jahre harter Arbeit hatten Falten und Furchen in Josephs Gesicht hinterlassen, er hatte buschige Brauen, die den Eindruck vermittelten, als runzele er beständig die Stirn, und nussbraune Augen, die direkt bis auf den Grund der Seele seines Gegenübers sehen konnten. Ein strenger Blick genügte uns Kindern, damit wir zu zittern anfingen. Aber wenn er von Kalifornien sprach, wurden seine Züge weicher. Er erinnerte sich an den „goldenen Sonnenschein“, an die Palmen, an Hollywood und überhaupt daran, dass die Westküste „der beste Ort zum Leben“ sei. Keine Verbrechen, saubere Straßen und zahlreiche Möglichkeiten, um bis ganz nach oben zu kommen. Wenn wir Fernsehserien wie Maverick guckten, dann zeigte er uns die Straßen, die er kannte. Im Laufe der Zeit wurde Los Angeles für uns auf diese Weise zu einem fiktiven Paradies, wie ein entfernter Planet: Wenn Menschen zum Mond zu fliegen vermochten, dann konnten wir vielleicht auch eines Tages nach L.A. reisen. Wenn die Sonne in Indiana unterging, dann sagten wir immer: „Bald geht die Sonne in Kalifornien unter.“ Wir wussten: Irgendwo da draußen gab es einen Ort und ein Leben, die besser waren als unsere aktuelle Wirklichkeit.
Lange bevor Michael zu Welt kam, als Mutter noch mit mir schwanger war, unternahm Joseph erste Schritte, um eines Tages „den Durchbruch zu schaffen“. Gemeinsam mit seinem Bruder Luther und ein paar Freuden gründete er eine Bluesband namens The Falcons, in der er Gitarre spielte. Als ich zur Welt kam, hatten sie schon ein gutes Programm ausgearbeitet und traten auf Partys und in kleinen Clubs im Ort auf, um zusätzlich ein wenig Geld zu verdienen. Wenn er oben in seiner Krankanzel saß, komponierte Joseph Songs, schob die Stahlträger gewissermaßen per Autopilot hin und her und dachte im Singer-Songwriter-Modus über Texte nach.
1954, als ich geboren wurde, schrieb er angeblich einen Song, der „Tutti Frutti“ hieß. Ein Jahr später veröffentlichte Little Richard einen Hit mit demselben Namen. Wir wuchsen mit der Legende auf, dass Little Richard den Song von unserem Vater „geklaut“ habe. Das stimmte natürlich nicht. Was aber zählte, das war, dass ein Schwarzer aus dem Nichts einen Song geschrieben hatte, der die ganze Musik neu definierte – „der Sound der Geburt des Rock’n’Roll“. Es war diese Möglichkeit, die sich tief in unsere Köpfe einbrannte, jedes Mal, wenn diese Geschichte erzählt wurde.
Zwar kann ich mich nicht direkt an Proben der Falcons erinnern – jedenfalls an nichts, was auch nur ansatzweise dem geglichen hätte, wie Proben später bei uns aussahen – aber ich weiß noch, wie Onkel Luther, immer mit einem Lächeln auf den Lippen, mit ein paar Dosen Bier und seiner Gitarre bewaffnet zu uns kam und dann mit Joseph zusammen Riffs spielte, während wir dabeisaßen und alles in uns aufsogen. Onkel Luther spielte den Blues, und Joseph wechselte zwischen Gitarre und Mundharmonika. Manchmal war das der Soundtrack, zu dem wir abends einschliefen.
Josephs Träume von der Musikerkarriere zerplatzten mit der Trennung der Falcons, nachdem einer der anderen Musiker, Pookie Hudson, die Band verließ und seine eigene gründete. Aber Joseph entspannte sich am Feierabend trotzdem oft beim Gitarrespielen. Anschließend stellte er das Instrument an seinen angestammten Platz in den Wandschrank im Schlafzimmer. Tito, der sich als Erster von uns fürs Gitarrespielen begeisterte, umschlich den Wandschrank wie einen unverschlossenen Safe mit einem Goldschatz, aber wir alle wussten, dass dieses Instrument Josephs ganzer Stolz war – und deshalb tabu. „Denkt nicht mal daran, meine Gitarre anzufassen!“, warnte Joseph uns alle, bevor er zur Arbeit ging.
Wir fünf Jungen teilten uns ein Kinderzimmer – die beste Garderobe, die wir je hatten. In dieser Enge wurden wir zu besten Freunden. Und der brüderliche Zusammenhalt wird bis heute mit jedem Jahr stärker. Wir sind die Einzigen, die zueinander sagen können: „Vergesst nicht, wie es war. Vergesst nicht, was wir miteinander teilten. Vergesst nicht, woher wir kamen und wer wir waren.“
Oder, wie Clive Davis es einmal ausdrücken sollte: „Blut ist dicker als Dreck.“ Wir waren in Gary unzertrennlich, immer zusammen, Tag und Nacht. Wir teilten uns ein dreistöckiges Etagenbett aus Metall. Es war gerade so lang wie die Rückwand des Zimmers und so hoch, dass Tito und ich nur einen guten Meter unterhalb der Decke schliefen, er mit dem Kopf an meinen Füßen und umgekehrt. Das Bett in der Mitte gehörte Michael und Marlon, und Jackie hatte das unterste für sich allein. Jackie war der Einzige von uns, der nicht wusste, wie es war, wenn man mit einem Fuß im Auge, Ohr oder Mund aufwachte. Die Mädchen, Rebbie und La Toya, schliefen auf dem Sofabett im Wohnzimmer (später mit unserem Bruder Randy und unserer jüngsten Schwester Janet), und so war wirklich jeder Raum bis an die Grenze ausgelastet. Man stelle sich vor, dass Rebbie, immerhin die Älteste, niemals ein eigenes Zimmer hatte!
Wir Brüder verbrachten viel Zeit in unserem Refugium, dessen Fenster auf die 23. Avenue hinausgingen. Jeder Abend war so, als übernachte man bei Freunden. Wir gingen alle, unabhängig von unserem Alter, ungefähr zur selben Zeit ins Bett – um halb neun oder neun Uhr – und veranstalteten Kissenschlachten, rangen miteinander oder redeten uns noch eine gute Stunde die Köpfe heiß und planten den nächsten Tag, bevor wir einschliefen.
„Ich habe die Rollschuhe, also bin ich morgen mit Fahren dran!“
„Ich habe den Baseballschläger und einen Ball, wer spielt mit?“
„Wir bauen ein Go-Kart, wer macht mit?“
Wir zogen die Laken von den Betten und legten die Matratzen auf den Boden, dann bauten wir Türme aus Büchern und zogen die Laken darüber, um ein Zeltdach zu simulieren. Wir liebten es, in selbstgebauten Höhlen auf dem Boden zu schlafen. Und auch ohne Höhle – es war immer ein bisschen so wie beim Camping.
Morgens weckten wir uns gegenseitig. „Bist du wach, Jermaine?“, hörte ich Michael flüstern. „Jackie?“ Auf dessen Antwort warteten wir meist lange, denn er döste gern noch ein paar Minuten.
Dann kam der Ansturm aufs Badezimmer, das wir laut Vereinbarung jeweils nur eine Viertelstunde blockieren durften. Sobald einer rauskam, schlüpfte der nächste rein, und oft hörten ich Mutters Mahnung: „Jermaine! Deine Viertelstunde ist um!“
Die Morgenstunden zu Hause waren wunderbar. Ich liebte das Chaos in der Küche, und ich fand es herrlich, im Bett kurz nach dem Aufwachen