Jermaine Jackson

You are not alone - Mein Bruder Michael Jackson


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glühend heiß waren.“ Damals bestand er nur aus Haut und Knochen. Er konnte essen, so viel er wollte, und nahm doch nicht zu, weil die Arbeit so kräftezehrend war. Ein wenig lag das allerdings wohl auch an seinem Stoffwechsel, den die meisten von uns von ihm geerbt haben, vor allem Michael. Die schlimmste Arbeit, die Joseph je übernahm, bestand darin, Asche aus dem Hochofen zu kehren. Hier war seine hagere Gestalt besonders nützlich, weil er dabei an einem Seil in einem Eimer einen Abzug hinuntergelassen wurde, der lediglich einen Meter Durchmesser hatte. Verglichen mit solchen Geschichten kam mir der Job eines Kranführers geradezu glamourös vor.

      Es soll jedenfalls niemand sagen, Joseph wisse nicht, was harte Arbeit war. Solche Jobs konnten nur Männer verrichten, die innerlich gefestigt und wirklich stark waren, und er hatte sich die Finger blutig gearbeitet, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich glaube, deswegen ist ihm „Respekt“ so wichtig. In seinen jungen Jahren hatte er lange in untergeordneten Positionen gearbeitet, und seine Wurzeln lagen ebenso wie bei Mutter in der Sklaverei, aber er hatte sich Respekt verdient, und daher erwartete er ihn auch von seiner Familie. Im Gegenzug war er sich der eigenen Verantwortung bewusst. Je mehr Kinder er hatte, desto mehr Überstunden machte er, um zusätzlich Geld zu verdienen. Als Michael geboren wurde, hatte er einen zweiten Job angenommen und übernahm noch ein paar Schichten in einer Konservenfabrik.

      Uns Kindern war bewusst, dass Geld immer knapp war. Unsere Eltern brachten zusammen um die 75 Dollar nach Hause. Sie waren zu stolz, um Sozialhilfe zu beantragen, und daher räumten Tito und ich beispielsweise im Winter den Schnee von den Einfahrten unserer Nachbarn, um zusätzlich Geld zu verdienen. Dass Joseph seine Lohntüte bekommen hatte, merkten wir immer daran, dass ein frischer Laib Brot und ein Päckchen Frühstücksfleisch auf der Arbeitsfläche in der Küche lagen. Mehr als einmal wurde Joseph jedoch auch entlassen und später wieder eingestellt. In der Zwischenzeit half er bei der Kartoffelernte. Wir wussten immer, wenn im Stahlwerk wieder einmal Schluss gewesen war, denn dann kamen nur Kartoffeln auf den Tisch – gebacken, gekocht, geröstet oder als Brei.

      Inland Steel war für Generationen von Familien die große Hoffnung. In Gary sagte man, dass man im Leben nur drei Möglichkeiten besaß: Fabrik, Knast oder Tod. Die letzten beiden bezogen sich auf die Gang-Kriminalität, die Schattenseite unserer Gemeinschaft. Doch ganz egal, welche der drei Möglichkeiten das Schicksal für uns vorgesehen hatte, Joseph war fest entschlossen, den Lauf der Dinge zu verändern. Jede Stunde, die er arbeitete, dachte er an nichts anderes. Unsere Flucht war auch die seine und die von Mutter.

      Joseph stammte aus einer Familie mit sechs Kindern, vier Jungen und zwei Mädchen. Er war der Älteste und stand besonders der Schwester nahe, die nach ihm zur Welt gekommen war, Verna Mae. Unsere Schwester Rebbie erinnere ihn sehr an sie, sagte er immer – pflichtbewusst, freundlich, eine richtige kleine Hausfrau, die trotz ihrer jungen Jahre schon sehr reif und erwachsen wirkte. Joseph fand es wundervoll, wie sich Verna Mae um den Haushalt und die anderen Kinder kümmerte, und seine liebste Erinnerung war, wie sie im Alter von sieben Jahren beim Licht einer Öllampe saß und den Brüdern Lawrence, Luther und Timothy eine Gutenachtgeschichte vorlas. Dann wurde sie krank, und Joseph konnte nichts tun, um ihr zu helfen. Die Ärzte fanden nicht einmal heraus, woran sie litt. Verna Mae selbst verbreitete noch vom Krankenbett aus Optimismus. „Alles ist gut. Ich werde wieder gesund.“ Aber Joseph musste von der Tür aus mit ansehen, wie es ihr immer schlechter ging, während die Erwachsenen um ihr Bett herumstanden. Dann starb sie. Joseph weinte tagelang und konnte diesen Verlust nie verwinden. Soweit ich das verstanden habe, war es das letzte Mal, dass er eine Träne vergoss: Er war elf Jahre alt.

      Als selbsternannte Weicheier fanden Michael und ich es immer schrecklich, dass unser Vater so hart war. Keiner von uns kann sich daran erinnern, dass er sich je Verletzlichkeit anmerken ließ. Wenn wir als Kinder weinten, auch, nachdem er uns gezüchtigt hatte, schimpfte er mit uns: „Wieso heult ihr denn?“

      Joseph verbrachte seine prägenden Jugendjahre damit, um seine Schwester zu trauern. Bei ihrer Beerdigung, als er hinter dem Pferdewagen mit dem Sarg herging, schwor er, dass er nie wieder ein Grab sehen wolle. Dieser große Verlust in seinem Leben schloss all seine Emotionen ein, und Joseph hielt Wort: Er ging nie wieder auf eine Beerdigung. Bis zum Jahr 2009.

      Während seiner Schulzeit hatte Joseph Angst vor einer Lehrerin. Er war besonders angehalten, Respekt vor den Lehrern zu haben, weil sein Vater Direktor der örtlichen High School war und an strenge Disziplin durch körperliche Züchtigung glaubte. Die furchteinflößende Frau machte Joseph offenbar so viel Angst, dass er schon zu zittern begann, wenn sie nur seinen Namen aufrief. Einmal, so wurde uns erzählt, sollte er vor die Klasse treten und vorlesen, was an der Tafel stand. Zwar wusste er genau, welche Worte es waren, aber die Angst verschlug ihm die Sprache. Die Lehrerin fragte ihn ein zweites Mal. Als er wieder keine Antwort gab, folgte die Strafe auf dem Fuße, in Form eines hölzernen Bretts, das er auf den nackten Hintern bekam. Das Ding hatte noch dazu Löcher, damit es bei jedem Schlag auch richtig zog. Während sie ihn bestrafte, sagte sie ihm auch, wieso er die Prügel bekam: Er hatte ihr nicht gehorcht, als er nicht laut lesen konnte. Zwar hasste er sie dafür, aber er respektierte sie auch. „Aus diesem Grund hörte ich ihr zu und gab immer mein Bestes“, sagte er.

      Genauso war es, wenn Papa Jackson ihn schlug. So war er erzogen worden, nach der alten Maxime, dass man jemandem, den man kon­trollieren will, erst einmal eine Heidenangst einjagen muss. Diese Lehre wurde ihm sozusagen Schlag für Schlag eingetrichtert. Einige Wochen später veranstaltete dieselbe Lehrerin einen Talentwettbewerb, und die Schüler durften sich dabei aussuchen, was sie tun wollten – Gedichte, eine Kurzgeschichte, eine Theaterszene schreiben oder malen. Joseph hatte keine künstlerische Ader, er verstand sich nicht auf Worte – er hatte sich immer nur Stummfilme angesehen. Ihm fiel nur eins ein, die Stimme seines Vaters, wenn der „Swing Low, Sweet Chariot“ sang. Also beschloss er zu singen, aber als er an die Reihe kam, zitterte er so sehr, dass seine Stimme flatterte und er kaum einen Ton traf, und die ganze Klasse fing an zu lachen. Mit dem Gefühl der Erniedrigung kehrte er auf seinen Platz zurück und erwartete wieder Schläge. Als die Lehrerin zu ihm trat, duckte er sich. „Du hast sehr schön gesungen“, sagte sie jedoch. „Sie lachen, weil du nervös warst, und nicht, weil du schlecht warst. Das war ein guter Versuch.“

      Als er von der Schule nach Hause ging, schwor sich Joseph, er würde es ihnen zeigen, und er begann von einem Leben im Showgeschäft zu träumen. Von dieser Geschichte erfuhr ich erst vor kurzer Zeit, als er sie plötzlich wieder ausgrub, vielleicht bei dem Versuch, ihr im Licht der jüngsten Ereignisse neue Bedeutung zu verleihen. Ich glaube nicht, dass einer von uns Jacksons sich je besonders viel Mühe gegeben hat, sich intensiver mit unserer Familiengeschichte zu beschäftigen oder auch nur darüber zu reden. Michael sagte einmal, dass er Joseph nie wirklich gekannt habe. „Das ist traurig für einen Sohn, der seinen Vater immer verstehen wollte“, schrieb er 1988 in seiner Autobiografie Moonwalk – Mein Leben.

      Joseph hat vermutlich etwas an sich, das sich nicht entschlüsseln lässt. Es ist schwer, hinter seine Mauern zu dringen, die er sich vielleicht aus Verlustängsten heraus erbaut und mit seinem Bedürfnis nach Respekt verstärkt hat. Keiner von uns kann sich je daran erinnern, dass er uns umarmt oder mit uns gekuschelt hätte oder dass er je „Ich habe dich lieb“ gesagt hätte. Er hat nie mit uns herumgerangelt oder uns abends ins Bett gebracht, und es gab auch keine innigen Vater-Sohn-Gespräche über das Leben. Wir alle erinnern uns an Respekt, an Anweisungen, an Aufgaben und Befehle, aber nicht an Zuneigung. Wir kannten unseren Vater und wussten, wie er war. Ein Mensch, der wollte, dass andere zu ihm aufsahen, und dem es wichtig war, seine Familie zu versorgen – ein richtiger Kerl eben.

      Wenn man das akzeptierte, dann kannte man ihn tatsächlich ein wenig – so weit das eben möglich war. Aber auch, wenn es Michael sehr schwerfiel, mit Josephs Art zurechtzukommen, er versuchte doch stets, ihn zu verstehen, und er richtete nicht über ihn. Traurig war allerdings, dass Michael diese Hintergrundgeschichte, die ich gerade erzählt habe, vermutlich nie gehört hat. Wahrscheinlich kennen die meisten Menschen ihre Eltern in erster Linie als „Mutter“ und „Vater“ und nicht als die Menschen, die sie waren, bevor sie selbst Kinder bekamen. Aber je mehr wir über die Kindheit und Jugend unserer Eltern wissen, desto besser können wir vielleicht verstehen, warum wir so geworden sind, wie wir sind. Die Geschichten aus Josephs Schulzeit erklären jedenfalls eine ganze Menge, glaube ich.