guckten direkt aus dem Fenster auf die Jackson Street, weil wir uns immer so aufstellten, dass uns das Licht auf die Gesichter fiel, und sahen draußen andere Kinder auf der Straße beim Ballspielen oder Rollschuhlaufen. Sie hatten Spaß und lachten, das konnten wir hören. Wenn Schulfreunde bei uns klopften und fragten, ob wir zum Spielen kämen, dann sagte Joseph Nein. „Sie müssen proben“, erklärte er. Das wiederum machte die gesamte Nachbarschaft endlos neugierig auf alles, was in unserem Haus vor sich ging, und so blieb es bis Ende der Sechzigerjahre. Gelegentlich kamen Kinder bis ans Fenster und drückten sich die Nasen an der Scheibe platt. Wahrscheinlich nahm das Leben im Goldfischglas, wie wir es später führten, hier seinen Anfang. Manche Kids trommelten auch ans Fenster und machten sich über uns lustig.
„Ihr habt Hausarrest! Ihr habt Hausarrest!“, riefen sie und liefen dann lachend weg.
Joseph zog die Vorhänge zu. Auf der Straße zu spielen, das brachte einen im Leben nicht weiter. „Konzentriert euch“, sagte er. „Ihr werdet immer Ablenkungen haben, denen ihr euch stellen müsst, aber wichtig ist, dass ihr an nichts anderes denkt als an euren Job.“ Wenn er es schaffte, neben seinen Schichten in der Fabrik noch hart zu arbeiten, dann konnten wir das auch. Das war die unausgesprochene Botschaft, die dahinterstand.
Wir besaßen Talent, das hatte er bei der Arbeit mit uns gemerkt. Aber in der Unterhaltungsbranche ging es nicht nur um Talent, man musste auch ein Showman sein, wie er das formulierte. Wir mussten das „Jackson-Geheimnis“ erschaffen. Bei den Tanzschritten sollten wir auf keinen Fall zählen. „Das dürft ihr nicht. Eins, zwei, drei, kick – das geht nicht. Das ist Tanzen nach Zahlen. Ihr müsst wissen und fühlen, was als Nächstes geschieht. Weg mit dem Zählen, her mit dem Gefühl!“
Am Anfang war Joseph geduldig und nahm sich viel Zeit, um uns nach seinen Vorstellungen zu formen. Er wusste, dass wir noch feucht hinter den Ohren waren, und darum zeigte er sich nachsichtig. Als er dann merkte, dass wir nach und nach besser wurden, war er sehr zufrieden, und das wiederum stachelte uns zu neuen Höchstleistungen an. Es ging darum, ihn zu beeindrucken und seinen Respekt zu erlangen. Wenn Verwandte wie Onkel Luther und Mama Martha zu Besuch kamen, ließ Joseph uns vorsingen. Und auch, wenn sie begeistert waren, reichte ihm das nie. „Ihr könnt noch mehr geben. Ihr könnt noch besser sein!“ Zumindest trieb uns Joseph zu einer Sache an, die uns Spaß machte. Und er verbrachte Zeit mit uns, im Gegensatz zu vielen anderen Vätern aus der Nachbarschaft. Wir fühlten uns ermutigt, nicht gedrängt – als ob er uns in eine Richtung führte, in die wir selbst gehen wollten.
„Blut, Schweiß und Tränen, Jungs – wenn ihr die Besten werden wollt, dann geht es nur so“, sagte er.
Tito meisterte die Gitarre, ich war ein starker Sänger, und Jackie hatte sein Talent als Tänzer schon bei den vielen Wettbewerben mit Rebbie bewiesen. Er führte uns bei den Tanzeinlagen, die Joseph vorschwebten, und wir machten es ihm nach, bis wir uns einheitlich bewegten. Das fiel uns nicht wirklich schwer; wir waren alle leichtfüßig. Abseits unserer Sessions wurde ich dazu ermutigt, Balladen zu singen, wie Mutter sie gern hörte, „Danny Boy“ oder „Moon River“. Ich brachte sie mir bei, indem ich die LPs auflegte und die Texte mitschrieb. Am schwersten war es, die Töne mit meinen Kinderlungen so lange zu halten, wie die Originale es erforderten, aber Joseph merkte, dass ich mir Mühe gab.
„Du musst aus dem Bauch heraus singen“, erklärte mir unser Gesangslehrer, Choreograph und Manager in Personalunion. „Stell dir einen Ballon vor, der sich ausdehnt. So ist das beim Einatmen. Beim Ausatmen singst du, da hältst und kontrollierst du die Töne. Denk an einen Dudelsack.“ Noch viele Jahre verglich ich meine Lungen innerlich mit Ballons und Dudelsäcken, denn so – in den Bauch hinein atmend – habe ich singen gelernt.
„Bevor ihr euch mit dem Text beschäftigt, müsst ihr erst einmal die Melodie beherrschen. Ihr müsst wissen, wo die Akkordwechsel liegen, und die Intonation meistern.“ Das war die wichtigste Lektion, die wir in der Jackson Street 2300 bekamen: Die Melodie liegt darin, die eigene Stimme zu begreifen, und Melodie ist alles. „Ihr solltet in der Lage sein, auch ohne Begleitung ein Lied zu singen.“ Auch unser „Ohr“ wurde so trainiert.
Wir wussten, dass wir allmählich auf dem richtigen Weg waren, als wir nicht mehr auf Jackies Füße starrten oder im Kopf vorzählten. Irgendwann ging es wie von selbst. Auf der Bühne zu stehen fühlte sich an wie das Natürlichste der Welt.
Mama Martha war eine wichtige Konstante in unserer Kindheit. Sie wohnte etwa zwanzig Minuten entfernt in Hammond, East Chicago, und kam uns oft besuchen, stets mit einem Rührkuchen im Gepäck. Als Erstes bekamen wir alle einen dicken Schmatz aufgedrückt, die Art von Kuss, die auf der Wange dieses laute Lippengeräusch macht. Sie war eine Oma wie aus dem Bilderbuch.
Nach endlosen Proben als Trio war Joseph ganz wild darauf, seiner Schwiegermutter zu zeigen, was er in aller Bescheidenheit geschaffen hatte. Was wir jedoch nicht wussten, das war, dass auch Michael darauf brannte, bei dem ganzen Rummel mitzumachen. Vor den Augen unseres vorwiegend weiblichen Publikums – bestehend aus Mutter, Mama, Rebbie und La Toya mit dem zweijährigen Randy – stellten Jackie, Tito und ich uns also in Positur, bestrebt, unserem Vater Ehre zu machen.
Michael saß wie immer mit seinen Bongos auf dem Boden. Als wir das Intro des ersten Songs schmetterten – welcher das war, habe ich vergessen –, fingen die Frauen an, den Rhythmus mitzuklatschen, und Michael stand auf. Und als er dann merkte, wie der Song langsam Fahrt aufnahm, fing er spontan an mitzusingen und übernahm eine eigene Harmonie. Er lenkte mich ab, und deswegen gab ich ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, er solle sich verkrümeln und die Klappe halten. Unserer Meinung nach machte er uns unseren großen Moment kaputt.
Tatsächlich schaltete Joseph den Plattenspieler ab.
„Er macht hier gar nicht mit!“, protestierte ich. Aber Mama Martha verteidigte ihn sofort: „Lass ihn in Ruhe. Soll der Junge doch singen, wenn er will! Willst du singen, Michael?“
Michaels Gesicht hellte sich auf. Wir machten ihm Platz, damit er sich ein wenig in Omas Lächeln sonnen konnte, und Joseph setzte die Nadel brummend wieder auf die Platte. Unser kleiner Bruder begann zu singen. Und was da aus seinem Mund kam, das war kein „Jingle Bells“ bei Weihnachtsbeleuchtung. Es war hundert Mal besser, weil er nun offiziell zum Singen aufgefordert worden war und nicht verstohlen und leise ein verbotenes Weihnachtslied summte. Michael trat vor, zwar ein bisschen schüchtern, aber doch selbstbewusst, und er wusste genau, was er tun musste: Er spielte das Mikrofon, federte über die Bühne und sang wunderschön, und wir standen ganz baff da: „Verdammt, das ist ja super!“
Ich hatte keine Ahnung, woher diese Stimme kam.
„Vom Himmel“, sagte Mutter.
Josephs völlig perplexes Gesicht war herrlich anzusehen.
Michael hatte sich, während er uns zusah, alles genauestens eingeprägt. Und nun kam sein bisher verborgenes Talent zum Vorschein.
Am Ende bekam er einen riesigen Applaus von allen und fühlte sich so groß wie seine Brüder, was den Kleineren ja bekanntermaßen immer besonders wichtig ist.
Mama Martha und Mutter nickten sich mit wissendem Blick zu, als wollten sie sagen: „Wir haben doch gewusst, dass so etwas in ihm steckt.“
Soweit ich mich erinnere, holte Joseph ihn trotzdem nicht sofort in unsere Gruppe, weil es wegen seines Alters Bedenken gab: Er war am 29. August 1963 gerade erst fünf geworden. Aber ein paar Wochen später spielte das keine Rolle mehr, denn Michael war der Erste von uns, der live vor Publikum auftrat, bei einer Gala der Eltern-Lehrer-Vereinigung in der Garnett-Vorschule, die er seit kurzer Zeit besuchte.
In der Turnhalle hatte man aus rechteckigen grauen Blöcken eine Bühne errichtet, und davor standen jede Menge Klappstühle aus Holz. Offenbar war die gesamte Gemeinde erschienen, um sich die Auftritte der Kinder aus dem Viertel anzusehen. Ich saß bei Mutter und Papa Samuel, und wir wussten, dass Michaels Klasse etwas vorsingen würde; Michael hatte erzählt, dass er dabei ein Solo sang. Es war uns auch klar, dass es für ihn eine ziemlich große Sache war, denn morgens war er in einem blauen, bis zum Kragen zugeknöpften Hemd und seinen guten Hosen aus dem Haus gegangen, nicht wie sonst in T-Shirt und Jeans. Er hatte sich für das