sollte).
Insgesamt hatte Michael um sein Solo wenig Aufhebens gemacht, und ich hatte auch nicht gehört, dass er dafür übte, aber das zeugte vielleicht nur von dem großen Selbstbewusstsein, das er hier erstmals unter Beweis stellte: Er bereitete sich innerlich vor und trat erst, als alles saß, an die Öffentlichkeit. Dieser Maxime blieb er Zeit seines Lebens treu.
Als er an die Reihe kam, nickte die Lehrerin, die am Klavier saß, und Michael trat vor. Mutter umklammerte die Handtasche auf ihrem Schoß, und ich fragte mich, was jetzt kommen würde. Würde ich vor Peinlichkeit im Boden versinken oder damit angeben wollen, dass er mein Bruder war?
Die Antwort auf diese Frage stand nach kurzer Zeit fest.
Michael machte alles genau so, wie unser Vater es uns beigebracht hatte – und dann kam der unerwartete, große „Wow“-Moment, als er den hohen Ton am Schluss so hinausschmetterte, dass er durch die ganze Halle schallte. Es war, als sei Gott kurz zu ihm heruntergestiegen und habe gesagt: „Kleiner, ich werde dir eine Stimme geben, die nicht von dieser Welt ist. Und jetzt benutze sie!“
Michael stand richtig unter Strom und bewegte sich auf der Bühne mit großer Sicherheit. Er folgte nicht der Vorgabe der Lehrerin, so wie es die meisten Kinder taten: Sie folgte ihm. Am meisten überraschte uns alle jedoch, dass er so hoch sang. Beim letzten Ton standen alle auf und applaudierten. Sogar die Lehrerin erhob sich vom Klavierhocker, und sie klatschte so schnell in die Hände, wie ich es noch nie gesehen hatte.
Das ist mein Bruder!, dachte ich.
Mutter hatte Tränen in den Augen, und sogar Papa Samuel war gerührt.
Verdammt, Michael, du hast sogar Papa Samuel zum Weinen gebracht!
Vermutlich war das der entscheidende Moment, an dem sich Michaels Seele dafür entschied, andere unterhalten zu wollen, den Kitzel des Beifalls zu spüren und die Reaktion auf den Gesichtern zu sehen, die er hervorgerufen hatte. Und ich wusste, dass ich neben ihm stehen und genau das Gleiche fühlen wollte.
Nach diesem Tag wurde unsere Gruppe zum Quintett. Michael war mit an Bord. Marlon auch – nicht, weil er mit irgendwelchen besonderen Leistungen brilliert hatte, sondern weil Mutter dafür kämpfte, dass er nicht ausgeschlossen wurde. „Du machst ihn kaputt, wenn du ihn nicht mitmachen lässt, Joe“, sagte sie.
Später war gelegentlich zu lesen, dass ich verletzt oder eifersüchtig gewesen sei, als Michael zu uns stieß, aber das stimmt nicht: Es gab nichts, worauf ich hätte eifersüchtig sein können. Wir waren eine namenlose Gruppe, die noch keinen Schritt aus dem eigenen Wohnzimmer heraus gewagt hatte, insofern gab es gar kein Rampenlicht, das er mir hätte streitig machen können. Noch war es nichts anderes als enthusiastisches Singen unter Brüdern. Früher hatten wir in unseren Etagenbetten gelegen und davon geträumt, große Stars zu werden. Nun sangen wir morgens mit einem Ziel vor Augen. Wenn wir aus dem Bett kletterten, stimmte einer von uns ein Lied an, ein, zwei andere fielen mit ein, und ruck, zuck hatten wir eine schöne dreistimmige Harmonie.
Es gab hohe Noten, die ich nie erreichte, die Michael aber ganz leicht schaffte. Er sang wie ein Vogel, fand Oktaven, von denen ich gar nicht wusste, dass es sie gab, und unser Vater war sprachlos. Man merkte, dass er Michael nach kurzer Zeit als unerwartetes Plus in seinem großen Plan betrachtete. Das Einzige, was jetzt noch fehlte, war der richtige Name.
Oft habe ich mich gefragt, wie viele Namen meine Eltern sich für uns durch den Kopf gehen ließen, bis sie sich für die neun entschieden, die es dann schließlich wurden. Nicht, dass das wirklich eine Rolle gespielt hätte, denn aus Sigmund Esco für den Erstgeborenen wurde beispielsweise schnell „Jackie“, weil Papa Samuel sowieso immer von „Jackson Boy“ sprach und das dann aus Faulheit noch weiter verkürzte. Und aus Tariano Adaryl wurde der Einfachheit halber Tito, weil das für uns alle leichter war. Als Kind hat es mich immer fasziniert, wie zwei Leute einen so breitgefächerten Geschmack haben können, dass er vom exotischen Jermaine LaJuane bis hin zu Michael Joe reicht. Später, und vor allem nach seinem Tod, kamen Gerüchte auf, sein zweiter Name sei Joseph gewesen. Vielleicht klang das spannender, weil damit ein zusätzlicher Bezug zu dem komplizierten Vater-Sohn-Verhältnis gegeben war. Allerdings lautete sein zweiter Name laut Geburtsurkunde wirklich schlicht Joe. Beinahe wäre er auf Mama Marthas Wunsch hin Ronald getauft worden, aber Mutter wusste das gerade noch rechtzeitig zu verhindern. Im Hinblick auf die spätere Entwicklung hätte sich Ronald auch irgendwie nicht so gut angehört …
Michael war das siebte Kind, sein Vorname bestand aus sieben Buchstaben, und die Sieben war seine Lieblingszahl. Numerisch war sein Name damit 777. Das ist der Jackpot. Die Glücks-Sieben. Eine Zahl, die in der Bibel nur einmal vorkommt. In einen Namen kann man viel hineininterpretieren. Der Klang allein hat eine gewisse Kraft, ebenso wie die Geschichte, die er erzählt, und die Erinnerungen, die mit ihm verknüpft sind. Aber die Sieben war für Michaels Identität von zentraler Bedeutung. Sie war auf die Ärmel seiner Jacken gestickt. Wenn er auf Papier herumkritzelte, dann oft immer wieder die Sieben. Die Bleistiftskizzen, die er in späteren Jahren für seine eigene Möbelmarke anfertigte (und die nie in die Öffentlichkeit kamen), zeigten thronartige Polstersessel, in deren Eichenholzrahmen in der Mitte unter der Sitzfläche neben einem verschnörkelten Blumenmuster ebenfalls eine Sieben eingraviert war.
Wenn ich an all die Namen und Titel denke, die wir in all den Jahren in Erwägung zogen, ob als Songtitel, Albumtitel oder Namen für unsere eigenen Kinder, dann ging es immer darum, denjenigen zu finden, der richtig klang. Und deswegen hätte allen Biografen auch von Anfang an klar sein müssen, dass „The Ripples & The Waves“ nicht zu den Optionen zählte, die wir ernsthaft für unsere Gruppe in Erwägung gezogen hätten. Das Gerücht machte zu unserer Erheiterung zwar die Runde und wurde sogar irgendwo abgedruckt. Wahrscheinlich deswegen, weil bei Steeltown Records, die auch unsere ersten Platten veröffentlichten, ein Song namens „Let Me Carry Your Schoolbooks“ von The Ripples And The Waves & Michael erschien. Dass da ein „Michael“ sang, war vermutlich ein schlauer Marketing-Schachzug, um sich an unseren Erfolg dranzuhängen. Der besagte Michael hieß jedenfalls Michael Rogers, und bei The Ripples And The Waves handelte es sich um eine ganz andere Gruppe.
Unser erster Name hätte dabei noch deutlich schlimmer ausfallen können. Eine Lady meinte, wir brauchten etwas Ausgefallenes, so wie die „El Dorados“. Beinahe hätten wir also einen Namen erwischt, der wie irgendein Cadillac-Modell klang. Glücklicherweise fiel die Idee durch, als wir feststellten, dass es in Chicago schon eine Truppe gab, die so hieß. Joseph wollte, dass „Jackson“ im Namen vorkam, aber es musste gleichzeitig auch etwas Einprägsames sein. Unsere Eltern diskutierten „The Jackson Brothers 5“, und das war eine Weile die erste Wahl, bis Mutter mit einer Frau aus der Nachbarschaft darüber sprach, Evelyn Lahaie, die daraufhin meinte: „Das ist viel zu sperrig. Wieso nennt ihr sie nicht nur The Jackson 5?“ Mrs. Lahaie leitete „Evelyn’s School Of Charm“, ein Institut, das junge Mädchen darin unterrichtete, wie sie sich ansprechend präsentierten, und wusste desahlb in Imagefragen recht gut Bescheid. Und so waren The Jackson 5 geboren. Zumindest auf dem Papier.
Unser Nachbarsjunge Johnny Ray Nelson war immer gut für Unterhaltung, weil ihn sein Bruder Roy gern mit einer Brechstange zur Tür hinausjagte, und während Johnny lachend flüchtete, drohte Roy laut schimpfend, ihm eins überzuziehen – ruppige Spiele dieser Art waren in Gary an der Tagesordnung. Wenn Johnny gerade nicht auf der Flucht und der Friede wiederhergestellt war, dann hörte er uns durch die offenen Fenster unsere Stücke üben. Er sagte, ihn habe immer fasziniert, dass wir schon in so jungen Jahren so sicher mehrstimmig singen konnten.
Einmal spielte Michael draußen in der Sonne, und Johnny meinte: „Sing uns ein Lied, dann kriegst du ein paar Kekse.“ Wie aufs Stichwort stellte sich Michael hin und sang. Wir gingen natürlich auch sofort auf diese nachbarliche Aufforderung ein, und ruck,zuck standen fünf Brüder am Zaun und gaben Johnny Ray Nelson für einen Teller Kekse eine Privatvorstellung.
Von 1962 bis zum Sommer 1965 feilte Joseph immer weiter an unserem großen Auftritt, bis er endlich das Gefühl hatte, wir seien bereit. Wir hatten einen straffen Plan für die Proben: Montags, mittwochs und freitags ab halb fünf, sobald die Schule zu Ende war, nonstop bis sieben oder manchmal auch neun Uhr abends.
Anfang der Sechziger