Erik Eriksson

Schärenmorde


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      »Ich kann doch heute gar nicht. Muss zu einem Kurs, hatte ich das nict gesagt?«, antwortete Malin.

      Obwohl Fatima das eigentlich nicht durfte, konnte sie es doch nicht lassen, Malin zu erzählen:

      »Erinnerst du dich an Lars Gustavsson, bei dem ich im letzten Jahr auf dem Gymnasium Mathe hatte?«

      Fatima hatte ihn gemocht, vielleicht auch, weil die beiden bisweilen damit angaben, dass sie Russisch miteinander sprachen.

      »Sicher, ich hatte ihn ja auch«, antwortete Malin, die zwei Klassen über Fatima gewesen war, aus irgendeinem Grund jedoch diejenige gewesen war, der sich Fatima am engsten angeschlossen hatte, seitdem sie als Kind nach Schweden gekommen war.

      Trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft – Fatima hatte ihre ersten Jahre in einem armseligen Dorf im Irak verbracht, ehe ihre Familie auf einer strapazenreichen Flucht durch Russland nach Schweden gekommen war, während Malin in einem sicheren Villenviertel in Kvisthamra aufwuchs – hatten sie dieselben Wertvorstellungen und waren über fast alles einer Meinung, außer bei der Wahl ihres Berufes. Als Malin ihre Friseurlehre begann, bewarb sich Fatima um die Aufnahme in die Polizeihochschule. Heute waren sie 32 und 30 Jahre alt und trafen sich regelmäßig. Auch wenn es oft nur beim Sport war.

      »Man hat ihn tot im Hafenbecken gefunden«, sagte Fatima.

      »Wie schrecklich«, antwortete Malin und schwieg. Sie sagte es noch einmal, und dann erklärte sie, dass sie auflegen müsse. »Ich habe noch einen Kunden.«

      Erst am Montag, als Fatima das Bild in der Zeitung sah, bemerkte sie das Frachtschiff im Hintergrund. Man konnte es schräg hinter dem Rettungswagen sehen, der den größten Platz auf dem Foto einnahm. Es war gut zu erkennen, dass das Schiff sich ein ganzes Stück weit draußen in der Hafeneinfahrt befand. Auf dem Weg hinaus.

      Bei ihrer Ankunft musste es am Kai gelegen haben, ohne dass sie darüber nachgedacht hatte; dann hatte es die Anker gelichtet und war hinausgefahren, ohne dass es jemand beachtet hätte. Sie bekam Selbstzweifel. Eigentlich fand sie sich in ihrem Beruf immer als sehr fähig, aufmerksam, reaktionsschnell. Ein so großes Frachtschiff nicht zu bemerken, lag weit unter ihrem Niveau. Sie schob es auf die aufgeregte Zeugin, auf die Irritationen wegen der lauten Sirenen des Rettungswagens und auf den Umstand, dass es sie stark getroffen hatte, ihren ehemaligen Mathematiklehrer dort als Leiche zu entdecken.

      3

      Lennart Wärlin hatte, obwohl er Pensionär war, einen vollen Terminkalender. Montags stand ein Rundgang durch Norrtälje auf der Tagesordnung, mit einem Besuch der Konditorei Töss auf einen Kaffee und der dazugehörigen Zimtschnecke. Dienstags waren eine Autofahrt und ein langer Spaziergang im Sika-Wald an der Reihe. Mittwochs wanderte Lennart Wärlin in einem zügigen Tempo den Slalomhügel hinauf und weiter bis zum Björnö-Hof. Donnerstags und freitags hatte er seine sogenannten »freien Tage«. Samstags stand eine Wanderung hinaus nach Nothamn auf der Halbinsel Väddö auf dem Programm – Lennart Wärlins persönlicher Lieblingsweg – und sonntags ging er nach Frötuna in die Kirche.

      Nun war es Dienstagmorgen, und Lennart Wärlin saß auf einem Baumstumpf an einem See im Sika-Wald, von dem er glaubte, dass er Mörtsjö hieß. Er war sich nicht ganz sicher. Der Sika-Wald war voller Teiche und Seen, in denen kaum jemals jemand gebadet hatte oder auf denen jemals gerudert worden war.

      Ein Reiher landete auf dem gegenüberliegenden Seeufer. Lennart gefiel, was er sah. Das gab ihm Ruhe.

      Er hatte gerade sein zweites Wurstbrot aufgegessen, als ein weißer Lieferwagen auf dem ansonsten einsamen Kiesweg, nur hundert Meter von Lennarts Baumstumpf entfernt, hielt. Dann traf noch ein Wagen ein. Er sah, wie zwei Männer kleine Pakete aus dem Lieferwagen in den Kofferraum des zweiten Wagens umluden. Er glaubte zu erkennen, dass es sich bei dem zweiten Wagen um einen Volvo handelte. Lieferwagen konnte er nicht auseinanderhalten. Sie sahen alle gleich aus. Eine blöde Idee, dachte Lennart. Entweder hat man ein Auto oder man hat einen Lastwagen. Kleintransporter sind nichts Halbes und nichts Ganzes.

      Er stand auf und streckte sich. Es war noch früh am Morgen, und es würde ein schöner Frühsommertag werden.

      Erst jetzt bemerkten die Männer bei den Wagen, dass sie nicht allein waren. Sie winkten kurz zu Lennart hinüber, der fröhlich zurückwinkte. Lennart sah, dass sie eine Weile miteinander sprachen, ehe sie sich aufmachten, um zu ihm hinüberzukommen.

      Lennart blickte in seinen Rucksack hinein, holte seine Thermosflasche heraus und schüttelte sie. Ja, es würde auch noch für einen Schluck Kaffee für die Männer reichen.

      Eine Minute später erhob sich ein Reiher vom Ufer des Mörtsjö, aufgeschreckt durch einen Laut, den man sonst nicht so oft im Wald zu hören bekam.

      Lennart war beliebt. Er würde von vielen vermisst werden.

      Aber niemand würde ihn jemals finden.

      Robert Skogh war kein Dummkopf, selbst wenn die meisten seiner ehemaligen Freundinnen in diesem Punkt sicher anderer Meinung sein würden. Er hatte das Gymnasium mit einem guten Zeugnis abgeschlossen und die Berufswelt stand ihm offen, wenn er nur etwas zielstrebiger gewesen wäre. Genau da lag Roberts größtes Problem. Er konnte sich selten zu etwas aufraffen. Das störte ihn natürlich zuweilen, da er wusste, dass Erfolg von Energie abhing. Die allerdings war bei ihm nicht gerade im Überfluss vorhanden.

      Dämlich bin ich auf jeden Fall nicht, dachte er. Auch wenn er einsah, dass er einen ziemlich einfältigen Eindruck machte, am mahagonibraunen Tisch im Vernehmungsraum 2 auf der Polizeiwache von Norrtälje. Er war gekommen, um Hinweise zu geben. Jetzt saß er im Verhör.

      Und das, dachte Robert, war auf jeden Fall ziemlich bescheuert.

      »Blut auf der Jacke? Nein, das weiß ich nicht. Vielleicht habe ich mich geschnitten?«

      Er hörte selbst, wie albern das klang, wie dumm er sich ausdrückte. Er versuchte, sich etwas Besseres auszudenken – versuchte, einen Hergang der Ereignisse zu finden –, ihm fehlten jedoch die Worte. Nichts, was als Erklärung dafür herhalten könnte, warum er Blutspuren an seiner Jacke hatte. »In der Nacht zum Samstag? Ich kann mich an nichts erinnern«, sagte er, »es tut mir leid.«

      »Sagt dir der Name Lars Gustavsson etwas?«

      Robert musste nicht aufblicken, um die Stimme zu erkennen. Fatima Barsawi war hereingekommen. Die Freundin seiner Schwester Malin. Eine schöne Frau, der er gerne einen Platz in seinem Herzen eingeräumt hätte. Dort, wo gerade niemand wohnte, dachte er.

      Verständnislos schüttelte er den Kopf. »Nein, im Augenblick nicht. Aber hör mal: Ich würde doch nicht herkommen, wenn ich jemanden getötet hätte. Ich habe nur erzählt, was ich weiß.«

      Er hatte seine Stimme erhoben. Kriminalkommissar Harry Lindgren notierte den plötzlichen Gefühlsausbruch in seinem Notizbuch.

      »Ich habe davon in der Zeitung gelesen«, fuhr Robert fort. »Und ich dachte, ich könnte vielleicht behilflich sein.«

      »Bei was?«, fragte Harry Lindgren. »Du erinnerst dich ja an nichts.«

      Robert verstummte.

      »Es gibt ein Foto«, fuhr Harry Lindgren fort und legte einen Abzug auf den Tisch. »Das zeigt zwei Männer an der Kaimauer und ist in der Nacht von Freitag auf Samstag aufgenommen worden. Um 2:48 Uhr, um genau zu sein.«

      Robert betrachtete das Foto. Es schien, als ob es vom Societetspark aus aufgenommen worden war. Im Vordergrund sah man die Wasserfläche des Hafenbeckens, und im Hintergrund waren zwei Gestalten zu erkennen. Die eine Person war hell angezogen.

      »Erkennst du dich darauf?«, fragte Harry Lindgren.

      Robert betrachtete das Foto noch einmal. Dieses Mal sah er erstaunt aus.

      »Das könnte ich schon sein«, sagte er. »Aber ich weiß nicht. Genauso gut könnte es jemand anders sein.«

      Harry Lindgren seufzte, schaltete das Aufnahmegerät aus und stand auf.

      »Das hier ist zwecklos«, sagte er. »Ich muss mal auf