Erik Eriksson

Schärenmorde


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zu sehen. Dafür bemerkte sie einige von Malins alten Mitschülern aus dem Roden-Gymnasium. Einer von ihnen war jetzt Verkäufer. Ein flotter Kerl. Aber verheiratet.

      In ihrer Jackentasche summte das Handy. Schlechte Nachrichten. Das Labor in Linköping hatte einen Schnelltest durchgeführt und festgestellt, dass die Blutspuren auf Robert Skoghs Jacke größtenteils mit dem Blut des toten Mathematiklehrers Lars Gustavsson übereinstimmten.

      Fatima stand dort, drei Meter über dem Publikum, mit zwei Drinks in den Händen und sehnte sich plötzlich weit weg. Die Band sang von »Hinterhofprinzen und Prinzessinnen«. Genauso hatte ihr Vater sie genannt: meine kleine Hinterhofprinzessin. Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen. »Es wird alles gut werden, Fati«, hatte er gesagt, und sie in den Arm genommen. Schließlich hatte er sie in den Schlaf gesungen und ihre Tränen getrocknet, wenn sie seinen beruhigenden Worten nicht länger hatte glauben wollen.

      Sie seufzte und nahm einen großen Schluck Gin Tonic. Himmel, würde ich jetzt gerne eine rauchen, dachte Fatima, tupfte die verlaufene Wimperntusche unter den Augen weg und suchte unten in der Menge nach jemandem, der wie ein Raucher aussah. Nahe dem Mischpult, neben einem Kerl mit Zopf und Jacke, stand einer. Ein durchtrainierter Mann mit kurzem Haarschnitt, der ein Päckchen Zigaretten in der Hand drehte.

      In genau demselben Augenblick, in dem Fatima ihren Aussichtspunkt über der Bar verließ, erblickte auch Malin den Mann mit den Zigaretten in ihrer Nähe. Sie erkannte ihn wieder von dem Foto, das ihr Jimmy Mårtensson gemailt hatte. Offenbar hatte der Mann im Hafen herumgeschnüffelt, als Malin dort gewesen war. Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke. Dann ging alles ganz schnell. Mit dem dröhnenden Rock-Lärm in den Ohren hatte sich Malin vor dem Angriff des Mannes geduckt und war nach hinten gefallen. Der Tritt des Mannes war über sie hinweggegangen und hatte den Tontechniker im Nacken getroffen. Nur wenige konnten sehen, wie der kräftige Tontechniker nach vorne fiel, mit dem Kopf auf dem Mischpult aufschlug und das ganze Pult im Fallen mit sich riss. Plötzlich lag er einfach da und blutete stark. Die Band spielte noch ein paar Takte und hörte dann abrupt auf.

      Später würden mehrere Zeugen aussagen, dass es schien, als ob sie plötzlich in ein schwarzes Loch voller Schweigen gefallen seien, als die Musik verstummte. Es vergingen einige Sekunden. Einige würden sagen, dass fast eine halbe Minute verging, während andere meinten, die plötzliche Stille und der Ruf seien fast gleichzeitig gekommen. Im Nachhinein musste Fatima zugeben, dass das eiskalte Auftreten des kurzhaarigen muskulösen Mannes sie beeindruckt hatte. Nachdem sowohl Malin als auch der Tontechniker außer Gefecht gesetzt worden waren, hatte er sich umgedreht und mit lauter Stimme gerufen: »Es brennt«, und sich dann einen Weg durch den Saal nach draußen gebahnt.

      Alles war in der kurzen Minute geschehen, die Fatima gebraucht hatte, um die steile gewundene Eisentreppe vom Projektorraum hinunterzukommen. Die Musik war plötzlich verstummt und geblieben war das Stimmengewirr aus der voll besetzten Konzerthalle, das klang wie von einem schlaftrunkenen urzeitlichen Tier.

      Fatima kam die erste Welle von Leuten entgegen, die sich ziemlich verwirrt in Richtung Ausgang bewegte. Sie versuchte, sich durch den ständig zunehmenden Strom von Menschen zu drücken, um zu sehen, was passiert war. Ihren Polizeiausweis über den Kopf haltend, schrie sie: »Polizei, lassen Sie mich durch!« Das war jedoch vergeblich. Durch das Gedränge war der Ausgang verstopft worden, und Panik war in dem dunklen Saal ausgebrochen. Jemand hatte den Feueralarm ausgelöst.

      Ich muss Malin finden, dachte Fatima noch, ehe sie mit hinaus in den Sommerabend gedrängt wurde und sich draußen vor der Eingangstür an einer Glasscherbe schnitt. Dann zückte sie ihr Handy:

      »Kjelle, im Theater ist Panik ausgebrochen, möglicherweise Feuer, alarmiere alle!«

      Sie drückte das Gespräch weg und versuchte, Malin auf deren Handy zu erreichen. Nach drei Signalen schaltete sich die Mailbox ein.

      Malin Skogh lief die Lilla Brogatan entlang. Als der Mann an der Rögårdsgatan abbog, verlor sie ihn aus den Augen.

      6

      Malin blieb stehen. Sie hörte schnelle Schritte, die plötzlich aufhörten. Vielleicht war der Mann ebenfalls stehengeblieben, vielleicht wartete er irgendwo im Dunkeln auf sie. Sie wurde unsicher und versuchte zu horchen, aber sie war durch das Laufen außer Atem geraten und keuchte.

      Nach einigen Minuten drehte sie um und ging langsam über den Lilla Torget zurück bis zu dem Haus in der Hantverkaregatan, in dem sich ihre Wohnung befand. Der Samstagabend war vorbei, es war halb eins, Frühsommer, am Himmel begann es schon allmählich hell zu werden.

      Eine Woche war vergangen, seit ihr Bruder in das Unfassbare verwickelt worden war. Vielleicht gab es aber auch eine ganz einfache Erklärung für die Ereignisse. Malin war immer noch völlig davon überzeugt, dass Robert unschuldig war. Sie hatte begriffen, dass starke Indizien gegen ihn sprachen und entlastende Beweise fehlten. Gleichzeitig hatte sie jedoch das Gefühl, dass eine Erklärung in greifbarer Nähe lag. Sie dachte nicht daran aufzugeben. Sie und Robert hatten immer ein enges Verhältnis zueinander gehabt, sie wollte ihn nicht im Stich lassen, jetzt, da er wirklich Hilfe brauchte.

      Sie saß mit einer Tasse Tee am Fenster ihrer Dachgeschosswohnung und beobachtete, wie die dünnen Wolken am Himmel entlangzogen. Unten am alten Eckhaus gingen ein paar Nachtwanderer auf unsicheren Beinen vorbei. Das vibrierende Neonlicht der Namensschleife des Kinos weiter unten an der Stora Brogatan hatte in dem frühen Morgenlicht schon seinen Glanz verloren.

      Als Malin schlafen ging, war es zwei Uhr. Sie wachte jedoch nach einer Stunde schon wieder auf und konnte nicht wieder einschlafen. Jetzt erschien ihr wieder das Gesicht des Mannes, der sie fast an den Kopf getreten und stattdessen einen anderen Menschen getroffen hatte. Es war seine Absicht gewesen, sie zu verletzen und nicht den anderen armen Kerl, der zufällig im Weg gestanden hatte. Der Angreifer war ungeheuer schnell gewesen, hatte einen kräftigen Seitenhieb ausgeteilt, mit einer Sicherheit, die man erst nach vielem Üben erlangte.

      Malin selbst hatte zusammen mit Fatima Karate betrieben. Sie war eine Anfängerin, aber sie konnte den Unterschied zwischen einem Meister und einem Amateur erkennen. Dieser Mann war ein voll ausgebildeter Experte, vielleicht ein Soldat, im Nahkampf auf Leben und Tod trainiert. Als Malin während dieser Sekunde seinem Blick begegnet war, hatte sie Eiseskälte in seinen Augen gesehen. Das hatte ihr Angst gemacht.

      Der Montag begann mit leichtem Regen, der jedoch gegen acht Uhr schon wieder aufhörte. Malin hatte sich entschlossen; sie rief ihre für heute angemeldeten Kunden an und änderte die Termine. Dann ging sie ins Internet und suchte nach Namen und Adressen, googelte verschiedene Begriffe: Lotse, Fahrrinnen, Norrtälje Hafen, Schifffahrtsverwaltung, Silo, Hafenabgaben. Sie erhielt ständig neue Hinweise, sie suchte weiter, füllte mehrere Seiten mit Telefonnummern und Stichworten. Sie telefonierte, fragte, erhielt manchmal Antwort, manchmal nicht. Telefonierte weiter und näherte sich so immer mehr dem Frachtschiff, das es an diesem fatalen Samstag so eilig gehabt hatte zu verschwinden.

      Als sie die Lotsenstation von Kapellskär anrief, stellte sie sich als freiberufliche Journalistin vor, die einen Artikel über ausländische Schiffe schreiben wollte, die in der letzten Woche die Häfen an der Küste von Roslagen angelaufen hatten. Sie wurde mit einem der Lotsen verbunden, Alvar Vantanen. Er hatte einiges zu erzählen. Das Gespräch kam schnell auf ein ungewöhnliches Schiff, Melchior, 1800 Tonnen, registriert in Liberia. Vantanen hatte die Melchior in den Hafen von Norrtälje gelotst.

      »Dann fuhren sie plötzlich ohne Lotsen weg, und das erfordert eine gute Erklärung, sonst fällt eine saftige Geldstrafe an.«

      »Wann sind sie denn weggefahren?«

      Vantanen wusste es nicht, sie waren jedoch recht sonderbar. Alle sprachen russisch, nur der Kapitän konnte ein paar Worte Englisch. Aber Vantanen hatte gehört, wie sich zwei von ihnen auf Schwedisch unterhalten hatten, und als er sie ansprach, taten sie so, als ob sie nichts verstünden.

      »Sie kamen aus Sankt Petersburg, wohin sie jedoch nach dem überstürzten Aufbruch fahren wollten, wissen wir nicht.«

      »Merkwürdig, oder?«

      »Ja, etwas seltsam war das schon.