Erik Eriksson

Schärenmorde


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oder Lesegeräte?«, fragte Ronald.

      Er war vom Stuhl aufgestanden, war um den Schreibtisch herumgegangen und hatte sich mit gekreuzten Armen auf die Schreibtischkante gesetzt.

      Er scheint in Ordnung zu sein, dachte Elias und überlegte, ob er Ronald seinen Fund zeigen sollte, als sich die Tür öffnete und eine Frau hereinkam. Ronald trat auf sie zu, reichte ihr die Hand, während er Elias zunickte.

      »Hallo, guten Tag. Ronald Schneider. Und Sie sind Kerstin Söderström, nehme ich an.«

      Elias blieb noch einen Augenblick stehen, während die Frau Ronald gegenüber Platz nahm.

      Als Ronald begann, über Server und Computersysteme zu sprechen, verschwand Elias vorsichtig rückwärts durch die Tür.

      Er war schon auf dem Weg in Richtung Spielzeugladen, als er Ronald rufen hörte: »Wiedersehen, Elias. Komm doch ein anderes Mal wieder, dann können wir weiterreden.«

      Donnerstagnachmittag. Bald Ende der Arbeitswoche.

      Harry Lindgren nahm einen Schluck Kaffee und schüttelte sich. Rattengift, dachte er und ließ seine Gedanken schweifen.

      Das letzte Wochenende war schön gewesen. Am Sonntag hatte er zusammen mit seinen Enkeln Malte und Ruben auf einer Felsplatte unter der Svartnöbrücke gestanden und Heringe geangelt. Zwei Wildfänge, die es geschafft hatten, einen ganzen Eimer mit silberglitzernden Fischen zu füllen, ohne sich mehr als nötig in den Leinen zu verfangen. Glück gehabt, dachte er.

      Morgens hatte er den Weg über Södra Bergen zur Polizeiwache genommen. An der Balustrade hinter der Bergstugan war er stehen geblieben und hatte über das Wasser der Norrtäljebucht geblickt bis hin zum Turm des Silos, der immer noch stand. Er hatte die Lachmöwen kreischen gehört, den Duft von Flieder eingeatmet und gedacht, dass es nicht viel besser sein könne, als es war.

      Glück.

      Jetzt saß er am Schreibtisch und dachte über das nach, was in den letzten Wochen passiert war.

      Es gab einen Rentner, der ebenso spurlos wie unerklärlich verschwunden war. Jetzt rief die Familie jeden Tag an und forderte Aufklärung. Zu Recht.

      Vor allem jedoch gab es den Mord an Lars Gustavsson, der in Harry Lindgrens Augen nicht geklärt war. Er war weit entfernt von der Überzeugung, dass Robert Skogh schuldig war, trotz des Blutes auf seiner Jacke. Das Frachtschiff, das Hals über Kopf abgefahren war, ließ darauf schließen, dass es bei dieser Geschichte noch mehr Verwicklungen gab.

      Er wusste auch nicht, was er von dem Überfall halten sollte, den Robert Skoghs Schwester angezeigt hatte. Und was hatte sie eigentlich auf dem Turm des Silos zu suchen?

      Harry Lindgren seufzte und rief Fatima Barsawi an.

      »Wir müssen Skogh noch einmal vernehmen. Ich bin sicher, dass er mehr weiß, als er gesagt hat. Er kann wohl nicht so dumm sein, wie er wirkt. Und wir müssen auch noch einmal mit der Schwester sprechen.«

      Malin Skogh sank nach einem anstrengenden Arbeitstag in den Korbstuhl im Flur. Der Frühsommer war immer eine hektische Zeit im Salon »Hårklipparna«. Plötzlich wollten alle einen Termin haben, um sich für eine Konfirmation, eine Hochzeit, Abiturfeiern oder andere Festlichkeiten schön machen zu lassen. Schneiden, Waschen, Föhnen, Färben, Steckfrisuren, Dauerwellen und und und, es nahm kein Ende.

      Ich darf nicht aufgeben, dachte sie. Ich muss weiterkommen.

      Sie hatte mit Roberts Rechtsanwalt Tomas Fredriksson gesprochen, der sie darauf vorbereitet hatte, dass Robert wahrscheinlich verlegt würde. Es sieht nicht besonders gut aus, hatte er gesagt.

      Als sie ihren Kopf in die Hände stützte, bemerkte sie das Holzstück, das seit der Joggingrunde mit Fatima auf dem Tisch gelegen hatte. Ich kann nicht einmal mehr aufräumen, dachte sie und hob es auf.

      Sie drehte und wendete es und betrachtete die russischen Buchstaben. Merkwürdig, dachte sie. Die Besatzung des Frachters, der Mann, mit dem Fatima zusammengestoßen war, und jetzt diese Buchstaben.

      Sie dachte daran, wie ihre Mutter sich mit Leonard Cohen zu trösten pflegte, wenn alles düster aussah.

      Ann-Marie Skogh hatte eine schwere Zeit durchgemacht, nachdem ihr Mann Tommy sie verlassen hatte und zu einer anderen Frau nach Halmstad gezogen war. »Aber das Licht kommt immer zurück, Malin«, hatte Ann-Marie gesagt und immer wieder die beiden Zeilen von Cohens »Anthem« wiederholt: »There is a crack in everything, that`s how the light gets in«.

      Sie hat Recht gehabt, dachte Malin. Als die Kinder erwachsen waren, hatte sich Ann-Marie von ihrer Stelle als Krankenschwester im örtlichen Krankenhaus beurlauben lassen und sich bei den Ärzten ohne Grenzen beworben. Jetzt befand sie sich auf Haiti und erzählte, wenn sie über Skype miteinander sprachen, dass sie glücklich sei, etwas Sinnvolles zu tun.

      »That’s how the light gets in«, flüsterte Malin leise für sich selbst, zog die Joggingschuhe an und trat hinaus in den milden Frühsommerabend.

      Sie ging die Hantverkaregatan hinunter zum Hafen, wich zwei Teenagern aus, die auf ihren Skateboards angerauscht kamen und merkte, wie ihr Puls anstieg, als sie sah, dass ein Frachtschiff am Kai ankerte. Aber es war nicht die Melchior, sondern nur eines der üblichen Lastschiffe. Sie lief eine Weile im Hafen herum, ohne zu wissen, wonach sie eigentlich suchte, sah, wie sich ein Segelschiff in der Abendsonne näherte und eine Gruppe von Leuten, die im Park gegenüber Ball spielten.

      Sie hatte das Stück Holz in die Tasche gesteckt und berührte es vorsichtig. Russische Buchstaben. Ich muss es Fatima zeigen, dachte sie.

      Als sie zurück in die Stadt ging, hatte sie das Gefühl, nicht allein zu sein. Sie drehte sich um, aber es war nur eine dicke, außer Atem geratene Frau mit einem hechelnden Labrador. Hör auf, dir etwas einzubilden, dachte sie, als sie den Parkplatz am Hotel überquerte und weiter in Richtung Lilla Torget ging.

      Sie wollte am Theater vorbeigehen, ohne richtig zu wissen warum, und sie wählte die Fußgängerbrücke. Als sie an der graugrünen Tür der Freimaurer vorbeikam, blieb sie stehen und betrachtete deren Symbol. Es gibt so viele Geheimnisse auf der Welt, dachte sie. So viel, was man nicht weiß und nicht versteht.

      Da fühlte sie plötzlich eine Hand auf ihrer linken Schulter und einen warmen Atem, der ihr ins Ohr flüsterte: »Ganz ruhig. Du kommst jetzt mit mir.«

      10

      In vielen Strafsachen gelangen die Ermittler irgendwann an einen Punkt, von dem aus sie und die Öffentlichkeit plötzlich in eine gänzlich neue Richtung schauen. Dinge, die zwar von Anfang an bekannt sind, aber eher am Rande wahrgenommen werden, rücken schlagartig in den Fokus und die Ermittlung nimmt neue Wege.

      Man kann nicht voraussagen, wann das passiert. Es ist ein wenig so wie bei diesen verdammten Wildschweinen, wenn sie wie aus dem Nichts auftauchen und über die Straße donnern. Und es ist durchaus nicht angenehm, wenn zweihundert Kilo kompaktes Schwein auf die Motorhaube krachen.

      Kriminalinspektor Keith Holtha nahm den Fuß vom Gaspedal und blickte in den Rückspiegel.

      Hansson und Randin drängten sich auf dem Rücksitz zusammen. Das war durchaus keine optimale Situation, aber an diesem Abend war in der Täbygarage kein anderes Farhrzeug zu haben gewesen. Das Derby in Råsunda und eine Studentendemonstration auf dem Valhallavägen hatten es notwendig gemacht, den Kollegen auszuhelfen. Als Norrtälje mit seiner verspäteten Anfrage kam, mussten sie sich mit dem begnügen, was noch aufzutreiben war.

      Das verflixte Schiff lag ja schon mindestens einen halben Tag im Hafen. Man musste nur noch über die Reling klettern und die Papiere kontrollieren.

      Holtha war von Fatima Barsawi kurz über die Lage in Kenntnis gesetzt worden. Sie kannten einander von der Polizeihochschule. Er war an ihr interessiert gewesen. Sie hatte sich nur für das Thema interessiert, über das er einen Vortrag gehalten hatte: Strategien zum Umgang mit Demonstranten. Sie hatte mit einem gewissen Nachdruck behauptet, dass die Polizei in Göteborg das meiste falsch gemacht hatte. Er stimmte nicht zu, meinte jedoch, dass sie in einigen Punkten Recht hatte