Erik Eriksson

Schärenmorde


Скачать книгу

Fatima kannte Robert. Sie wusste auf jeden Fall, wer er war. »Lass mich einen Versuch machen, wenn es nicht klappt«, hatte sie gesagt.

      Lindgren blickte über die Schulter zurück und verließ den Raum.

      »Möchtest du Kaffee?«, fragte Fatima.

      »Ja, gerne«, sagte Robert.

      Sie traten auf den Flur hinaus und gingen bis zu einem Raum mit einer Kochnische und einer Kaffeemaschine, die einen schwer genießbaren, aber zweckmäßigen Kaffee hervorbrachte. Durch das Fenster konnte Robert den Verkehr auf dem Stockholmsvägen sehen, und er beobachtete, wie die Schlange vom Hotel Esplanade her immer länger wurde, als ein Autofahrer nach dem anderen verzweifelt versuchte, sich in den zunehmenden Sommerverkehr auf der Durchgangsstraße einzuordnen. An der Tankstelle stand eine Frau mit einem Kind an der Hand und nahm sich viel zu viel Zeit am Kartenautomaten. Robert konnte sehen, wie sich die Leute in der hinter ihr wartenden Schlange darüber aufregten. An der Schwimmhalle marschierten Kindergartenkinder in Reih und Glied durch die Tür zum Schwimmunterricht. Einen kurzen Moment lang erblickte er einen Mann, der an der Ecke der Schwimmhalle stand und fragte sich, was der dort zu suchen hatte. Er fühlte sich plötzlich unangenehm berührt.

      Fatima stellte sich neben ihn und reichte ihm eine Tasse Kaffee.

      »Wir müssen dich hierbehalten«, sagte sie. »Deine Geschichte klingt ziemlich diffus, und wir müssen die Blutflecken untersuchen.«

      Robert nickte.

      »Das verstehe ich«, sagte er. »Aber ich bin mir fast sicher, dass ich nichts getan habe.«

      »Fast sicher?«

      »Ja.«

      »Robert«, sagte Fatima. »Möchtest du, dass ich jemanden anrufe?«

      »Ja, ruf Malin an. Erzähl ihr, was passiert ist.«

      Der gepflegt gekleidete Mann war sowohl zufrieden als auch äußerst unzufrieden. Zufrieden darüber, dass er Robert auf der Polizeiwache gesehen hatte. Unzufrieden allerdings, dass auch dieser ihn bemerkt hatte. Das hätte nicht passieren dürfen. Das war ein Fehler, der einem Profi wie ihm nicht hätte unterlaufen dürfen. Er war sichtlich irritiert. Er ging mit schnellen Schritten am Fluss entlang und stieß ab und zu kleine Steine hinein, die hungrige Stockenten für Brotkrümel hielten. Auf jeden Fall hat er keine Ahnung, wer ich bin, dachte er. Er hat mich gesehen, aber er weiß nicht, was er gesehen hat.

      Die Überlegung beruhigte ihn.

      Er ging über die Brücke am Kraftwerk und setzte sich auf eine der Bänke in dem kleinen Park. Er holte sein Handy heraus und wählte eine Nummer.

      »Ich bins«, sagte er. »Wie ging es im Wald?«

      »Problem gelöst«, wurde ihm geantwortet. »Die Waren sind geliefert worden.«

      »Gut«, sagte der Mann auf der Parkbank, drückte das Gespräch weg und blinzelte in die Sonne.

      Es war ein recht schöner Frühsommertag, trotz allem.

      4

      Es ist wahr, dachte Malin Skogh. Es ist wahr, dass einem schwarz vor Augen wird, wenn man etwas richtig Schreckliches erfährt. Es ist wahr, dass man in der Luft hängt, als ob der Erdboden plötzlich verschwunden sei.

      Sie war mitten auf dem Bergsbacken auf ein Mäuerchen gesunken, hielt das Telefon ans Ohr gedrückt und flüsterte: »Das kann doch nicht wahr sein.«

      »Doch, das ist es. Malin, du musst mir zuhören.«

      Fatima Barsawi wusste, wie sich Schmerz anfühlt, wie Trauer und Verluste sich ins Herz brannten und dort wie ein wütendes Tier mit spitzen Zähnen nagten. Das hatte sie früh gelernt, während des letzten Jahres im Irak, als der Bruder ihrer Mutter verschwand und die Augen der Mutter erloschen. Und während der Flucht, als die Angst die Familie Barsawi wie ein eiskalter Schatten verfolgte und die Erinnerung an all das, was verloren gegangen war.

      Jetzt galt es vor allem, ruhig zu bleiben. Zu atmen, zu überlegen.

      »Malin, hör zu. Das, was ich sage, ist wahr. Robert ist verhaftet. Er steht im Verdacht, Lars Gustavsson getötet zu haben. Mehr darf ich nicht sagen. Jedenfalls im Augenblick nicht. Er bekommt aber einen Anwalt, heute oder morgen.«

      Fatima überlegte eine Weile, ehe sie fortfuhr: »Es ist so – aber du darfst nicht sagen, dass du das von mir erfahren hast –, dass auf Roberts Jacke Blutflecken gefunden wurden. Und er kann sich nicht erinnern, was er in der Nacht im Hafen gemacht hat. Ich weiß, dass es für dich sehr schwer ist. Ich würde gerne rüberkommen, aber ich muss heute Abend arbeiten.«

      »Ich komme zurecht, bestimmt. Aber danke, dass du angerufen hast. Danke auch, dass du es mir gesagt hast. Ich weiß, dass du nicht so viel sagen darfst. Das ist in Ordnung. Ich muss jetzt …«, stieß Malin heraus und drückte das Gespräch weg, ehe die Tränen zu laufen begannen.

      Robert, dachte sie. Oder Ro-Bert, wie er genannt wurde, als er in die erste Klasse ging, mit einer Art Anknüpfung an Vaters Freund Onkel Bert. Robert, den sie bei all seinen zerplatzten Liebesgeschichten und seinen halbherzigen Versuchen, etwas Ordentliches zu werden, gestützt hatte. Der kleine Bruder, dem die Scheidung der Eltern stark zugesetzt und der angefangen hatte, ein bisschen zu viel zu feiern, der jedoch nie in eine Schlägerei verwickelt gewesen war. Nie.

      Robert, der sich zusammengenommen hatte und für Malin dagewesen war, als sie nach einer Trennung vor ein paar Jahren in ein schwarzes Loch gefallen war. Ruf mich jederzeit an, Schwester, ich bin immer da, hatte er gesagt.

      Er hat niemanden getötet, dachte Malin. Und jetzt ist er derjenige, der Hilfe braucht.

      Der Mann im dunklen Anzug trat auf den Balkon hinaus, lehnte sich vor und spähte hinunter auf die Parkschule. Er trommelte auf das Geländer und wandte sich zurück zum Wohnzimmer.

      »Wo ist er? Ich gehe davon aus, dass ihr das hier ernst nehmt«, sagte er und betrachtete den bedeutend jüngeren Mann auf dem Sofa. Jeans. Gesprenkeltes T-Shirt, das sich über den muskulösen Armen spannte. Kurzgeschnittene Haare. Stark, aber nicht besonders helle, stellte er fest.

      »Wir haben Probleme«, fuhr er fort und kam zurück ins Zimmer. »Ihr seid gesehen worden. Zuerst im Hafen, dann im Wald. Ich weiß, dass ihr euch darum gekümmert habt, aber das war nicht gut. Und der Mann, der bei der Polizei verhört wird, erinnert sich vielleicht an euch.«

      »Wir können uns auch um ihn kümmern«, murmelte der Mann im T-Shirt.

      »Njet grasjnojo raboty«, sagte der Mann im Anzug.

      »Was?«

      »Eine russische Redensart. Es gibt keine schmutzigen Arbeiten. Nur schmutzige Gewissen. Es gibt noch mehr Probleme. Irgendjemand hat ein Foto von dir und dem Alten gemacht, das stand in der Zeitung. Ihr müsst herausfinden, wer das war«, fuhr er fort.

      »In Ordnung. Kein Problem.«

      »Noch etwas. Adam hat mich benachrichtigt, als er die Lieferung erhalten hat. Es fehlt ein Karton. Ihr habt wohl nicht angefangen, eigene Geschäfte zu machen, du und dein Kumpel?«

      »Aber nein, zum Teufel, das weißt du doch. Niemals«, antwortete der Kurzhaarige, während er auf dem Sofa hin und her rutschte.

      »Wo ist er denn dann? Es sind wichtige Teile drin.«

      »Weiß ich nicht. Wir haben ihn vielleicht im Hafen verloren; es wurde turbulent, als der Alte aus dem Boot auftauchte und fragte, was wir da machen. Und dann kam dieser junge Bursche herangetorkelt. Wir mussten verschwinden, nachdem wir den Alten fertig gemacht hatten.«

      »Findet den Karton. Du weißt ja, was sonst passiert«, antwortete der Mann im Anzug.

      Der Bau im Hafen war kürzlich nach langen aufreibenden Diskussionen in Gang gekommen. Unterschriftenlisten und Demonstrationen hatten nichts genützt, jetzt sollten Teile der alten Gebäude abgerissen werden, um Platz für teure neue Wohnungen zu schaffen. Eine Hammarby-Seestadt, die nicht nach Norrtälje passe, meinten die Kritiker, auch wenn sie zufrieden