Andreas Pittler

Mischpoche


Скачать книгу

Tatsächlich wehten vor den Toren die Fahnen, die das Abhalten einer Sitzung signalisierten, und Bronstein fragte sich, ob sich wirklich Deputierte in den Hallen finden würden. Über die Rampe zog der Zug der Kriminalisten in die Säulenhalle ein und wandte sich dort nach links, um zum Sitzungssaal des Nationalrates zu gelangen. Instinktiv griff Bronstein nach seiner Taschenuhr. Zwei Minuten nach zwei Uhr nachmittags.

      Gedämpfter Lärm drang durch den schmalen Gang, und unwillkürlich sah Bronstein auf. Tatsächlich, eine namhafte Gruppe von Mandataren schickte sich eben an, den Plenarraum zu betreten. Steinhäusl hatte in der Zwischenzeit die Hälfte seiner Leute diverse Ausgänge besetzen lassen und befahl einem weiteren Dutzend, in der Säulenhalle Aufstellung zu nehmen. Mit gut 30 Kollegen sah sich Bronstein nun vor der großen Türe zum Präsidium stehen, die weit offen stand. Er schob sich an einigen Beamten vorbei und warf einen Blick in das Plenarrund. Die Reihen der Roten waren fast vollzählig gefüllt, und auch auf der rechten Seite blieb kaum ein Stuhl leer. Steinhäusl gab hektisch diverse Befehle, während sich Bronstein an den Türrahmen lehnte. Direkt unter seinen Augen huschte ein Mann vorbei, in dem er den Abgeordneten Forstner erkannte. Freundlich nickend zwinkerte er ihm zu, wobei er ansatzweise mit den Schultern zuckte. Forster, der seinerseits Bronstein erkannte, erwiderte die Geste und sah zu, dass er zu seinem Sitzplatz kam. Plötzlich öffnete sich die Pforte zum ehemaligen Speisesaal, und Bronstein wurde der Abgeordneten Gabriele Proft ansichtig. Mit einer galanten Bewegung seiner rechten Hand ließ er auch sie durch. Just in diesem Augenblick, die Proft nahm gerade die letzte Stufe hinab zur Rostra, fiel Steinhäusl auf, was hinter seinem Rücken vorgegangen war.

      »Sind Sie komplett verblödet, Mann? Wir sollen die Sitzung verhindern, nicht ermöglichen!« Bronstein bemühte sich um einen dämlichen Gesichtsausdruck und zuckte abermals mit den Schultern. Steinhäusl setzte zu einem Schreianfall an, doch Bronstein nickte über dessen Kopf hinweg in Richtung des Ganges. Dort kamen der Wiener Bürgermeister und einer seiner Stadträte herbeigeeilt.

      »Halt! Hier gibt es kein Durchkommen!«, belferte Steinhäusl und verhinderte, dass Seitz mit seinem Kompagnon in den Saal gelangte.

      »Junger Mann, ich war schon unter dem Kurienwahlrecht Abgeordneter. Da werd’ ich mir jetzt nicht den Zutritt zum Plenum verbieten lassen«, entgegnete Seitz mit nasalem Schönbrunner Deutsch und schickte sich an, Steinhäusl zu passieren. Steinhäusl, der fünf Tage zuvor feuchtfröhlich seinen 54. Geburtstag gefeiert hatte, blieb die Luft weg. »Was … erlauben Sie … sich?« Er trat eilig drei Schritte zurück, um sich Seitz erneut in den Weg stellen zu können. »Das hier ist eine … untersagte Kundgebung. Sie … dürfen nicht …!«

      »Wer sagt das?«

      Automatisch zückte Steinhäusl die schriftliche Weisung, die Brandl von Dollfuß erhalten und an Steinhäusl weitergereicht hatte. Wie selbstverständlich nahm sie Seitz an sich, betrachtete sie kurz und meinte dann: »Sehr schön. Das geb ich dem Präsidenten! Das wird Folgen haben, mein Lieber. Darauf können S’ Gift nehmen!« Sprach’s und ließ den entgeisterten Steinhäusl stehen. Der brauchte einige Atemzüge, bis er sich wieder gefangen hatte. »Rote … Judensau!«, brüllte er.

      »Entschuldigung, Herr Hofrat«, mischte sich Bronstein ein, »der Seitz, der ist kein Jude!«

      »Wer a Jud’ ist, bestimm’ i.«

      »Lueger.«

      »Wos?« Abermals war Steinhäusl verwirrt.

      »Das hat der Lueger g’sagt. Das mit dem Juden.«

      Erneut schnappte Steinhäusl nach Luft. Für einige Sekunden wirkte er wie ein Fisch auf dem Trockenen, so hektisch öffnete und schloss sich sein Mund. »Aus meinen Augen … Sie … Missgeburt!«, schrie er so laut, dass die anderen Beamten zusammenzuckten. Bronstein zuckte zum dritten Mal mit den Schultern und begab sich beinahe schlendernd zum Seiteneingang des Plenarsaals. Von seinen Kollegen unbehindert, trat er durch die Pforte und befand sich mit einem Mal unmittelbar hinter den großdeutschen Mandataren. Präsident Straffner begründete, weshalb er sich im Recht wähnte und kündigte sodann, die Weisung des Kanzlers effektvoll durch den Raum schwenkend, an, wegen Versuchs einer gewaltsamen Verhinderung der Sitzung des Nationalrates Anzeige gemäß Paragraph 76 StGB erstatten zu wollen. Unmittelbar danach erklärte er die Sitzung für geschlossen, und beide Ränder des Halbkreises erhoben sich, um mehrmals »Hoch die Verfassung!« zu rufen. Bronstein kam gar nicht mehr dazu, in den Gesichtern der Anwesenden zu lesen, denn in atemberaubender Geschwindigkeit leerte sich die Örtlichkeit, und ehe er es sich versah, war er allein in dem geschichtsträchtigen Gemäuer. Er ließ seinen Blick über die Statuen griechischer Philosophen schweifen, dann zuckte er zum vierten Male mit den Schultern und trat schließlich auch auf den Gang.

      Als er zwei Stunden später wieder in seinem Büro eintraf, war von Cerny keine Spur zu finden. Bronstein meinte denn auch, für einen Tag genug getan zu haben, und verließ das Amt umgehend. Der Heimweg erwies sich als erstaunlich lang, denn vom ›Kupferdachl‹ über das ›Central‹ und das ›Herrenhof‹ bis zur ›Bierklinik‹ machte er in jedem Lokal Station, das sich zwischen seiner Arbeits- und seiner Schlafstelle befand. Am nächsten Morgen konnte er sich auch beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, wie er in sein Bett gefunden hatte.

      Mit hämmernden Kopfschmerzen sank er auf seinen Bürostuhl.

      »Und?«, fragte er Cerny unter Aufbieten aller Kräfte, »wie war’s bei euch?«

      »Du glaubst es nicht. Der Brandl hat das wirklich durchgezogen. Wir überbrachten der Heimwehr die Aufforderung, sofort das Gebäude zu räumen, und die haben sich tatsächlich zurückgezogen.«

      »Einfach so?«

      »Einfach so!«

      Bronstein nickte.

      »Aber hast schon g’hört, was heute passiert ist?«

      »Nein, was denn?«

      »Der Brandl ist glatt pensioniert worden. Buchstäblich von heut’ auf morgen. Der Dollfuß hat so einen Haßn auf ihn, dass er ihn via Bundespräsident sofort in den Ruhestand hat versetzen lassen!«

      »Der ist doch erst 58!«, entfuhr es Bronstein.

      »Weißt eh, wie’s ist. Das Alter ist wurscht, wenn’s um die Politik geht.«

      »Na ja, a scho wos!«

      »Sag das ned. Wer weiß, wer jetzt kommt… Und vor allem: Wer weiß, was jetzt kommt.«

      »Was soll schon kommen? Alles bleibt, wie’s ist.«

      Bronstein bemühte sich redlich, Bestimmtheit in seine Stimme zu legen. Doch er wusste genau, dass die letzten beiden Sätze nicht der Wahrheit entsprachen. Aber darüber wollte er nicht nachdenken, denn sonst hätte er sich unweigerlich erneut die Frage stellen müssen, wie es überhaupt so weit hatte kommen können. Diese 14 Jahre, sie waren buchstäblich wie im Flug vergangen, und in der Rückschau wirkte 1919 wie Ostern und Weihnachten gleichzeitig. Damals hatten alle euphorisiert gewirkt, so als hätte der berühmte Onkel aus Amerika ihnen gerade eine Millionenerbschaft vermacht. Selbst er war von der neuen Republik begeistert gewesen – zumindest so lange, bis ihm Jelka abhanden gekommen war. Jelka! Merkwürdig, dass er plötzlich und unvermutet zum zweiten Mal innerhalb von 24 Stunden an sie denken musste. Vielleicht, wenn alles anders gekommen wäre, dann säße er heute gleich Cerny als Familienvater an seinem Schreibtisch, doch so besaß er nichts außer seinen Erinnerungen. Und die waren auch schon reichlich trübe. So trübe wie die Zukunftsaussichten.

      »Was hast denn? Du schaust so komisch drein«, fragte Cerny in die entstandene Stille.

      »Ach, ich glaub’, ich muss g’rad ein bisserl sentimental werden. Kümmere dich einfach nicht darum.«

      1919: Entscheidung in der Hörlgasse

      »Jetzt gehst du aber zu weit!« Bronstein beugte sich über den Tisch und sah Jelka direkt an. »Du kannst doch nicht ernsthaft behaupten, das Heute wäre genauso schlimm wie das Gestern! Kannst du dich nicht mehr daran erinnern, wie das vor dem Kriegsende war?«

      Bronstein war des ewigen politischen