Andreas Pittler

Mischpoche


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bedeutete für sie einen Rückschritt, weil mindestens zwei oder drei Schritte nach vor hätten gemacht werden müssen, und über all dem thronte die grundlegende Erkenntnis, dass sich ohnehin nichts geändert habe und eine Herrschaft so widerwärtig sei wie die andere.

      »Deine eigenen Leute«, begann Bronstein von Neuem, weil er Jelkas Sätze nicht unbeantwortet im Raum stehen lassen wollte, »wären in der Monarchie samt und sonders hinter Kerkermauern verschwunden, wo man, so nebenbei bemerkt, dafür gesorgt hätte, dass sie, wenn sie nicht ohnehin verrotteten, von irgendwelchen gedungenen Schlägern gebrochen werden. Jetzt kann jeder seine Meinung sagen! Jetzt herrscht Demokratie, jetzt sind wir alle gleichermaßen frei.«

      »Das glaubst du doch selbst nicht«, schnaubte Jelka, und ihre Wangen glühten in jenem Rot, das auch die Fahnen ihrer Partei zierte. »Dass wir heute demonstrieren dürfen, liegt doch nur daran, dass sich die Bourgeoisie vor uns fürchtet. Nicht vor dir oder mir natürlich, sondern vor der Masse, die sie im Augenblick nicht kontrollieren kann. Aber glaube mir, sobald die Herrschenden wieder Oberhand gewonnen haben, ist es vorbei mit deiner Freiheit und deiner Demokratie.«

      »Aber wieso«, Bronstein machte eine Geste, die sein Unverständnis unterstreichen sollte, »das ist doch gerade das Geniale an der Demokratie. Genau solche Tendenzen kann man durch entsprechendes Engagement von vornherein im Keim ersticken.«

      »Aber geh«, Jelka winkte ab, »wie soll denn das gehen, bitte schön?«

      »Na, indem man sich auf die Hinterbeine stellt«, beharrte Bronstein.

      »Ah, du tätst das machen?«

      »Wenn ich davon überzeugt wäre, dass etwas falsch läuft, sicher!«

      Jelka lächelte milde: »Dann ist also in der Monarchie doch nichts falsch gelaufen?«

      »Wie meinst jetzt nachher das?«

      »Ich kann mich nicht erinnern, dass du dich vor 1918 auf die Hinterbeine gestellt hättest!«

      Bronstein schluckte. Damit hatte Jelka nicht unrecht. Er suchte nach einer Erklärung: »Ja, damals«, fing er umständlich an, »da war ich ja noch dumm und unwissend. Heute würde mir so etwas nicht mehr passieren.«

      Jelka legte den Kopf schief und sah Bronstein lange an: »Du glaubst das sogar, gell?!«

      »Ja, sicher«, übte er sich in Überzeugung.

      »Noch ehe der Hahn dreimal kräht …«

      »Was soll das jetzt?« Bronstein spürte, wie er ernsthaft zornig wurde.

      »Ich sag’ dir was: wenn es darum geht, ob irgendein Missstand fortbesteht oder deine Karriere, dann wirst du dich immer für Letzteres entscheiden. Und – Moment, lass mich ausreden – das nehme ich dir auch gar nicht übel. Jeder würde so entscheiden. Aber genau deshalb sind Revolutionen bisher immer gescheitert. Man macht ein kleines, scheinbar unbedeutendes Zugeständnis hier, toleriert einen angeblich vernachlässigbaren Missstand da, und ehe man es sich versieht, ist man selbst Teil des Sumpfes, der einst Monarchie gerufen wurde und sich jetzt Demokratie nennt. Und das Faszinierende daran: das geschieht ganz schleichend. Du merkst es selbst gar nicht, hältst dich immer noch für ehrlich und integer. Aber in Wirklichkeit bist du längst schon Teil des Krebsgeschwürs, welches das Volk zerfrisst. Denn das Sein, David, bestimmt das Bewusstsein. Wer der Herrschaft dient, ja, wer ihr auch nur gefallen will, der ist selbst Teil der Herrschaft – und damit ein Übel für das Volk.«

      Bronstein schlug mit der flachen Hand auf den Tisch: »Jetzt reicht’s aber. Das muss ich mir nicht sagen lassen. Ich habe noch nie etwas getan, wozu ich nicht stehen konnte.«

      »Vielleicht noch nicht. Aber dann kannst du auch nicht wissen, wie du reagieren würdest, wenn du vor eine solche Entscheidung gestellt würdest.«

      Bronstein unterdrückte einen Fluch.

      »Erinnere dich an den Gründonnerstag«, fuhr Jelka fort, »da haben Arbeitslose vor dem Parlament demonstriert, und deine Kollegen haben die Menge zusammenschießen lassen.«

      »Ja, weil sie das Parlament abfackeln wollten, das ist ja etwas völlig anderes«, brauste Bronstein abermals auf, »da muss man natürlich einschreiten. Aber das hat ja auch nichts mehr mit Demokratie zu tun… Die haben sogar die Pferde der berittenen Truppe getötet«, fügte er mit bitterem Ton hinzu.

      »Die an Ort und Stelle von Passanten verspeist wurden, weil in deiner Demokratie ja für alle Milch und Honig fließen.«

      »Du weißt genau, dass das der Hinterlassenschaft der Monarchie geschuldet …, ach was, das wird mir jetzt zu blöd. Ich stell mich da nicht länger hin!«

      Er stand auf und trat in den Flur, um sich ausgehfertig anzukleiden: »Wir sehen uns«, rief er in die Küche, »wennst wieder runtergekommen bist von dem Baum, den du da aufgestellt hast.«

      »Ja, aber nur, wenn deine Kollegen mich lassen!«

      Bronstein ging noch einmal in die Küche zurück: »Was soll das schon wieder heißen?«

      »Das soll heißen, dass wir heute, wie du es nennst, demonstrieren. Und dann werden wir ja sehen, wo du mich sehen wirst: hier, im Kriminal, im Leichenschauhaus …, alles ist möglich!«

      »Weißt was? Du kannst mir den Hobel ausblasen mit deinen ewigen Provokationen! Ich geh jetzt ins Büro. Weil, ein ehrlicher Mensch hat eine ehrliche Arbeit. Der hat keine Zeit zum Demonstrieren!« Ohne eine Antwort abzuwarten, trat er in den Gang und knallte die Tür zu.

      Wie immer, wenn er sich mit Jelka gestritten hatte, fühlte sich Bronstein den ganzen Tag über hundeelend. Am liebsten hätte er alles liegen und stehen gelassen, um zu ihr zu laufen und sich für seine Worte zu entschuldigen. Aber Dienst war Dienst, und da gab es keinen Gewissensspielraum, der es einem erlaubte, selbigen für private Obliegenheiten zu ignorieren. Ob es da wirklich eine Demonstration gab?

      Bronsteins innere Unruhe wuchs mit jeder Minute, die sein Körper an den Schreibtischsessel geschraubt war. Schließlich ertrug er es nicht länger und griff zum Telefon. Er ließ sich mit dem staatspolizeilichen Büro verbinden, wo er nach Hofrat Pataki verlangte, den er von früher gut kannte.

      »Sag«, begann er vorsichtig, »weißt du irgendetwas von einer Kommunistendemonstration heute?«

      »Da schau her, David. Wer hat dir denn das geflüstert? Bist ja gut informiert!«

      »Na, so gut auch wieder nicht, wie du merkst. Sonst müsste ich ja nicht nachfragen.«

      Pataki lachte kurz, um sofort wieder ernst zu werden. »Ehrlich, David, die G’schicht’ ist kein Spaß. Wir haben seit dem 12. dieses Monats Hinweise darauf, dass die Kommunisten putschen wollen. Du, ich sag dir’s, wenn die Sozis nicht wären, hätten wir keine Chance gegen die. Aber auf die Roten ist Verlass. Der Bauer und der junge Adler, die haben ihre Leut’ im Griff, und wenn einer von denen sagt: Fass, dann schnappen die nach allem, was sich bewegt. G’rad so, wie’s ihre Parteiführung will. Und um ganz sicher zu gehen, dass auch ja nix g’schieht, haben wir in der Nacht von gestern auf heute die kommunistischen Führer prophylaktisch in Gewahrsam genommen.«

      »Ihr habt sie verhaftet?«

      »Ja, praktisch die ganze Leitung. Uns ist kaum wer entwischt. Ja, dein Spezi Kisch, der hat sich rar gemacht, und so ein rothaariges Flintenweib ist uns auch durch die Lappen gegangen. Die dürfte was g’wusst haben, denn sie war weder bei sich zu Hause noch sonst wo in einer der bekannten Wohnungen.«

      Bronstein fühlte, wie sein Mund trocken wurde.

      »Stell dir vor«, lachte Pataki in den Apparat, »der Seidenbast, weißt eh, der alte Schrull vom Koat 1, hat noch g’meint, die hat sich sicher einen Beschützer ang’lacht, bei dem s’ Unterschlupf g’funden hat. Aber so wichtig ist die auch wieder nicht. Welcher Revoluzzer hört schon auf eine Frau? Die wirklich Wichtigen, die haben wir alle eingekastelt!«

      »Verhaftet? Einfach so?«, fragte Bronstein, als er seine Sprache endlich wiedergefunden hatte.

      »Schau«, sagte Pataki, »das ist ja alles Politik,