Andreas Pittler

Mischpoche


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Der kann heut noch nicht g’rad’ geh’n.«

      Bronstein war ehrlich überrascht, wie leicht ihm das Lügen neuerdings von der Hand ging. Wenn er so weitermachte, konnte er glatt Politiker werden.

      Der Polizist musterte ihn abschätzend. Schließlich schien er zu dem Schluss zu kommen, ihm trauen zu können.

      »Bist a Kriminaler, gell?«, fragte er.

      »Ja«, entgegnete Bronstein.

      »Und? Hast g’rad’ was vor?«

      »Na.«

      »Na, dann komm mit. Wir geh’n jetzt in die Hörlgassen. Dort rotten sich diese Gfraster z’samm’. Da wirst Gelegenheit bekommen, deinem Wastl die offene Rechnung zu begleichen.«

      Bronstein dämpfte die Zigarette aus und stand auf: »Na dann, gemma’s an.«

      Die anderen taten es ihm gleich. Gemeinsam verließen sie erst die Kantine, dann das Gebäude, und Bronstein erstaunte die Ruhe, die er dabei an den Tag zu legen vermochte.

      Die Sonne heizte, wie es sich für einen 15. Juni gehörte, die Pflastersteine auf, und unwillkürlich kniff Bronstein die Augen zusammen. Sie waren noch keine 50 Meter gegangen, als undefinierbarer Lärm zu ihnen drang. An der nächsten Ecke angekommen, sahen sie sich Tausenden Menschen gegenüber, die für das Getöse verantwortlich waren. Bronstein erkannte vereinzelte Schilder, auf denen Botschaften wie ›Freiheit für Hexmann‹ oder ›Lasst Steinhardt frei‹ zu lesen standen, und fragte sich, wie er in diesem Gewühl Jelka finden sollte.

      Vom Ring und vom Kai fluteten Einheiten der sozialdemokratischen Stadtschutzwache herauf, die sich anschickten, die Kommunisten in die Zange zu nehmen. Unwillkürlich musste Bronstein an den November des Vorjahres zurückdenken, als er Jelka gerade noch hatte retten können. Würde ihm das diesmal auch gelingen? Er bezweifelte es.

      Wäre er nicht so in Sorge um seine Freundin gewesen, er hätte beinahe lachen mögen. Die Historie bewies doch beachtlichen Sinn für Ironie: just jene, die noch vor zehn Jahren von den Repräsentanten der Monarchie niederkartätscht worden waren, schickten sich nun an, ihrerseits Andersdenkende gewaltsam zu unterdrücken. Vielleicht hatte Jelka mit ihrem Sprüchlein ja doch recht, wonach das Sein das Bewusstsein bestimmte. Kaum waren diese Bauers, Renners und Elderschs an der Macht, verhielten sie sich nicht anders wie zuvor die Stürgkh, Auersperg oder Schwarzenberg. Er sehnte sich zurück in jene jungfräulichen Tage seiner Polizeikarriere, da er, noch vollkommen unangekränkelt von jedem Zweifel, alle seine Aufträge aus innerster Überzeugung hatte erledigen können, wo Gut noch Gut und Böse noch Böse gewesen zu sein schien.

      Der November 18 war ihm wie ein Aufbruch in eine neue Zeit gewesen, in der endlich alle vor dem Gesetz gleich sein würden, wo es sich niemand mehr richten konnte, sondern wo jeder sein Recht fand, ohne Ansehen der Person. Jetzt aber schien es ihm tatsächlich so, wie Jelka immer behauptete: das Staatsgebäude war nicht erneuert worden, man hatte nur die Tapeten von Schwarzgold auf Blassrot geändert.

      Bronstein schüttelte sich. Was machte er da? Er war Polizist und kein kommunistischer Agitator! Solche Gedanken standen ihm gar nicht zu. Er wurde dafür bezahlt, dass er Ruhe und Ordnung aufrecht erhielt, ungeachtet, ob seine Befehle von einem adeligen Burgherrn, einem sozialdemokratischen Bibliothekar oder gegebenenfalls von einem kommunistischen Bergarbeiter kamen. Solange die jeweilige Macht ordnungsgemäß legitimiert war, hatte er ihre Weisungen entgegenzunehmen, und wenn Jelka hundertmal meinte, er müsse zuerst sein eigenes Gewissen befragen, ehe er eine Order ausführte. Der Dienstweg eines Beamten sah eine schier unüberschaubare Zahl an Instanzen vor – aber ein Gewissen befand sich nicht darunter!

      »Alsdern, schauts euch um, wer am lautesten krakeelt. Auf den legt’s dann an!«

      Bronstein fuhr entsetzt herum. Der Uniformierte hatte offensichtlich tatsächlich einen Tötungsbefehl gegeben. So etwas war, soweit er sich erinnern konnte, nicht einmal in der Monarchie vorgekommen. Doch noch ehe er reagieren konnte, fuhr der Wachmann fort: »Und verteilt euch unter die Stadtwachler. Es schaut besser aus, wenn die Kummerln glauben, die Sozis haben sie z’samm’g’schossen. Da sind wir dann fein raus.«

      Bronsteins Verlangen, Jelka aus dem ganzen Schlamassel herauszuholen, wurde immer stärker. Verzweifelt spähte er in die Menge der Demonstranten, und allenthalben meinte er, ihren charakteristischen Rotschopf zu entdecken. Doch nur allzu schnell musste er sich eingestehen, dass er sich getäuscht hatte. Der Ring der Exekutive zog sich allmählich um die Demonstranten zusammen, sodass diese nun wirklich umzingelt waren. Ihre letzte Chance, das erkannte auch Bronstein, bestand darin, den schwächsten Punkt der Polizeikette auszumachen und dort durchzubrechen. Bronstein sah sich nach seinen Begleitern um, doch die waren zwischenzeitlich verschwunden. Er fürchtete, sie könnten die übrigen Wachorgane zu einer unüberlegten Handlung provozieren, und überlegte fieberhaft, wie er auf den Gang der Ereignisse Einfluss nehmen konnte. Tatsächlich schien es, als beratschlagten die in der Falle sitzenden Kommunisten, wie sie sich aus ihrer misslichen Lage zu befreien vermochten, und wie es Bronstein vorausgesehen hatte, wählten sie die Schutzorgane der Stadt Wien als Ziel ihres Befreiungsschlages. Im Laufschritt näherten sich Protestierer der Absperrung und schickten sich sichtlich an, unmittelbar vor der gegnerischen Kette nochmals Fahrt aufzunehmen, um sie allein durch die Wucht ihrer Geschwindigkeit niederzureißen. Womit sie allerdings ebenso wenig wie Bronstein gerechnet hatten, war der Umstand, dass die städtischen Ordnungshüter angesichts der heranstürmenden Menge zu den Waffen griffen. Bronstein, der die Szene atemlos beobachtete, bezweifelte, dass eine Salve über die Köpfe der Demonstranten hinweg die Lage deeskalieren würde. Im Gegenteil, viel eher käme die Menge dadurch erst recht in Rage. Doch der Kommandant der Stadtwache hieß seine Männer anlegen, und Sekundenbruchteile später ertönte die Order zum Abfeuern der Gewehre. Fassungslos sah Bronstein, wie die Uniformierten direkt in die Menge zielten. Schon nach der ersten Salve blieben Dutzende Menschen im Straßenstaub liegen. Gleich danach erhob sich ein infernalisches Heulen und Wehklagen. Bronstein suchte an einer Hausmauer Halt und kämpfte mit seinen Innereien, um sich nicht übergeben zu müssen. Das, so erkannte er, war schlimmer als die Ereignisse im November. Die Menge wogte in nackter Panik hin und her und fand keinen Ausweg. Menschen trampelten über Tote und Verwundete, wurden selbst niedergerissen und verschwanden unter den Füßen anderer, die gleich den Gestrauchelten ihr Heil in der Flucht suchten. Und der Befehlshaber der Stadtwache befahl seinen Leuten nachzuladen.

      Bronstein hielt nichts mehr an seinem Platz. Die eben noch aufgekommene Übelkeit war schrankenlosem Zorn gewichen. Nicht einmal im Tierreich biss der Sieger dem Unterlegenen auch noch in die dargebotene Gurgel. In bemerkenswerter Geschwindigkeit erreichte Bronstein den Befehlsstand der sozialdemokratischen Wachorgane.

      »Ja, sagen Sie, sind Sie vollkommen wahnsinnig?!«, fauchte er den Offizier an, nachdem er halbwegs zu Atem gekommen war.

      Der Mann würdigte ihn keines Blickes. »Bringts mir das Seicherl da weg!«, wies er einige der ihn umstehenden Unteroffiziere an, die sogleich Bronstein unsanft in ihre Mitte nahmen und in Richtung Ring schleiften. Sein Protestgeschrei ging im Lärm und im Chaos unter. Erst etwa 100 Meter vom Platz ihres Kommandanten entfernt warfen dessen Schergen Bronstein auf das Trottoir. Seit Kindheitstagen war er nicht mehr so demütigend behandelt worden, empfand Bronstein. Er rappelte sich auf und setzte den Stadtwächtern nach. Kaum war er an sie herangekommen, drehte sich einer von ihnen blitzschnell um und schlug Bronstein mit dem Lauf seiner Pistole gegen die Schläfe. Bronstein wurde gegen eine Hauswand geschleudert, drehte sich sodann um seine eigene Achse und sank tonlos zu Boden.

      Enervierende Kopfschmerzen waren das Erste, das Bronstein registrierte, als er erwachte. Er benötigte eine gewisse Weile, ehe er seine Umgebung genauer in den Blick nehmen konnte. Über ihm befand sich eine weiße Stuckdecke, ihm gegenüber ein hohes, vergittertes Fenster. Links neben ihm stöhnte jemand leise, von der rechten Seite kam ein penetrantes Schnarchen. Bronstein realisierte, dass er sich in einem Krankenhaus befand. Er versuchte, den Kopf zu heben, doch rasende Schmerzen ließen ihn sofort von diesem Vorhaben Abstand nehmen.

      »Ah, wer kommt denn da wieder zu sich? Guten Morgen, Herr Oberleutnant.«

      Guten Morgen? Wie lange lag er schon da?