Nané Lénard

SchattenHaut & SchattenWolf


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Nadja kämpfte die Faszination mit der Übelkeit. Sie wickelte sich ihr Tuch um Nase und Mund und fotografierte den Leichnam aus verschiedenen Blickwinkeln. Der Gestank kroch durch die Maschen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Das Bild war gestört. Doch sie wusste nicht wodurch.

      Die Redaktion hatte sie zur Recherche historischer Dokumente hierher geschickt.

      Auf den Dachboden der alten Eulenburg. Wo sonst niemand hinkam. Und jetzt bestimmt niemand hinwollte. Man hatte ihr unten im Museum den großen Schlüssel gegeben. Doch am Ende der Treppe hatte der Tag eine ganz andere Überraschung für sie bereitgehalten. Den Tod. Aus der geöffneten Tür hatte sie dessen greifbare Existenz wie ein Faustschlag getroffen. Im diffusen Licht war er nur mit der Nase wahrnehmbar gewesen. Die alten Lampen, die Schatten aus verschiedenen Richtungen auf das menschliche Pendel warfen, konnten das Grauen nicht vertreiben. Es schauderte sie. Doch das hier war greifbarer als vergilbtes Papier. Besonders für die ehemalige Medizinstudentin, die immer noch nebenbei für die Schaumburger Zeitung schrieb.

      Seitdem sie begonnen hatte, ihren Facharzt im Bereich der Rechtsmedizin zu machen, kam sie nur noch selten dazu, ihre Redaktionskollegen zu unterstützen. Das hier war ein echter Höhepunkt in ihrer medizinischen Ausbildung. Sie hatte schon einiges auf dem Seziertisch gesehen, aber ein Leichnam in diesem Verwesungszustand war etwas Besonderes. Und er war noch unversehrt. Keiner hatte ihn vor ihr gesehen. Er gehörte nur ihr. Wie er so von der Decke baumelte, wie es auf ihm krabbelte und wuselte, wie er roch. Das alles war einzigartig. Sie blieb noch einen Moment – mit flauem Magen zwar – aber sie wollte diese Eindrücke ganz in Ruhe für sich sammeln. Erst dann klappte sie ihr Handy auf und rief den Notruf an. Während sie auf die Beamten wartete, wunderte sie sich über sich selbst. Sie wunderte sich über das, was dieser Tote in ihr auslöste. Und sie wusste, dass sie beruflich auf dem richtigen Weg war.

      Kruse und Hetzer hatten sich ihren Sonntagnachmittag ruhiger vorgestellt. Aber das war in ihrem Beruf nicht zu ändern. Der Kaminofen brannte in Hetzers Kate vor sich hin. Jetzt allerdings ohne ihn, er würde bald ausgehen. Heute war an Entspannung nicht mehr zu denken. Bei dem Bild, das sich den Kommissaren auf dem Boden der Eulenburg bot, kam Hetzer der Traum wieder in den Sinn. Es gab eine Parallele: Maden im Topf, Fleischstückmaden im Traum, Maden auf Benno.

      Der Gestank war nicht auszuhalten. Hinter ihm auf der Treppe hörte er das Stapfen von Füßen.

      „Puh, diese persönliche Note ist nicht von schlechten Eltern!“, ächzte Mica. „Aber ihr könnt euch glücklich schätzen. Im Sommer wär’s noch schlimmer.“

      „Toll, danke Mica, du bist so aufbauend wie immer!“, sagte Peter mit erstickter Stimme.

      „Darum liebt ihr mich ja“, erwiderte sie schmunzelnd und warf Hetzer einen zwinkernden Blick zu.

      „Wir können einfach nicht ohne dich.“

      „Das weiß ich ja und darum gebt ihr euch auch solche Mühe, mich sonntags mit derartigen Besonderheiten zu überraschen.“

      Mica umrundete den Leichnam und machte sich Notizen.

      „Kannst du uns schon was sagen?“

      „Also, er ist tot!“

      „Was du nicht sagst. Ich dachte schon, er hält sich einen Zoo auf der Haut.“

      „Seid froh, dass die Tierchen da sind, denn sie verraten uns eine ganze Menge über sein Ableben.“

      „Vielleicht verrätst du uns ja erst mal ein bisschen?“

      Mica schaute auf das Thermometer.

      „Ihr könnt davon ausgehen, dass er ungefähr eine Woche hier abhängt.“

      „Wie kommst du darauf?“

      „Hier oben haben wir jetzt 18 °C. Der Boden ist wegen der Dokumente leicht temperiert. Wenn wir von einer Nachtabsenkung ausgehen, sprechen wir von einer durchschnittlichen Temperatur in Höhe von 15/16 °C. Die Maden sind ungefähr einen Zentimeter lang und ihr Darm ist im ersten Drittel gefüllt. Ich muss sie später noch genau vermessen. Das bedeutet, dass der Eintritt des Todes vor sieben bis acht Tagen geschehen sein muss.“

      „Wahnsinn. Das erkennst du an den Viechern?“

      „Das kann ich euch später noch genauer sagen. Gestorben ist er wahrscheinlich an dem Stich in den Hals. Dort ist auch das Blut ausgetreten. Viel Blut. Seht ihr die große Pfützenkruste? Das ist ziemlich eindeutig. Man kann auch gut erkennen, dass irgendwer mit einer Flamme den Körper versengt hat. Falls man den Braten nicht schon vorher gerochen hat.“

      „Mica, du bist echt widerlich.“

      „Danke für das Kompliment. Soll ich nun weitererzählen oder ist euch das Märchen zu gruselig?“

      Wenn sie so freundlich grinste, konnte man ihr nichts übelnehmen.

      „Ich meine doch nur. Du bist so pietätlos.“

      „Nicht ich bin so, sondern der Tod selbst mit all dem Ekel, der um ihn herum ist. Denkt ihr, ich bin gerne hier? Mit meinem Sarkasmus kann ich die Tatsache nur besser ertragen.“

      „Ok, mach weiter!“

      „Was ihr nicht so genau seht – wenigstens nicht auf den ersten Blick – ist, dass er nicht vollständig ist. Das liegt an seiner Haltung und an dem Stich in seinem Hals.“

      „Was fehlt ihm denn? Außer der Kleidung meine ich?“

      „Siehst du, Wolf, jetzt fängst du auch schon so an. Es fehlen seine Genitalien, und wenn ich es recht erkenne, hat man sich auch an seinem Hals zu schaffen gemacht, bevor er erstochen wurde.“

      „Heißt das, er wurde vor seinem Tod verstümmelt wie der Pfarrer aus Hameln?“

      „Ungefähr.“

      „Wieso ungefähr? Ja oder nein?“

      „Ja und nein!“

      „Und im Detail bitte?!“

      „Pfarrer Fraas ist vor Ort kastriert und von seinem Adamsapfel befreit worden. Bei Benno hat sich jemand die Mühe gemacht, ihn zu operieren und erst noch ein bisschen leben zu lassen. Hier, seht ihr die frischen Narben? Wenn ich es trotz der Verbrennungen richtig erkenne, verstand da jemand sein Handwerk. Das ist eine richtige Plastik.“

      „Dann können wir also davon ausgehen, dass der Mörder Arzt ist?“

      „Das könnte sein. Möglich wären auch Studenten der Medizin, Bestatter oder Schneider mit medizinischer Vorbildung, OP-Schwestern, die gut aufgepasst haben. So, mir stinkt’s jetzt. Ich haue ab. Ihr könnt ihn abnehmen lassen, wenn ihr wollt. Morgen Abend könnt ihr nachfragen, nicht eher.“

      Wolf und Peter hatten auch genug.

      Sie folgten Mica nach unten, wo die Zeugin Nadja Serafin auf die beiden wartete.

      „Hey, wir kennen uns doch“, rief Mica. „Sie haben doch eine Weiterbildung bei mir gemacht, oder?“

      „Frau Dr. von der Weiden. Das ist ja irre. Haben Sie den Toten gesehen? Klar haben Sie. Deswegen sind Sie ja hier. Verzeihung, ich bin ein bisschen durcheinander. Ich habe noch nie eine so interessante Leiche gehabt.“

      „Oh je“, stöhnte Hetzer, „jetzt haben wir schon zwei von der Sorte. Komm, wir gehen etwas Luft schnappen, Peter, bis die beiden sich ausgetauscht haben. Mir ist nicht gut. Ich habe das Gefühl, ich rieche Benno immer noch.“

      „Kein Wunder. Ich glaube, du musst dir gleich erst mal den weißen Schutzoverall vom Leib schaffen. Du riechst nämlich wirklich wie Kuhlmann und das wird bei mir nicht anders sein. Das stinkt nachher noch aus der Mülltonne, glaub mir!“

      „Ist mir wurscht, ich schmeiße alles zu meinem Madentopf. Ekel zu Ekel.“

      „Apropos ... Madentopf ... Wolltest du nicht ...?“

      „Nein, wollte ich nicht. Aber jetzt vielleicht. Die Dinge haben sich eben geändert.“