Gisela Sachs

Im Weihnachtswunderland


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Opa nickt: »So ungefähr, nur viel, viel schlimmer. Es regnete Sturzbäche und der eiskalte Wind pfiff so laut, dass man seine eigenen Worte nicht mehr verstehen konnte. Magdalena und ich konnten uns tagelang nur noch mit Handzeichen verständigen.«

      »Und was war mit dem Onkel Paul, dem Onkel Peter und der Tante Hedwig und all den anderen, Opa?«

      »Die kamen doch erst fünfhundert Jahre später nach, Minkie, pass doch erst einmal auf, was der Opa erzählt, bevor du ihm dazwischen plapperst«, rügt Pinkie.« Der Großvater erzählt unbeirrt weiter. »Aber Opa, warum hatte die Tante Magdalena denn keine Brille auf?«, ruft Minkie dazwischen. Pinkie gibt seiner Schwester einen Puff in die Rippen. »Wie wäre es, wenn du endlich einmal deine Klappe halten würdest, Schwesterchen!«

      »Brillen gab es damals noch keine, Minkie«, erklärt der Großvater geduldig. »Es war eine bittere Zeit, damals.« Großvater Aram wischt sich die Tränen von den Wangen. »Zudem hatte die Magdalena eine außergewöhnliche Augenkrankheit.«

      »Eine außergewöhnliche Augenkrankheit?«, ruft Minkie aus.

      »Was denn für eine, Opa?«

      Pinkie gibt seiner Schwester einen Puff in die Rippen. Der Großvater erzählt weiter. »Meine liebe Schwester schielte, aber nicht nach außen wie normale Gespenster, sondern nach innen. So sah sie alles doppelt.«

      »Ach?«, staunt Minkie. »Na so was! Das habe ich ja noch nie gehört.«

      »Magdalena rutschte über einer nassen Walnuss aus«, erzählt der Großvater weiter, sie wollte in den Keller um Kartoffeln zu holen. Für den Kartoffelsalat. Sie wollte Eier dazu braten und …«

      Minkie hält sich die Hände vor den Mund und kichert. »Wie kann man nur so blöd sein und über eine Walnuss stolpern?«

      Der Großvater starrt mit weit offenen Augen in das Kaminfeuer, nippt immer wieder an seiner leeren Teetasse. Dann flüstert er: »Sie purzelte die gesamten dreiunddreißig Kellerstufen herunter, blieb leblos auf der untersten Stufe liegen und wachte nicht mehr auf.«

      »Oh je«, murmelt Minkie kleinlaut. »Das tut mir aber leid, Opa.«

      Großvater Aram liebte seine einzige Schwester sehr. Mit Magdalena konnte er die besten Streiche der Welt machen. Gemeinsam sind wir stark, war das Motto des Geschwisterpaares. Und sie machten alles zusammen. Sie besuchten zusammen den Kindergarten, die Schule, den Musikunterricht, arbeiteten gemeinsam auf dem Feld, versorgten gemeinsam die zahlreichen Nutztiere wie Kühe, Hühner, Schweine, Kaninchen, Tauben. Und in der Freizeit spielten sie miteinander Fußball, Federball, Tischtennis oder Wasserball. Magdalena war verrückt nach Ballspielen. Und an einem Tag im Jahr zauberten sie zusammen, an ihrem Geburtstag, am Nikolaustag. Sie nannten den Tag ‚Magdalena-Aram-Zaubertag’.

      Die Geschwister hatten ihre eigenen Zaubersprüche. Und genau in diese Magdalena-Aram-Zaubersprüche sollten Minkie und Pinkie vom Großvater eingeweiht werden. Am zehnten Geburtstag aber erst. Sie waren damals noch zu jung dafür, waren erst fünf Jahre, fünf Monate, fünf Wochen, fünf Tage und fünf Stunden alt.

      Minkie kann es kaum abwarten, die Magdalena-AramZaubersprüche zu erfahren. »Ach bitte, bitte, du liebster, du bester, du gütigster, du schönster aller Gespensteropas. Gib mir doch bitte, bitte einen Zauberspruch preis, nur einen. Ich bin doch jetzt schon sechs, Opa«, quengelt sie ein paar Tage nach ihrem sechsten Geburtstag.

      »Abrakadabra«, lacht der Opa. »Und mehr erfährst du heute nicht, da musst du schon bis zu deinem zehnten Geburtstag warten.

      »Ach bitte, bitte, mein herzallerliebstes, bestes, schönstes, gütigstes Opilein …«

      »Ihr müsst erst die Regeln für Gespensterzauberer lernen«, sagt der Großvater in ernstem Ton. »Es kann nicht jedes Gespensterkind einfach so draufloszaubern, Minkie. Ohne Regeln, wie stellst du dir denn das vor, Kind, wo kämen wir denn da hin?«

      »Dann fangen wir doch gleich mal mit den Regeln an, Opa«, kontert die vorwitzige Minkie.

      »So einfach, wie du dir das vorstellst, funktioniert das mit der Zauberei wirklich nicht«, mahnt der Großvater. »Dazu brauchen wir Zauberstäbe, Nüsse, Schlangeneier, Fliegendreck. Zauberhüte, Zauberkugeln und …«

      »Bitte, bitte, Opa.«

      »Und vor allen Dingen müssen wir den richtigen Zeitpunkt abwarten.«

      »Den richtigen Zeitpunkt?«

      »Im Leben gibt es für alles den richtigen Zeitpunkt«, brummt der Großvater vor sich hin. »Für alles! Zudem müsstet ihr erst einmal das Gespenstereinmaleins beherrschen, Kinder.«

      »Dann fangen wir doch gleich mal mit dem Gespenstereinmaleins an, Opa«, sagt Minkie. Sie fängt zu zählen an. »Eins, zwei, drei, Kartoffelbrei, Hexenei, so einfach geht die Zauberei.«

      Der Opa schüttelt den Kopf, mahnt »Minkie!« Doch Minkie lässt sich nicht beirren und plappert munter weiter: »Vier, fünf, sechs und sieben, lasst euch nicht betrügen, ihr Lieben.«

      »Miinkie!«, mahnt der Großvater.

      Minkie beachtet den Großvater nicht weiter. Sie hüpft von einem Fuß auf den anderen, trällert: »Acht, neun, zehn, ihr werdet es sehen, der Zauber wird schon gehen. Elf, zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn. «

      »Du nervst, Schwester«, rügt Pinkie. »Sehr sogar! Nein heißt nein, beim Opa. Hast du das immer noch nicht kapiert?«

      »Verrate mir nur noch einen Zauberspruch, bitte, Opa.«

      »Simsalabim«, lacht der Opa. Und noch mehr erfährst du heute wirklich nicht, da musst du schon bis zu deinem zehnten Geburtstag warten, so wie dein lieber Bruder auch.«

      »Du bist ja so gemein, Opa«, schmollt Minkie. Sie trinkt die Tasse mit dem Kräutertee leer, stampft mit den Füßen auf den Boden und marschiert beleidigt aus dem Kaminzimmer. Als sie an Pinkie vorbeiläuft, streckt sie ihm mit einem lauten »bäh« die Zunge raus.

      »Hokuspokus Fidibus, dreimal schwarzer Kater«, flüstert da der Opa. »Meine Enkeltochter soll zehn Stunden lang schlafen.«

      Und kaum hat der Opa ausgeflüstert, liegt Minkie schlafend auf dem Fußboden. Der Großvater trägt seine Enkeltochter über den Flur ins Kinderzimmer und legt sie ins Bett. Er deckt sie liebevoll bis zur Nasenspitze hin zu, sagt lächelnd: »Gute Nacht, mein kleines Naseweismädchen.«

      »Aha«, murmelt der aufmerksame Pinkie vor sich hin. »Hokuspokus Fidibus, drei Mal schwarzer Kater!« Er wühlt in seiner Schreibtischschublade, findet nach langem Suchen endlich seinen Papierblock und einen zur Hälfte abgebrochenen Bleistift. »Hokuspokus Fidibus«, flüstert er vor sich hin, als er die magischen Worte zu Papier bringt. »Drei Mal schwarzer Kater.« Er reißt den Zettel vom Block ab, macht eine Kugel daraus und versteckt ihn im Kleiderschrank, ganz hinten, unter dem Ballen weißen Stoff für sein erstes Gespenstermännerfestgewand. Dann legt auch er sich ins Bett, kuschelt sich eng an seine tief schlafende Schwester Minkie, flüstert »gute Nacht Schwesterchen«, und auch Pinkie ist in Sekundenschnelle eingeschlafen.

      Aber in der Nacht suchen ihn wilde Träume heim. Er träumt von Zauberstäben, Zauberhüten, von Zauberkugeln, von Spukschlössern, von böse kichernden Hexen. Er wird von Fabelwesen mit Riesenschwertern in den Händen auf Riesenpferden verfolgt, von Wölfen, Eisbären, Klapperschlangen. Schweißgebadet wacht er auf, versucht Minkie zu wecken, aber sie schläft tief und fest, exakt zehn Stunden lang.

      »Du hast Geheimnisse vor mir, kleiner Bruder!«, beschwert sich Minkie. Sie krabbelt aus dem Schrank heraus und hält den zerknautschten Zettel mit dem Zauberspruch hoch in die Luft. »Was sind denn das für neue Sitten, kleiner Bruder?«, motzt sie. Pinkie mag es nicht leiden, wenn Minkie in seinen Sachen rumschnüffelt. Und er mag auch nicht leiden, wenn seine Schwester ihn kleiner Bruder nennt. Pinkie verdreht die Augen. »Antwort«, fordert Minkie und klopft den Zettel auf den Schreibtisch. »Gib her, Minkie«, fordert Pinkie. »Das hättest du wohl gerne, Brüderchen«, ruft Minkie und rennt aus dem Zimmer, den Flur entlang, aus der Haustür über die Felder. Sie peilt den Weg zum Engelstimmensee an. Manchmal