Gisela Sachs

Im Weihnachtswunderland


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hetzt der Schwester hinterher, holt sie keuchend ein und erwischt sie am Ende des Jackenärmels. Pinkie lacht freudig auf. »Ich hab dich, du Zicke!«

      Mit einem Ruck kann Minkie sich befreien und sie springt kurzerhand in den See, wohl wissend, dass Pinkie nicht hinterher springen wird. Sie macht ihm eine lange Nase, schlägt Purzelbäume im Wasser, ruft: »Spring doch rein, du Angsthase.« Prustend fängt sie zu singen an.

      »Mein Bruder ist ein Hasenfuß, ein Hasenfuß, ein Hasenfuß.« Sie spritzt Pinkie nass und lacht höhnisch: »So spring doch du Feigling! Mein kleiner Bruder ist ein Feigling, ein Feigling, ein Feigling.« Und irgendwann wird Pinkie wütend. Sehr wütend. So wütend wie noch nie in seinem Leben. Und er zischt: »Hokuspokus Fidibus, drei Mal schwarzer Kater, Schlangenei, und ab geht’s mit meiner Schwester nach Shanghai.«

      Und kaum hat das letzte Wort Pinkies Mund verlassen, landet er auch schon mit einem lauten Plumps auf dem harten Steinboden im Keller eines Hochhauses. Die klatschnasse Minkie eine Sekunde später, direkt neben ihm. Sie schauen sich erstaunt an. Im Keller ist es dunkel. Die Luftfeuchtigkeit ist sehr hoch, die Kinder können kaum atmen. Und es ist fürchterlich laut. »Umdeshimmelswillen«, stöhnt Pinkie entsetzt. »So habe ich das doch nicht gemeint.«

      Minkie reibt sich die Pobacken, die Landung war sehr unsanft.

      »Gibt es hier auch Licht?«, fragt sie verzagt. Minkie hatte, obwohl sie ein sehr vorwitziges Gespensterkind ist, schon immer Angst im Dunklen. »Woher soll ich das wissen«, fragt Pinkie zurück.

      »Du weißt doch sonst auch immer alles besser als ich, große Schwester.«

      »Du hast uns doch in diese Misere gebracht«, schimpft Minkie.

      »Ich bin nur ganz friedlich im See geschwommen und habe …«

      »Hättest du nicht in meinem Schrank herumgeschnüffelt und den Zauberspruch geklaut, dann wären wir jetzt nicht hier«, schimpft Pinkie zurück. Minkie reibt sich das Gesäß, stöhnt:

      »Aua, das wird sicherlich einige blaue Flecken geben.« Dann steht sie auf und schaut aus dem mit Eisen vergitterten Fenster. »Wo sind wir hier denn eigentlich?«

      »In Shanghai«, sagt der alte Spinnenopa zwischen den unzähligen toten Fliegen auf dem Fenstersims. »In einem Hochhaus.«

      »In Shanghai?« fragen Minkie und Pinkie zu gleicher Zeit erstaunt. »In Shanghai«, bestätigt der alte Spinnenmann. »In einem Hochhaus. Um genau zu sein, im größten Hochhaus der Stadt.«

      »»Ach du liebe Scheiße«, stöhnt Minkie laut auf.

      Der alte Spinnenmann lacht. »Ich bin ganz froh, dass ihr beiden da seid, ich habe mir schon lange Gesellschaft gewünscht. Im Keller gibt es nur ein paar Mäusekinder, deren Eltern von der Nahrungssuche nicht mehr heimgekehrt sind. Einen kleinen, grünen Grashüpfer. Er war im Sommer den Sonnenstrahlen hinterher gehüpft und hatte den Weg nach draußen nicht mehr gefunden. Eine alte, blinde Ratte …«

      »Und was machen wir jetzt?«, fragt Minkie.

      »Zurückzaubern natürlich«, antwortet Pinkie entschlossen.

      »Was sollen wir denn in Shanghai? Hier kennen wir doch niemanden.« Er stellt sich in eine der mit Spinnweben überzogenen Kellerecken und flüstert: »Zauberkugel wohlgemut, Zauberstab und Zylinderhut, Zaubergeister, helft jetzt gut. Hasenfuß und Hühnerei, Zaubergeister fliegt herbei, bringt uns zurück an den Ort, von dem wir geflogen sind, fort.«

      Aber nichts geschieht.

      »Ich bin ganz froh, dass ihr hier seid, Kinderchen«, seufzt der Spinnenopa zum wiederholten Mal. »Endlich, endlich habe ich jemanden zum Reden. Ich bin alt, ich weiß viele Geschichten.

      Und er fängt traumverloren zu erzählen an. »Seit langer, langer Zeit spinne ich in diesem Keller meine Kunstwerke. Wie lange schon, das weiß ich nicht. Ich habe keine Uhr und alle Zeit der Welt. Jede Ecke des Kellers habe ich mit meinen Kunstwerken ausgeschmückt«, sagt er stolz. »Aber es ist keiner da, der meine Arbeit bewundert, keiner, der mit mir spricht. Ich möchte gerne Freunde haben, meine Freude und meinen Kummer teilen können.«

      Minkie und Pinkie nicken. Das verstehen sie gut. Es ist nicht schön, ohne Freunde und Verwandte zu leben.

      »Einmal im Monat kommen Menschen mit Besen und Sprays in den Keller. Sie zerstören meine ganze Arbeit. Und ich muss immer wieder von Neuem anfangen. Das ist sehr traurig. Aber aufgeben tue ich nicht!«

      Minkie und Pinkie nicken. Der Spinnenopa lächelt. »Ich habe lange auf Freunde gewartet. Und jetzt endlich ist mein Wunsch in Erfüllung gegangen. Ihr werdet für immer hier bei mir im Keller bleiben. Ihr könnt für mich sorgen, kochen, putzen, aus der Zeitung vorlesen.«

      Pinkie und Minkie sehen sich erschrocken an. Sie wollen nicht in diesem Keller bleiben. Keinen einzigen Tag lang. Pinkie verzieht sich wieder in die Kellerecke und probiert sein Glück mit einem anderen Zauberspruch. Er flüstert: »Zauberlist und Zauberei, was verschwunden ist, flieg herbei, sofort, genau an diesen Ort.« Und kaum hat er ausgesprochen, steht sein Bett vor ihm, sein Schreibtisch, sein Kleiderschrank. »Umdeshimmelwillen, so habe ich das doch nicht gemeint«, ruft Pinkie entsetzt aus. »Ich will doch nicht in diesem dunklen, stickigen Keller wohnen bleiben. Ohne meine Mama, ohne meinen Papa, ohne die Großeltern und Verwandten. Ich will nach Hause! Ich will zurück in meinen Gespensterwald. Zu meinen Freunden. An den Engelstimmensee ….«

      Minkie legt den Arm um die Schultern des schluchzenden Bruders. »Ach Brüderchen«, tröstet sie. »Ich versuche es Mal mit Zaubern. Vielleicht klappt es bei mir ja besser.« Und mit kräftiger Stimme legt sie los: »Simsalabim, Abrakadabra, Hokuspokus Fidibus, drei Mal schwarzer Kater. Hollerie und Hotzenplotz, Mäusespeck und Katzenbuckel, Schlangenei und Krötendreck, bring uns von hier weg.«

      Aber auch Minkies Zaubersprüche bleiben ungehört.

      »Wir können das Gespenstereinmaleins noch nicht«, sagt Minkie kleinlaut. »Deshalb funktionieren unsere Zaubersprüche auch nicht.

      »Da könntest du Recht haben, Minkie.«

      »Wir haben ein Unrecht getan, große Schwester!«

      »Ja«, flüstert Minkie. »Das haben wir!«

      »Jetzt wird es aber allmählich Zeit, die Kinder wieder zurückzuzaubern«, sagt die Großmutter zur gleichen Zeit zu Großvater Aram. »Lass die beiden ruhig ein bisschen schmoren«, antwortet der Opa. »Aus Erfahrung wird man am klügsten!« »Übermorgen ist Weihnachten«, protestiert Oma Lea. »Und die Kinderchen haben doch Geburtstag!«

      »Ich weiß«, erwidert der Großvater. »Sie haben aber schwer gefehlt und …«

      »Der liebe Gott verzeiht auch Sündern«, kontert die Großmutter. »Denke mal daran, wie es war, als du ...«

      »Ja«, sagt da der Opa leise. »Du hast Recht, Lea. Ich geh’ dann mal ins Haus und zaubere unsere Enkelkinderchen wieder zu uns zurück.«

      Was waren Minkie und Pinkie doch froh, wieder zuhause im Gespensterwald zu sein. »Nie wieder will ich ungeduldig sein«, erklärte Minkie der Familie. »Und nie wieder wütend«, flüsterte Pinkie kleinlaut.«

      »Na das wollen wir einmal sehen«, lacht die Großmutter.

      Minkie und Pinkie baten den Großvater, den alten Spinnenopa aus dem Hochhauskeller in Shanghai herzuzaubern, auch den kleinen, grünen Grashüpfer und die vier kleinen Mäusekinder.

      »Sie sollen nicht länger ohne Artgenossen in dem stinkenden, lauten Keller sein müssen«, erklärte Pinkie. »Bei uns im Wald wird es ihnen gefallen.« Und Opa Aram nickte.

      Zwei Tage später fand im Gespensterwald das größte und schönste Weihnachtsfest aller Zeiten statt. Alle Gespensterfamilien des Waldes waren anwesend und selbst von weit außerhalb der Landesgrenzen waren Angehörige angereist. Sie kamen aus Amerika, Afrika, Polen, Griechenland, Spanien, aus Russland, Kroatien und vielen anderen Ländern. Und der Gespensterwald glich einem Weihnachtswunderwald. Allüberall in den Tannenspitzen sah man Tausende goldene Lichtlein sitzen, Tausende von Wunderkerzen