hatte. Auch hier war die Terrasse stark frequentiert, aber davon ließ ich mich nicht beeindrucken. Mit dem Rücken zum Restaurant hielt ich das Handy vor mich, achtete darauf, dass das bunte TAVERNA-Schild gut zu erkennen war, lächelte breit und drückte auf den Auslöser. Eine schöne Aufnahme von mir, lächelnd und mit Sonnenbrille vor einem der angesagtesten Lokale Stockholms, tauchte auf dem Display auf. Ich musste sie sofort bei Instagram teilen und schrieb noch darunter: »Eeeeendlich in Stockholm! Jetzt fängt mein neues Leben an!«
Dann setzte ich mich an einen der Tische und versuchte, so auszusehen, als hätte ich nie etwas anderes getan, als Kaffee bei Brillo in der Sonne zu trinken. Der Typ am Nebentisch lehnte sich lächelnd zu mir und sagte: »Neu in der Stadt?«
»Ist es so offensichtlich?«, fragte ich verlegen.
Die Bedienung kam, und ich bestellte einen einfachen Kaffee. Unter meinem Instagrambild wuchs die Zahl der Likes, auch Kommentare kamen dazu: »Ooooh, Glückspilz!«, von Lina, »Coole Sara«, schrieb meine Freundin Sally und »Wünschte, ich wäre auch da« Flisan. Dann wurde es wieder still.
Ich lehnte mich zurück. Der Typ neben mir war weg, stattdessen nahmen ein paar hübsche Mädels den Tisch in Beschlag. Sie steckten von Kopf bis Fuß in exklusiven Markensachen, Modell »Gammel-Samstag«: Trainingshose von Nike, Tigerpulli von Kenzo. Ihre Jacken waren garantiert von Moncler, die Schuhe Vans oder Adidas. Ich zog langsam meine Füße mit den abgetragenen Chucks unter den Stuhl.
Eine Woge von Einsamkeit überkam mich. Wem wollte ich denn eigentlich etwas vormachen? Meine neue Bleibe in Stockholm bestand aus einem gemieteten Zimmer bei einer unheimlichen Alten in Vällingby und mein spannender Job daraus, in Sundbyberg als Kartoffelschälerin zu schuften. Ich ließ mein Leben in den sozialen Medien besser erscheinen, als es in Wirklichkeit war; warum, konnte ich nicht mal sagen. Ich wollte nicht, dass andere mich bemitleideten, sondern sehnte mich nach echter Gemeinschaft, so wie ich sie beim Militär erlebt hatte.
Aber diese Zeit war vorbei. Jetzt saß ich bei Brillo, zwischen den Schönsten Stockholms, die sicher sowohl am Stureplan wohnten als auch arbeiteten. Ich hingegen hatte eine inzwischen kalt gewordene Tasse Kaffee vor mir und wagte nicht mal, die Bedienung zu bitten, mir nachzuschenken.
Um ein Uhr stand ich auf der Treppe vor dem Theater Dramaten und wartete auf Björn. Ich war zu früh und Björn wie immer genau pünktlich. Papa hatte darüber oft gescherzt, als sie Kollegen waren: dass man die Uhr nach Björn stellen konnte und dass das einer der Gründe für sein beispielloses berufliches Vorankommen bei verschiedenen Behörden war. Mein Vater und Björn hatten sich früh durch den Job kennengelernt und seither den Kontakt gehalten, ohne dass der Rest der Familie richtig verstand, warum – wir fanden alle, dass Björn und Papa unterschiedlicher nicht sein konnten. Jetzt erkannte ich Björn bereits aus der Ferne, das halblange, stahlgraue Haar zurückgekämmt, wie es sonst die Grünschnäbel in der Finanzbranche für gewöhnlich trugen. Björn war immer gut gekleidet: Heute trug er eine Jeans und einen Pullover unter einem kamelfarbenen Mantel. Ein Paar Lederhandschuhe rundete das Outfit ab.
»Hallo, Sara«, sagte er und umarmte mich. »Wie schön, dich zu sehen! Dann können wir ja los?«
Björn wollte mich eigentlich zum Essen einladen, aber ich wollte lieber eine Runde in Djurgården spazieren gehen. Mein Plan war, das Ganze sehr kurz zu halten. Wir schlenderten über den Strandvägen und dann rechts über die Brücke. Von dort wollte Björn sich links halten, am Wasser entlang, und ich stimmte sofort zu, weil ich vorhatte, schon bald zu behaupten, zurück zu Simåns zu müssen, und dann bei Djurgårdsbrunn in den Bus zu steigen. Wir kamen am Restaurant Ulla Winbladh vorbei, wo ein Kiesweg die Straße ablöste, auf dem nicht so viele Menschen unterwegs waren. Björn schielte zu mir herüber.
»Wie geht es dir?«, fragte er.
Ich setzte eine unschuldige Miene auf.
»Gut, das hab ich doch schon gesagt«, antwortete ich. »Als du die Frage vorhin gestellt hast und ich sie dir beantwortet habe.«
Björn lächelte.
»Ja, aber jetzt hätte ich gern die echte Antwort.«
Langsam wurde ich wütend. Björn und Fabian glaubten beide, sie wären fantastische Menschenkenner, die genau wussten, wie es uns allen »eigentlich« ging, und uns das nur zu gern erzählen wollten.
Oder lag es daran, dass ich gerade viel zu reizbar war?
Ich lächelte Björn gezwungen an.
»Mir geht es nichts als gut«, sagte ich. »Und selbst?«
Mein Ton war ironischer als beabsichtigt. Björn sagte sicher eine Minute lang nichts, sondern ging einfach weiter. Ich lief neben ihm her, bis ich mich beruhigt hatte.
»Entschuldige«, sagte ich dann. »Ich wollte nicht unhöflich sein.«
»Du weißt, dass ich mich nicht aufdrängen will«, sagte Björn. »Mir lag sehr viel an Lennart, und ich möchte einfach nur sicherstellen, dass es dir und Lina gut geht. Und Elisabeth, selbstverständlich. Wenn ich irgendwas tun kann, um euch zu unterstützen, mache ich das wirklich gern. Was auch immer es ist.«
»Das ist toll«, sagte ich. »Aber mir fällt wirklich nichts ein, bei dem wir Unterstützung bräuchten. Sollte sich das ändern, melde ich mich gern.«
Wir liefen eine ganze Weile schweigend weiter, und ich suchte nach einem guten Gesprächsthema. Als ich gerade den Mund öffnen und Björn fragen wollte, wie es um seine Pläne stand, ins Ausland zu gehen, kam uns jemand entgegen. Eigentlich sah er ziemlich alltäglich aus mit seiner Jeans und Jacke, wäre da nicht dieser auffällige schwarze Hut auf seinem Kopf gewesen, der nicht zu seiner sonstigen Aufmachung passte. Zorro, dachte ich grinsend und wollte gerade eine lustige Bemerkung machen, da kam der Mann zu uns. Björn blieb zunächst wie angewurzelt stehen, dann entfernten sie sich ein paar Schritte und sprachen leise miteinander. Auch ich blieb stehen, zutiefst verwundert. Wer war das, und was wollte er? Kannte er Björn?
Meine Verwunderung steigerte sich, als ich beobachtete, wie sich der Mann zu Björn lehnte und ihm einen Arm um die Schultern legte. Es sollte wohl eigentlich eine freundliche Geste sein, machte aber einen bedrohlichen Eindruck. Der Mann drückte Björn mit gespielter Zärtlichkeit ein paarmal seitlich an sich und schüttelte ihn dabei leicht, dann lächelte er. Björn hingegen sah todernst aus, fast blass.
»War jedenfalls schön, dich zu sehen, Björn«, sagte der Mann laut. »Du musst wirklich gut auf dich aufpassen. Wir bauen auf dich, das weißt du.«
Björn antwortete nicht. Nach wenigen Sekunden ließ der Mann von ihm ab, nickte mir aufmunternd zu und ging dann weiter. Ich schaute ihm verwundert nach. Björn rollte ein paarmal die Schultern, als wäre er soeben eine große Last losgeworden.
»Wer war das?«, fragte ich.
»Niemand«, antwortete Björn. »Vielmehr: jemand, den ich über die Arbeit kenne. Aber niemand Wichtiges.«
Wir setzten uns wieder in Bewegung.
»Du siehst gestresst aus«, sagte ich nach einer Weile. »Willst du das nicht vielleicht doch erklären?«
Björn schwieg, dann blieb er plötzlich stehen. Ich auch. Und so standen wir da und betrachteten einander.
Björn war genauso alt wie mein Vater, etwas über sechzig, aber er wollte offenbar jünger wirken. Ich wusste, dass er ziemlich eitel war, dass er Motorrad fuhr und gerade frisch geschieden war. Ich untersuchte ihn mit unvoreingenommenem Blick: das lange Haar; die leichte Bräune – Bräunungscreme? –, die sich seit dem Sommer hielt; die teure und maßgeschneiderte Kleidung. Mit einem Mal erfüllte mich eine so heftige Verachtung, dass ich mich fast dafür schämte: Die Verachtung eines jungen Menschen für einen älteren, der unbedingt jung erscheinen wollte, und dann wurde ich rot. Seit wann war ich so hart, ohne eine Unze Mitgefühl? Lag es an meiner Wut darüber, dass er sich weigerte, meine Fragen zu beantworten? Ich machte schließlich genau das Gleiche.
Beim nächsten