Louise Boije af Gennäs

Blutblume


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riss mir die Dose aus der Hand und betrachtete sie. Dann schaute sie mich an.

      »Irgendwas stimmt mit Ihnen nicht«, sagte sie. »Ich bin es nicht gewohnt, an jemanden wie Sie zu vermieten.«

      Ich konnte nichts dafür, ich musste kichern. Tief in mir drin brodelte es allmählich vor Wut.

      »Ist es wahr, dass Sie hier drin mit Rattengift herumhantieren?«, fragte ich. »Sie wissen, dass das verboten ist, oder?«

      Siv sah mich an, als wäre ich komplett durchgedreht.

      »Sind Sie nicht ganz bei Sinnen?«, fragte sie. »Rattengift in einer Küche?«

      Dann fiel ihr Blick auf Simåns. Und sie explodierte.

      »Schaffen Sie die Katze hier weg!«, brüllte sie. »Hier werden Lebensmittel gelagert!«

      Ich nahm Simåns auf den Arm, drehte mich um und ging.

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      In der folgenden Nacht konnte ich nicht richtig schlafen, dümpelte eher in einer Art Halbschlaf herum. Weitere Tabletten wollte ich nicht nehmen; nie im Leben. Stattdessen durfte sich der dunkle Schatten aus dem Vällingby Centrum frei im Zimmer bewegen; glitt über den Boden zwischen Kommode und Schrank, dann weiter bis zur Türschwelle und von dort unters Bett. Da konnte ich ihn fauchen hören.

      Wie so oft war ich wieder in Örebro, im Mördertunnel, dem dunkleren und längeren der beiden Tunnel, die unter der Östra Bangatan und den Eisenbahngleisen hindurchführten. Genau wie damals war es Winter, kurz nach zehn Uhr abends, und ich war unterwegs zu Flisans Mädelsabend in der Brogatan. Ich hatte eine Flasche Wein dabei, und ich war zu spät, aber als ich mich endlich fertig zurechtgemacht hatte, entschied ich mich trotzdem gegen ein Taxi, weil mir das zu teuer war und ich sowieso lieber etwas frische Luft tanken wollte. Als ich von zu Hause losging, schickte ich Flisan eine Nachricht: »Verlasse Rynninge NOW! Wein hab ich dabei!« Und sie antwortete: »Wir glühen schon mal vor, bis du da bist!« Gefolgt von einer Menge Emojis fröhlicher Mädels und gut gefüllter Weingläser. Ich kam auf den Kasernvägen, und da hatte ich schon das Gefühl, dass mir jemand folgte, aber als ich mich umschaute, war niemand zu sehen. Hinter der Olaus-Petri-Schule bog ich in den Arlavägen und ging das kurze, asphaltierte Stück zu dem ersten Tunnel hinunter …

      Wie oft war ich diesen Weg nun schon abgelaufen – in der Erinnerung und im Traum?

      Der erste Tunnel war kurz, an beiden Seiten von Neonröhren beleuchtet und mit grotesk romantischen Bildern von blühenden Wiesen und einem Ritter auf einem Schimmel verziert. Diesen Tunnel fand ich immer entsetzlich. Der andere war von Graffiti und bunten Tags übersät und fühlte sich immer wesentlich weniger gruselig an als der übertrieben romantische.

      Ich hielt die Plastiktüte mit der Weinflasche fest in der Hand und betrat den ersten Tunnel. Mittendrin traf ich auf einen Radfahrer, der mich aber schnell hinter sich ließ. Dann tauchte der zweiten Tunnel vor mir auf, der genauso aussah wie sonst auch, mit seinen besprayten Wänden. Außerdem war er leer.

      In diesem Moment klingelte mein Handy, und ich ging dran. Es war Flisan, im Hintergrund eine Kakofonie aus Mädchenstimmen, Mädchenlachen und Mädchenkreischen.

      »Wo bleibst du denn?«, brüllte sie. »Wir sehnen uns nach dir! Warum dauert es so lange?«

      »Weil ich zu Fuß komme«, sagte ich. »Ich bin gerade am Mördertunnel.«

      »Sie kommt zu Fuß! Sie ist gerade am Mördertunnel!«, brüllte Flisan in den Raum, woraufhin gepfiffen, geheult und gejohlt wurde. »Jetzt beeil dich mal, Sara! Wir warten auf dich!«

      Wir legten auf. Ich wollte gerade weitergehen und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf den zweiten Tunnel.

      Dort war es jetzt kohlrabenschwarz.

      Die Lampen hatten plötzlich den Dienst versagt. Der Tunnel war relativ lang und stockdunkel. Aber ich war schnell und gut trainiert; im schlimmsten Fall hätte ich die Strecke vom einen zum anderen Ende in einer oder zwei Minuten hinter mich gebracht. Selbst auf diesem Stück zwischen den Tunneln bewegte ich mich ja schon durch eine Art Halbdunkel von Laterne zu Laterne. Oben hinter mir rauschte der Verkehr über die Östra Bangatan. Vor mir, jenseits des Eisenbahntunnels, lag ein dunkler und unschöner Teil des Lillån, der von einem Grünstreifen mit dichtem Gebüsch und fast keiner Straßenbeleuchtung gesäumt war. Ich wurde langsamer. Plötzlich waren da vereinzelte, beunruhigende Geräusche: Zweige, die brachen; Schritte. Als ich mich umschaute, war da niemand, und ich musste sofort an das denken, was Papa immer sagte: »Sara, du darfst nie vergessen, dass du mit einer sehr lebhaften Fantasie gesegnet bist.«

      Im Traum wie in Wirklichkeit bog ich in den dunklen Tunnel. Mein Herz schlug wild – und dann plötzlich, aus dem Nichts: Hände, die nach mir griffen, mich zu Boden drückten und mir einen Sack über den Kopf zogen, dass ich glaubte, ersticken zu müssen. Hände, die … Ich setzte mich so schnell auf, dass Simåns in hohem Bogen auf den Boden flog, laut jammernd. Mein Herz raste, und ich war schweißgebadet.

      »Tief atmen«, hatte die Verhaltenstherapeutin in Örebro gesagt, immer wieder, das gesamte Frühjahr hindurch. »Mach das, was wir allen anderen Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen empfehlen, wenn eine Erinnerung wieder zum Leben erwacht: Konzentriere dich auf die Atmung, konzentriere dich auf die Wirklichkeit, deine direkte Umgebung. Du bist nicht länger in Gefahr. Was passiert ist, ist passiert, und dein Körper erinnert sich daran, wird dich noch viele Male daran erinnern. Aber du kannst Einfluss darauf nehmen. Du kannst den Erinnerungen begegnen. Tief atmen. Entspannen. Konzentriere dich auf deine Umgebung und erinnere dich daran, dass du in Sicherheit bist. In Sicherheit!«

      Ich atmete tief und konzentrierte mich auf meine Umgebung: die kleine Bettlampe, den orangefarbenen Bettüberwurf auf dem Stuhl, meine Arbeitskleidung, die ich schon auf der Kommode bereitgelegt hatte. Ich war bei Siv in Vällingby. Wenn jemand mich zum Narren hielt, würde ich den Grund dafür herausfinden; ich hatte schließlich eine militärische Ausbildung. Es gab keine dunklen Schatten um mich, weder mit grünen Augen noch ohne.

      Trotzdem sendete mein Körper Signale, als würde ich mich in akuter Lebensgefahr befinden. Erst als ich mich fast leer geweint hatte, fiel ich in einen tiefen und traumlosen Schlaf.

      2. KAPITEL

      In der zweiten Woche trat schon eine Art Gewöhnungseffekt ein. Das Wochenende war ruhig und ereignislos gewesen, und ich hatte entschieden, dass sich alle Ereignisse – Rattengift, Stimmen, Feuer – auf Albträume und Zufälle zurückführen ließen. Am Montag stand ich um 6 Uhr 45 auf, öffnete Glockenschlag 7 Uhr lächelnd Jalil die Badezimmertür und steckte um Punkt 8 Uhr 15 den Schlüssel ins Schloss des Cafés, eine Viertelstunde, bevor Eva und Gullbritt eintrafen, weshalb es mir gelang, einen großen Latte mit Zucker zu trinken und die gesamte Dagens Nyheter durchzublättern, ohne dass sie davon irgendetwas mitbekamen. Gestärkt durch diesen Energie- und Informationsschub, machte ich mich an die Arbeit, schälte Rinkeby-Kartoffeln im Überfluss, knetete Sauerteig, briet und schnitt Hühnerbrüste, überzog Möhrenkuchen mit Frischkäse-Frosting und brachte mir zu guter Letzt bei, wie die Kasse funktionierte. Am Nachmittag bedachte Eva mich mit einem bittersüßen Lächeln und einer gehobenen Augenbraue.

      »Auch wenn du mir nicht ganz geheuer bist, Fleiß kann man dir jedenfalls nicht absprechen«, sagte sie. »Möchtest du morgen mitkommen nach Rinkeby?«

      Es gab nur eine Antwortmöglichkeit auf dieses einmalige Freundschaftsangebot – JA, GERNE –, weshalb ich am folgenden Morgen bereits um fünf aufstehen und mich nach Sundbyberg begeben musste, um dort auf Eva zu warten, die mich mitnahm zum Markt alias Rinkeby torg, wo ich ihre Säcke voller Wurzelgemüse schleppen durfte.

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      Rinkeby torg lag bloß drei U-Bahn-Stationen von Sundbyberg entfernt, aber es war, als würde man in ein anderes Universum eintauchen. Ungefähr neunzig Prozent der Einwohner