Rainer Patzlaff

Die Sphinx des digitalen Zeitalters


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Zeitung oder im Radio angewiesen, um zu erfahren, was in der Welt vorgeht, konnte man jetzt, so meinte man, alles «mit eigenen Augen» sehen. Etwas wie Magie schien dem Fernseher anzuhaften: Ohne dass der Zuschauer sich von der Stelle rührte, entrückte ihn das Gerät an den Ort des Geschehens, wo er unmittelbar «am Ball» war und bei jedem Tortreffer gemeinsam mit den fernen Stadionbesuchern jubeln konnte. An diesen prickelnden Effekt des Dabeiseins reichten selbst gute Dokumentarfilme nicht heran, weil sie immer erst nachträglich erschienen.

      Damit war der Weg bereitet für die rasante Ausbreitung des Fernsehens im ganzen Land, und bald schon gehörte die «Glotze», wie man sie spöttisch nannte, zur festen Einrichtung jedes Wohnzimmers und wurde extensiv genutzt. Die berechtigten Warnungen vor einem allzu ausgiebigen Fernsehkonsum, besonders bei Kindern, stießen auf taube Ohren, und so zeigten sich mit der Zeit immer gravierendere Folgen, die hier aber nicht thematisiert werden sollen.10

       Fernsehen als Fenster zur Welt

      Es verdient festgehalten zu werden, dass die Begeisterung des Publikums für das Fernsehen nicht allein der Sensationsgier entsprang. Was dabei von Anfang an mitschwang, war die freudige Entdeckung, plötzlich angeschlossen zu sein an das Weltgeschehen und aktuelle Ereignisse quasi hautnah miterleben zu können, ohne vor Ort zu sein. «Bei uns sitzen Sie in der ersten Reihe», lautete der kesse Werbespruch von ARD und ZDF, und so wurde es auch empfunden, denn die Fernsehkamera holte alles Ferne auf Greifweite heran. Ein für den Menschen der Neuzeit charakteristischer Drang machte sich hier geltend, der bereits mit den Entdeckungsfahrten der Portugiesen und Spanier begonnen hatte, nämlich die große ferne Welt kennenzulernen und über die Enge des eigenen Horizonts hinauszublicken. In der anbrechenden Neuzeit wurde das Interesse des Publikums durch unzählige Flugschriften aus der soeben erfundenen Druckerpresse befriedigt, jetzt aber wurde dem Sehsinn selbst das «Fenster zur Welt» geöffnet.

      In diesem Bedürfnis lag und liegt der Keim für eine Fähigkeit, die in unserem Jahrhundert unverzichtbar wird für den Erhalt unseres Planeten, der durch die Klimakrise und viele andere Nöte in höchste Bedrängnis geraten ist. Der Allgemeinheit ist endlich bewusst geworden, dass die Menschheit nur dann überleben kann, wenn sie ihren Blick auf den gesamten Lebensraum Erde richtet und sich verantwortlich für dessen Erhaltung und Pflege einsetzt.

      Den globalen Blick zu fördern und ein erdumspannendes Bewusstsein zu wecken, dazu könnte das Fernsehen – sinnvoll genutzt – einen wichtigen Beitrag leisten, indem es das notwendige Okular für die erweiterte Weltwahrnehmung zur Verfügung stellt. Ob es allerdings in seiner heutigen Form dem gerecht wird, ist fraglich. Die Sehzeiten im Schnitt der bundesdeutschen Bevölkerung sind (ähnlich wie in den USA) im Laufe der Jahrzehnte exorbitant angestiegen,11 und nur ein geringer Teil davon dient der Information über aktuelle Geschehnisse; der weitaus größte Teil wird mit Unterhaltungssendungen aller Art gefüllt. Nur bei besonders erregenden Zeitereignissen wie beispielsweise Natur- und Kriegskatastrophen kommt das «Fenster zur Welt» wieder zu seinem Recht, abzulesen an dem oft beeindruckenden Spendenaufkommen, das ohne die schockierenden Bilder aus fremden Ländern niemals in dieser Höhe und in dieser Geschwindigkeit zusammengekommen wäre.

      Wir dürfen also feststellen: Das Medium Fernsehen könnte ein bedeutsames Wahrnehmungsinstrument sein, das den Sinn für die Weltprobleme schärft. Wohlgemerkt: es könnte. Bleibt nur die Frage: Wie kommt es, dass diese mögliche Funktion immer wieder überdeckt und erstickt wird durch belanglose Zerstreuung, die den Willen der Menschen zu tatkräftiger Gestaltung der Welt eher lähmt als fördert? Wer sind diejenigen, die ein Interesse haben an dieser ständigen Ablenkung vom Wesentlichen?

       Computergestützte Medien

      In denselben Jahrzehnten, in denen das Fernsehen sich über alle Kontinente verbreitete (von mir exemplarisch am deutschen Beispiel demonstriert), erlebte auch die kurz vor Kriegsende begonnene Entwicklung des elektronischen Computers einen rasanten Aufschwung. Die zunächst noch tonnenschweren Geräte wurden in staunenswertem Tempo immer kleiner, und die Rechenleistung wurde gleichzeitig immer größer. Je weiter die Wissenschaft Hand in Hand mit den Ingenieuren vorankam, desto vielfältiger wurden die technischen Anwendungsmöglichkeiten. Die Forschung verschlang zwar gewaltige Summen, doch wusste man einen großen Teil davon wieder hereinzuholen durch die Eröffnung eines neuen Wirtschaftszweigs: Den jeweils erreichten Stand der Technik nutzte man auf der Stelle zur Entwicklung von Videospielen, Spielautomaten, Spielekonsolen und Computerspielen, die durch ihren millionenfachen Verkauf «zu einer der einflussreichsten Freizeitgestaltungsformen des 21. Jahrhunderts» geworden sind, wie Wikipedia euphemistisch vermerkt. Immer mehr junge Menschen zwischen 15 und 25 Jahren machen heute reichen Gebrauch von diesen Angeboten, freilich mit häufig unangenehmen Folgen, über die noch zu berichten sein wird.

      Nicht weniger bedeutsam war der in den 1970er-Jahren einsetzende Übergang von den Großcomputern alter Art, mit denen nur Spezialisten, Techniker oder Wissenschaftler arbeiteten, zu kleineren, für individuelle Bedürfnisse nutzbaren Mehrzweckcomputern, die als Personal Computer (PC) bezeichnet wurden. Sie eroberten sich ihren Platz nicht nur in unzähligen Privathaushalten, sondern revolutionierten auch weltumspannend die gesamte Arbeitswelt. Kein Büro ist heute mehr denkbar ohne einen PC mit Internetanschluss.

      Last but not least profitierte auch das Fernsehen von diesen Fortschritten, und zwar durch die Einführung des digital ansteuerbaren Flachbildschirms, der aufgrund seiner geringen Tiefe, seines geringeren Energieverbrauchs und vieler weiterer Vorteile die klobige Kathodenstrahlröhre völlig verdrängt hat. Mit ihm sind heute Bildschirmgrößen erreichbar, die mit der alten Technik unmöglich gewesen wären.

       Das Internet

      Der Vorläufer des Internets, das 1969 eingerichtete ARPANET zwischen den Großrechnern amerikanischer Universitäten, wurde oben schon erwähnt. 1989 konzipierte der britische Informatiker Tim Berners-Lee das «World Wide Web» (WWW), das 1990 zur kommerziellen Nutzung freigegeben wurde und sich fortan ständig weiterentwickelte. Das schon ab dem 19. Jahrhundert aufgebaute interkontinentale Kabelnetz für Telegrafie und Telefonie wurde durch Funkverbindungen und vor allem durch hochleistungsfähige Glasfaserkabel ersetzt, die es in Verbindung mit der Digitaltechnik ermöglichen, weltweit nahezu in Echtzeit Daten jeglicher Art und jeglicher Menge auszutauschen, nicht nur Texte und Audiodateien, sondern auch Videodateien, komplette Computerprogramme und deren Updates und sogar Telefonie und Videotelefonie (z.B. Skype), um nur einige Anwendungen zu nennen.

      Ab 2004 wuchsen die Social-Media-Plattformen (Facebook, Twitter, Instagram und andere) zu speziellen Netzwerken von ungeahnten Dimensionen heran: Die Zahl der Nutzer stand im Juli 2019 weltweit bei mehr als 3,5 Milliarden. Das bedeutet: Fast die Hälfte der Weltbevölkerung nimmt daran teil!

      Zu den Massenmedien kann auch die 2001 begründete, gratis benutzbare Website Wikipedia gezählt werden, eine ständig aktualisierte Enzyklopädie, die zu einer Fülle von Wissensgebieten detaillierte Auskunft gibt. Im Januar 2019 bot sie mehr als 49,3 Millionen Artikel in annähernd 300 Sprachen.

      Insgesamt ist ohne Übertreibung festzustellen, dass heute der größte Teil der Menschheit in der einen oder anderen Weise in das World Wide Web eingebunden ist, teils kommerziell und beruflich, teils privat. Es scheint sich zu bestätigen, was Fachleute immer wieder raunten: Das Internet hat zu der größten Umwälzung des Informationswesens seit der Erfindung des Buchdrucks geführt. Man darf von einer Revolution sprechen.

       Das Smartphone

      Ihren (einstweiligen) Gipfelpunkt erreichte diese Revolution am 9. Januar 2007. An diesem Tag stellte Steve Jobs, der Chef des Computerherstellers Apple, der Öffentlichkeit das neueste Produkt seiner Firma vor: das «iPhone». Entgegen den Usancen der Wirtschaft, jedes neue Erzeugnis in den höchsten Tönen zu loben, stellte Jobs nüchtern fest: «Today Apple is going to reinvent the phone.»12