Gabor Mate

Im Reich der hungrigen Geister


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monatlichen Telefonate. „Schicken Sie mir bitte mein Methadon-Rezept?! Ich will es nicht abholen, sonst werde ich wieder in den Drogenkonsum gezogen.“ Die Mitarbeiter, die sie in der Rehaklinik besuchten, berichteten, dass sie lebhaft war, eine gute Gesichtsfarbe hatte und fröhlich und optimistisch wirkte. Trotz ihres Heroin-Rückfalls war ihr Tod ein Schock, und selbst jetzt, wo ihr Körper in der Kapelle aufgebahrt ist, ist er schwer zu akzeptieren. Ihre Lebendigkeit, Heiterkeit und unbändige Energie waren so sehr Teil unseres Lebens gewesen. Nach den freundlichen und feierlichen Worten des Priesters hätte Sharon aufstehen und mit uns anderen hinausgehen sollen.

      Nach dem Gottesdienst mischen sich die Trauernden noch eine Weile auf dem Parkplatz, bevor sie ihre getrennten Wege gehen. Es ist ein heller, strahlender Tag, zum ersten Mal in diesem Jahr zeigt die Frühlingssonne ihr Gesicht am Himmel von Vancouver. Ich begrüße Gail, eine Ureinwohnerin, die sich tapfer dem Ende ihres dritten Monats ohne Kokain nähert. „Siebenundachtzig Tage“, strahlt sie mich an. „Ich kann es nicht glauben.“ Es ist nicht nur eine Übung in Willenskraft. Gail wurde vor zwei Jahren wegen einer heftigen Unterleibsinfektion ins Krankenhaus eingeliefert und bekam einen künstlichen Darmausgang, damit sich ihre entzündeten Eingeweide erholen konnten. Die durchtrennten Darmabschnitte hätten schon längst wieder operativ zusammengefügt werden müssen, aber der Eingriff wurde immer wieder abgesagt, weil Gails intravenöser Kokainkonsum die Heilungschancen gefährdete. Der ursprüngliche Chirurg hatte es abgelehnt, noch einmal einen Termin mit ihr zu machen. „Ich habe den OP-Saal mindestens dreimal umsonst gebucht“, sagte er mir. „Ich werde es nicht noch einmal machen.“ Ich konnte seiner Logik nicht widersprechen. Ein anderer Spezialist erklärte sich widerwillig bereit, mit der Behandlung fortzufahren, aber nur unter der strengen Bedingung, dass Gail vom Kokain fernbleibt. Wenn sie diese letzte Gelegenheit verpasst, kann sie für den Rest ihres Lebens ihren Kot in den Plastikbehälter entleeren, der an ihren Bauch geklebt ist. Sie hasst es, den Beutel wechseln zu müssen, manchmal mehrmals am Tag.

      „Alles klar, Doc?“, begrüßt mich der stets gut gelaunte Tom und knetet mir leicht die Schulter. „Schön Sie zu sehen. Sie sind ein guter Mann.“ „Danke“, sage ich. „Sie auch.“ Die magere Penny, die immer noch von ihrer kräftigen Freundin Beverly gestützt wird, schlurft davon. Sie stützt sich mit der rechten Hand auf ihre Gehhilfe und schattet mit der linken Hand ihre Augen gegen die Mittagssonne ab. Penny hat erst vor Kurzem eine sechsmonatige intravenöse Antibiotika-Kur gegen eine Wirbelsäuleninfektion abgeschlossen, die sie bucklig und wackelig auf den Beinen werden ließ. „Ich hätte nie erwartet, dass Sharon vor mir stirbt“, sagt sie. „Letzten Sommer im Krankenhaus dachte ich wirklich, ich wäre erledigt.“ „Du warst kurz davor, selbst mich zu erschrecken“, antworte ich. Wir lachen beide.

      Ich blicke auf diese kleine Gruppe von Menschen, die sich zur Beerdigung einer Gefährtin, die mit Mitte dreißig den Tod fand, versammelt hatte. Wie stark ist die Sucht, denke ich, dass weder körperliche Erkrankungen und Schmerzen, noch psychische Qualen den tödlichen Einfluss auf die Seelen abschütteln können. „Wenn man 1944 in den Arbeitslagern der Nazis einen Mann beim Rauchen einer Zigarette erwischte, starb die ganze Baracke“, sagte mir ein Patient namens Ralph einmal. „Für eine Zigarette! Trotzdem gaben die Männer ihre Inspiration, ihren Lebenswillen und ihren Lebensgenuss nicht auf, den sie durch bestimmte Substanzen wie Schnaps oder Tabak oder was auch immer vom Leben bekamen.“ Ich weiß nicht, wie historisch genau seine Schilderung war, aber als Chronist seiner eigenen Drogenbedürfnisse und der seiner Mitsüchtigen aus der Hastings Street sprach Ralph die nackte Wahrheit: Menschen setzen ihr Leben aufs Spiel für einen lebenswerten Augenblick. Nichts bringt sie von der Gewohnheit ab – nicht Krankheit, nicht das Opfer von Liebe und Beziehungen, nicht der Verlust aller irdischen Güter, nicht der Zusammenbruch ihrer Würde, nicht die Angst vor dem Sterben. So unerbittlich ist die Sucht.

      Wie kann man die tödliche Macht der Drogenabhängigkeit verstehen? Warum spritzt Penny sich weiterhin Drogen, nachdem die Wirbelsäuleninfektion sie fast querschnittsgelähmt hat werden lassen? Warum kann Beverly trotz ihrer HIV-Infektion, der wiederkehrenden Abszesse, die ich an ihrem Körper drainieren musste, und der Gelenkinfektionen, die sie immer wieder ins Krankenhaus brachten, nicht aufhören, Kokain zu spritzen? Was hat Sharon wohl nach ihrem sechsmonatigen Rückzug wieder nach Downtown Eastside und zu ihrer selbstmörderischen Sucht gezogen? Wie konnte sie die abschreckende Wirkung von HIV und Hepatitis, von der lähmenden Knocheninfektion und den chronisch brennenden, stechenden Schmerz freiliegender Nervenenden ignorieren?

      Wie wunderbar wäre die Welt, wenn die vereinfachende Sichtweise zuträfe, dass negative Konsequenzen allein reichen, um Menschen eine harte Lektion zu erteilen. Dann wären alle Fast-Food-Franchise-Unternehmen Eintrittskarten für den Bankrott, die Fernsehzimmer wären verwaiste Räume in unseren Häusern und das Portland Hotel könnte sich als etwas Lukrativeres neu erfinden: vielleicht als Komplex mit Luxuswohnungen mit mediterranem Anspruch für Yuppies aus der Stadt, ähnlich wie die bereits verkauften Eigentumswohnungen „Firenze“ und „España“ um die Ecke, die noch im Bau sind.

      ———

      Auf der physiologischen Ebene ist Drogenabhängigkeit eine Sache der neurochemischen Vorgänge, die unter dem Einfluss einer Substanz schieflaufen, und zwar, wie wir sehen werden, noch bevor der Konsum von bewusstseinsverändernden Substanzen beginnt. Aber wir können den Menschen nicht auf seine neurochemischen Vorgänge reduzieren; und selbst wenn wir es könnten, entwickelt sich die Gehirnphysiologie des Menschen nicht getrennt von seinen Lebensereignissen und seinen Emotionen. Das spüren die Süchtigen. So einfach es auch wäre, die Verantwortung für ihre selbstzerstörerischen Gewohnheiten einem chemischen Phänomen zuzuschreiben, es tun dies nur wenige. Nicht viele akzeptieren die eng gefasste medizinische Betrachtung der Sucht als Krankheit, trotz des tatsächlichen Wertes dieses Modells.

      Was ist der in der Tat tödliche Reiz des Drogenkonsums? Das ist eine Frage, die ich vielen meiner Klienten an der Portland-Klinik gestellt habe. „Sie haben dieses elende, geschwollene Bein und diesen Fuß – rot, heiß und schmerzhaft“, sage ich zu Hal, einem freundlichen, lustigen Mann in den Vierzigern, einem meiner wenigen männlichen Patienten ohne Vorstrafen. „Sie müssen sich jeden Tag für die intravenös verabreichten Antibiotika in die Notaufnahme schleppen. Sie haben HIV. Und trotzdem hören Sie nicht auf, weiterhin Speed zu spritzen. Was, glauben Sie, steckt für Sie dahinter?“

      „Ich weiß es nicht“, murmelt Hal. Sein zahnloses Zahnfleisch verwischt seine Worte. „Sie fragen jeden … auch mich, warum man seinem Körper etwas verabreicht, das einen fünf Minuten später sabbern und gefühlsduselig werden lässt, Sie wissen schon, etwas, das die Gehirnwellen-Muster so verzerrt, dass man nicht mehr vernünftig denken und sprechen kann – und man es dann grad wieder tun will.“ „Und Ihnen einen Abszess am Bein beschert“, füge ich hilfreich hinzu. „Ja, ein eiterndes Bein. Und warum? Ich weiß es wirklich nicht.“

      Im März 2005 hatte ich eine ähnliche Diskussion mit Allan, der ebenfalls in seinen Vierzigern war und HIV hatte. Wenige Tage zuvor war er mit heftigen Brustschmerzen ins Krankenhaus von Vancouver eingeliefert worden. Ihm wurde gesagt, dass er wahrscheinlich eine aufflammende Endokarditis, eine Infektion der Herzklappen, habe. Da Allan sich weigerte, stationär aufgenommen zu werden, stellte er sich stattdessen in der Notfallstation von St. Paul’s vor, um eine zweite Meinung einzuholen, wo man ihm versicherte, dass alles in Ordnung sei. Nun war er in meiner Praxis, um sich eine dritte Beurteilung zu holen.

      Bei der Untersuchung stelle ich fest, dass er zwar nicht akut krank ist, sich aber dennoch in einem schrecklichen Zustand befindet. „Was soll ich tun, Doc?“, fragt er, hebt die Schultern und breitet die Arme in hilfloser Bestürzung aus. „Okay“, sage ich und sehe mir sein Krankenblatt an. „Ihr Vater starb an einer Herzkrankheit, ebenso Ihr Bruder. Sie sind starker Raucher. In Ihrer Vorgeschichte gab es bereits eine Endokarditis durch intravenösen Drogenkonsum. Ich behandle Sie zwar gegen Herzinsuffizienz, doch selbst jetzt sind Ihre Beine geschwollen, weil Ihr Herz nicht mehr effizient pumpt. Ihre HIV-Infektion wird durch starke Medikamente kontrolliert, und durch Ihre Hepatitis C ist Ihre Leber ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen. Aber Sie injizieren immer noch. Und nun fragen Sie mich, was Sie tun sollen. Was stimmt an dieser Konstellation nicht?“

      „Ich hatte gehofft, dass Sie das sagen würden“, antwortet Allan. „Ich