gehalten, um ihn vor Selbstverletzung zu schützen. Nach der durchwachten Nacht war sie am nächsten Vormittag eingeschlafen. Am Nachmittag hatte Joey eine Überdosis genommen. „Als ich aufwachte“, erinnert sie sich, „lag Joey regungslos da. Niemand musste mir etwas erklären. Der Krankenwagen und die Feuerwehr kamen, aber es gab nichts, was sie hätten tun können. Mein Baby war tot.“ Ihre Trauer ist riesig, ihr Schuldgefühl unermesslich.
Der Schmerz ist eine Konstante in der Portland-Klinik. Die medizinische Fakultät unterrichtet die drei Kennzeichen einer Entzündung mit den lateinischen Bezeichnungen: calor, rubror, dolor – Hitze, Rötung und Schmerz. Die Haut, Gliedmaßen oder Organe meiner Patienten sind oft entzündet und dagegen kann meine Behandlung zumindest vorübergehend wirksam sein. Aber wie kann man die Seelen trösten, die durch intensive Schmerzen gequält werden, die zuerst durch die Erfahrungen in der Kindheit – fast zu widerlich, um sie zu glauben – und dann, in mechanischer Wiederholung, durch den Leidenden selbst hervorgerufen werden? Und wie kann man sie trösten, wenn ihre Leiden durch die gesellschaftliche Ächtung täglich schlimmer werden – durch das, was der Gelehrte und Schriftsteller Elliot Leyton als „die seelenlosen, rassistischen, sexistischen und klassistischen Vorurteile beschrieben hat, die in der kanadischen Gesellschaft vergraben sind: eine institutionalisierte Verachtung der Armen, Prostituierten, Drogensüchtigen, Alkoholiker und Ureinwohner“.1 Der Schmerz hier in Downtown Eastside bringt Menschen dazu, um Geld für Drogen zu betteln. Er starrt aus kalten und harten Augen oder zeigt sich niedergeschlagen, im Gefühl der Unterlegenheit und Scham. Der Schmerz äußert sich in schmeichelnden Tönen oder aggressivem Geschrei. Hinter jedem Blick, hinter jedem Wort, hinter jeder gewaltsamen Tat oder desillusionierten Geste verbirgt sich eine Geschichte von Leid und Erniedrigung, eine selbst geschriebene Geschichte mit täglich neu hinzugefügten Kapiteln und selten einem glücklichen Ende.
———
Während Daniel mich nach Hause fährt, hören wir im Autoradio CBC und diesen seltsamen Nachmittagsmix aus fröhlichem Geplapper, Klassik und Jazz. Erschüttert von dem Kontrast zwischen der großstädtischen Radiowirklichkeit und der geplagten Welt, die ich gerade verlassen habe, denke ich zurück an meine erste Patientin an diesem Tag.
Madeleine sitzt gekrümmt vor mir, die Ellenbogen auf ihre Oberschenkel gestützt, ihr hagerer, sehniger Körper ist durch heftiges Schluchzen verkrampft. Sie umklammert ihren Kopf mit den Händen, ballt immer wieder die Fäuste und schlägt rhythmisch gegen ihre Schläfen. Ihr glattes, braunes, nach vorne gefallenes Haar verdeckt ihre Augen und Wangen. Ihre Unterlippe ist geschwollen und aufgeplatzt, aus einem kleinen Schnitt sickert Blut. Ihre raue, jungenhafte Stimme ist heiser vor Wut und Schmerz. „Ich bin schon wieder verarscht worden“, weint sie. „Immer bin ich es, die die Scheiße der anderen ausbaden muss. Woher wissen sie, dass sie mir das jedes Mal wieder antun können?“ Sie hustet, als ihr der Speichel in die Luftröhre rinnt. Sie ist wie ein Kind, das seine Geschichte erzählt und um Mitgefühl und Hilfe bittet.
Die Geschichte, die sie erzählt, ist die Variation eines Themas, das in Downtown Eastside bekannt ist: Drogensüchtige, die sich gegenseitig ausbeuten. Drei Frauen, die Madeleine gut kennt, geben ihr einen Hundert-Dollar-Schein. Der Deal ist, dass sie zwölf „Rocks“ Crack von einem Typen kaufen soll, den sie „Spic“ nennt. Einen kann sie behalten, die anderen Frauen werden einen Teil für sich nehmen und den Rest weiterverkaufen. „Die Bullen dürfen nicht sehen, dass wir so viel kaufen“, sagen sie ihr. Die Transaktion ist abgeschlossen, Geld und Crack haben den Besitzer gewechselt. Zehn Minuten später holt der ‚großartige Spic‘ Madeleine ein, „packt mich an den Haaren, wirft mich zu Boden und versetzt mir einen Schlag ins Gesicht“. Der Hundert-Dollar-Schein ist gefälscht. „Sie haben mich reingelegt. ‚Oh, Maddie, du bist mein Kumpel, du bist meine Freundin.‘ Ich hatte keine Ahnung, dass es ein gefälschter Hunderter ist.“
Meine Klienten erzählen oft von „dem Spic“, aber er scheint unsichtbar zu sein, eine mystische Figur, von der ich nur höre. An den Straßenecken in der Nähe des Portland Hotels treffen sich junge, dunkelhäutige Mittelamerikaner mit schwarzen, über die Augen geschobenen Baseballmützen. Wenn ich an ihnen vorbeilaufe, sprechen sie mich im leisen Flüsterton an, selbst wenn ich eindeutig ein Stethoskop um meinen Hals trage: „Upper und Downer“ oder „gute Rocks“. (Upper und Downer ist Junkie-Slang. Upper sind Stimulanzien wie Kokain, und Downer, wie zum Beispiel Heroin, haben eine beruhigende, entspannende Wirkung. Rock steht für Crack/Kokain.) „Hey, siehst du nicht, dass das der Arzt ist?“, zischt gelegentlich jemand. Der Spic könnte durchaus zu dieser Gruppe gehören, aber vielleicht ist der Beiname auch nur ein allgemeiner Begriff, der sich auf jeden von ihnen bezieht.
Ich weiß nicht, wer er ist oder auf welchem Weg er in die heruntergekommene Gegend von Vancouver gelangt ist, wo er die abgemagerten Frauen mit Kokain und Ohrfeigen versorgt, die stehlen, dealen, betrügen oder billigen Oralsex anbieten, um ihn zu bezahlen. Wo wurde er geboren? Durch welchen Krieg und welche Entbehrungen wurden seine Eltern gezwungen, ihren Slum oder ihr Bergdorf zu verlassen, um ein Auskommen so weit nördlich des Äquators zu suchen? Waren es die Armut in Honduras, Milizen in Guatemala oder die Todesschwadronen in El Salvador? Wie wurde er zu dem Latino, dem Bösewicht der Geschichte, die ich von der spindeldürren, verzweifelten Frau in meiner Praxis erzählt bekomme, die tränenerstickt ihre blauen Flecken erklärt und mich bittet, ihr nicht vorzuwerfen, dass sie letzte Woche beim Methadon-Termin nicht erschienen ist. „Ich habe seit sieben Tagen keinen Juice mehr getrunken“, sagt Madeleine. („Juice“ ist Slang für Methadon, denn das Methadonpulver wird in einem Getränk mit Orangengeschmack aufgelöst.) „Und ich werde niemanden auf der Straße um Hilfe bitten, denn wenn sie dir helfen, schuldest du ihnen dein gottverdammtes Leben. Selbst wenn du es ihnen zurückzahlst, denken sie immer noch, dass du ihnen etwas schuldest: ‚Da ist Maddie, die kriegen wir. Sie wird es uns geben.‘ Sie wissen, dass ich nicht kämpfe. Denn wenn ich mich jemals wehren sollte, würde ich eine von diesen Schlampen umbringen. Ich will nicht den Rest meines Lebens im Knast verbringen wegen einer gottverdammten Fotze, mit der ich mich von vornherein nicht hätte einlassen sollen. So wird’s laufen. Ich kann nur ein gewisses Maß ertragen.“
Ich gebe ihr das Methadon-Rezept und biete ihr an, wiederzukommen und zu reden, nachdem sie ihre Dosis in der Apotheke bekommen hat. Obwohl Madeleine einverstanden ist, werde ich sie heute nicht mehr sehen. Wie immer lockt der Drang nach dem nächsten Schuss.
Ein anderer Besucher an diesem Morgen war Stan, ein fünfundvierzigjähriger Ureinwohner, der gerade aus dem Gefängnis entlassen worden war und ebenfalls wegen seines Methadon-Rezeptes kam. In den achtzehn Monaten seiner Inhaftierung war er etwas pummelig geworden, was seine bisher bedrohliche Wirkung aufgrund seiner Größe, muskulösen Statur, glühenden dunklen Augen, seines Apachenhaars und seines Fu-Manchu-Schnurrbarts dämpfte. Vielleicht ist er auch milder geworden, da er die ganze Zeit ohne Kokain war. Er schaut aus dem Fenster zum Bürgersteig auf der anderen Straßenseite, wo einige seiner Mitsüchtigen in eine Szene vor dem Armee-Shop verwickelt sind. Es wird viel gestikuliert und scheinbar ziellos hin- und hergelaufen. „Schauen Sie sich das an“, sagt er. „Sie sitzen hier fest. Wissen Sie, Doc, ihr Leben erstreckt sich von hier bis vielleicht zum Victory Square auf der linken Seite und der Fraser Street auf der rechten. Die kommen hier nie raus. Ich will wegziehen, will mein Leben hier nicht mehr vergeuden.“
„Ach, was soll’s. Schauen Sie mich an, ich habe nicht einmal Strümpfe.“ Stan zeigt auf seine abgelaufenen Schuhe und seine abgewetzte rote Jogginghose mit Gummibündchen ein paar Zentimeter über seinen Knöcheln. „Wenn ich in diesem Outfit in den Bus steige, wissen die Leute sofort Bescheid. Sie wenden sich von mir ab. Einige starren mich an, die meisten schauen nicht einmal in meine Richtung. Wissen Sie, wie sich das anfühlt? Als wäre ich ein Alien. Ich fühle mich erst dann wieder wohl, wenn ich hier zurück bin; kein Wunder, dass niemand jemals geht.“
Als er zehn Tage später wegen eines Methadon-Rezepts zurückkehrt, lebt Stan immer noch auf der Straße. Es ist ein Märztag in Vancouver: grau, nass und ungewöhnlich kalt. „Sie wollen nicht wissen, wo ich letzte Nacht geschlafen habe, Doc“, sagt er.
Für viele der chronischen, hartgesottenen Süchtigen in Vancouver ist es so, als ob ein unsichtbarer Stacheldraht das Gebiet umgibt, das sich ein paar Blocks von Main und Hastings aus in alle Richtungen erstreckt. Es gibt eine