Opfer. Bahnhöfe und Bushaltestellen sind wichtig. Vielleicht steht irgendwo ein Fahrrad herum, das niemandem gehört.«
»Und Taxis?«, fragte Monika.
»Und Taxis, klar. Alles so wie früher.«
»Wie früher, geht klar. Schön, dass du wieder da bist.«
Er lächelte. »Ah, ja, hätte ich fast vergessen, ich soll dich von Paula grüßen.«
»Bis wann brauchen Sie die Leute?«, fragte Thorke Oselich.
Trevisan zog die Lippen schmal. »Ehrlich gesagt, bis gestern wäre gut.«
Sie nickte und erhob sich.
»Und wir beiden Hübschen fahren noch einmal die Umgebung um den Tatort ab«, sagte er zu Lisa Bohm.
»Wir haben doch schon die Leute aus der Nachbarschaft befragt«, wandte Eike ein.
»Ihr habt gefragt, ob sie etwas gesehen haben«, entgegnete Trevisan. »Wir wollen wissen, wer unsere Opfer waren. Ich denke, die Antworten auf diese Frage werden anders ausfallen als heute Morgen.«
*
Ein Bus … Ein Bus ist ein großer Personenwagen für einen mehr oder minder komfortablen Transport von Reisenden und Fahrgästen. Ein Bus bringt einen relativ zügig von A nach B, man kann an vielen Haltestellen zu- oder aussteigen, man sitzt im Trockenen und kann die Landschaft an sich vorbeiziehen lassen. Doch für die Landschaft hatte er keinen Blick, er saß im Fond an der Fensterseite und döste.
Ein Bus hat Vorteile, wesentliche Vorteile sogar. Vor allem für ihn. Die Menschen im Bus sind meist mit sich selbst beschäftigt oder in Gruppen unterwegs und ein Bus kommt fast überall durch und wird so gut wie nie von der Polizei angehalten und kontrolliert.
Die Fahrt führte von Hohenkirchen über Wittmund hinunter nach Emden, wo er erst einmal wieder zur Ruhe kommen und neue Kraft schöpfen konnte. Er war noch lange nicht am Ziel.
Aus dem Dösen wurde ein leichter Schlaf. Gedanken zogen durch seinen Kopf, bunte Bilder und Szenen, und er erinnerte sich an einen heißen und trockenen Sommer, der lange Zeit zurücklag. Für ihn würde er unvergesslich bleiben, denn es war der letzte fröhliche Sommer, den er erlebt hatte, bevor die trüben Tage heraufgezogen waren und alles überdeckt hatten, was einmal an Leben und Lebensfreude in ihm gesteckt hatten. Er roch das Gras einer grünen und saftigen Wiese, er roch das Wasser des nahen Weihers, an dem sie Stunden verbrachten und an dem der Tag nie enden wollte. Er sah ihr Gesicht, ihr Lachen, ihre roten Wangen, und er schmeckte ihre Tränen, die salzigen und bitteren Tränen. Nur die Kälte einer langen und bohrenden Einsamkeit war ihm geblieben.
Das Gesicht verblasste, löste sich auf, wurde heller und heller, bevor es endgültig die Konturen verlor. Er versuchte es festzuhalten, doch seine Mühe war vergebens, die Schwärze breitete sich aus und er fühlte die Schläge auf seinem Rücken, spürte den Gürtel, der auf seine nackte Haut niedersauste und blutige Striemen hinterließ und er fühlte den Hass, dieses unbändige Verlangen nach Rache, das ihn erstickte und in die Tiefe stürzte.
Er schlug die Augen auf. Sie fuhren an einem Einkaufsmarkt vorbei. Häuser säumten die Straße und er wusste, dass er angekommen war. Der Bus verlangsamte. Nur noch drei Fahrgäste saßen mit ihm im Fond. »Haltestelle Auricher Straße, Philosophenweg«, tönte es aus dem Lautsprecher und der Busfahrer stoppte.
Er griff nach seinem Rucksack und stieg aus. Ein junges Mädchen folgte ihm, schlug aber dann der Weg in das nahe Wohngebiet ein, während er an dem kleinen Wartehäuschen stehen blieb und dem roten Regiobus noch eine Weile nachschaute, bis der im Gewühl der Straßen verschwand.
Sein weiterer Weg führte ihn am Wall entlang, bis er auf eine alte Windmühle stieß. Er folgte dem Weg, vorbei an Tennisplätzen und der Windmühle, entlang des Kanals bis zum Roten Siel. Einen Augenblick blieb er auf der Brücke stehen und blickte in das trübe Wasser, ehe er weiterging und in der nahen Siedlung verschwand.
Ruhe brauchte er, Ruhe und Erholung.
Die alte Frau, die ihm die Tür öffnete, lächelte ihm freundlich zu. »Na, schönen Tag gehabt?«
Er nickte nur, bevor er über die Treppe in sein Zimmer ging, die Tür hinter sich schloss und sich seufzend auf das Bett fallen ließ.
6
Sie hießen Marten und bewirtschafteten den Sophienhof, der Luftlinie kaum mehr als einen Kilometer vom Tatort entfernt lag. Er hieß Onno und seine Frau Rieke. Trevisan schätzte sie nahe siebzig. Sie waren über das erneute Erscheinen der Polizei etwas verwundert, hatten sie doch bereits den Kollegen, die am frühen Morgen bei ihnen gewesen waren, erklärt, dass sie niemanden gesehen, geschweige denn eine verdächtige Wahrnehmung gemacht hätten. Beide hätten bis acht Uhr geschlafen und seien erst durch die Polizei wach geworden. Inzwischen hatte sich herumgesprochen, was auf dem Jakobshof geschehen war, und die Betroffenheit der Martens war unübersehbar. Sie baten Trevisan und seine Kollegin Lisa Bohm in ihre Stube und boten ihnen Platz an.
»Einen Tee, wenn ich fragen darf?«
Lisa schüttelte den Kopf, doch Trevisan stimmte zu, weil er genau wusste, wie man mit älteren Zeugen ins Gespräch kommen konnte und genau das hatte er vor. Denn wenn jemand etwas berichten konnte, das man bei einer Routinebefragung nicht erfuhr, dann war es meist die direkte Nachbarschaft, und das waren die Martens.
Während Rieke Marten in die Küche davoneilte, stopfte sich Onno eine Pfeife. »Das ist furchtbar, was da passiert ist«, nuschelte er. »Diese Welt wird immer grausamer.«
»Sie wohnen hier alleine?«
Er nickte, während er seine Pfeife anzündete. »Mein Sohn ist bei der Marine in Wilhelmshaven. Kommt nur alle paar Wochen. Jetzt kreuzt er mit seiner Fregatte im Mittelmeer, wegen der Flüchtlinge, kommt erst im Winter wieder.«
»Dann kümmern Sie sich alleine um den Hof?«
Der alte Mann zog an seiner Pfeife und blies den Rauch wie eine Lokomotive in die Luft. »Na, ein paar Hühner und ein paar Schweine. Kühe haben wir schon lange nicht mehr. Windräder stehen auf meinem Grund, war Peters Idee, das mit dem Windpark.«
»Und das läuft?«
»Na, bessert die schmale Rente ein wenig auf.«
Rieke Marten kehrte mit einer Kanne Tee und mehreren Tassen auf einem Tablett aus der Küche zurück. Sie nahm Onnos Streichhölzer und zündete die Kerze im Stövchen an, ehe sie die blauviolett geblümte Kanne darauf platzierte. »Das ist eine schlimme Sache mit den Habichs und auch die Dörte, das kann man gar nicht fassen.«
»Kannten Sie die Habichs näher?«
»Na, näher … näher nicht, wir sind Nachbarn. War ein komischer Kauz, der Alte«, seufzte Onno Marten. »Die kamen von drüben. Frauke kennen wir gut, war ’ne lütte Deern und spielte manchmal mit Peter, unseren Söhn. War tragisch, als Hinrich nicht mehr wiederkam. Ist auf See geblieben. War ein Unfall mit dem Kutter. Ging über Bord und ward nie mehr gesehen. Tja, was sich die See holt, dat gibt se nie mehr her.«
»Wie hat Sie ihren Mann eigentlich kennengelernt?«
»Rolf, den Habich?«, fragte Rieke und setzte sich, nachdem sie den Tee eingeschenkt hatte. »Die Lüü sagen, durch den Computer, da kann man andere Leute kennenlernen. War eine harte Zeit, das mit Hinrich. Der Hof, die Kühe und dann auch noch Dörte, das war ja auch nicht immer leicht. Hat lange gedauert, bis Frauke einen fand, der auch was vom Wirtschaften verstand.«
»Gab es in der Zeit auch andere Männer?«, fragte Trevisan.
Rieke schaute ihren Mann an, schließlich schüttelten beide den Kopf. »Nichts Ernstes«, sagte er, »einmal war da einer aus dem Süden, ich glaube, das war ein Schweizer. Drei Monate, dann hatte er die Nase voll, ist einfach weggelaufen und tauchte nie wieder auf.«
»Wie lange lebte Frauke alleine?«
»Ein paar Jahre werden es wohl gewesen sein.«
»Und dann kam Rolf