Ulrich Hefner

Kalteiche


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schrie durch die Nacht und als er sich aufzurichten versuchte, sank er kraftlos zurück. Er seufzte. Er hörte ein Rascheln in seiner Nähe, als ob ein kleines Tier unter welken Blättern verschwand. Es war kalt, doch er spürte nur die Hitze des Schmerzes. Er griff an seine Stirn und eine warme, klebrige Flüssigkeit blieb an seinen Fingern haften. Erneut versuchte er sich aufzurichten, ihm wurde schwindelig, erneut sank er zurück. Er versuchte zu verstehen, was geschehen war, doch seine Gedanken waren wie Wasserfarbe in einem gefüllten Becher, sie verschwammen, vermengten sich, ehe sie sich verdunkelten und zu einer trüben, undurchdringlichen Melange wurden.

      Irgendwie schaffte er es dann doch, sich zu erheben. Mit zitternden Beinen stolperte er voran. In der Dunkelheit konnte er kaum die Hände vor den Augen sehen, immer wieder sank er auf die Knie, doch ein unbändiger Wille brachte ihn dazu, sich wieder aufzuraffen und weiterzugehen. Er nahm Gerüche wahr, die ihm ebenso vertraut wie fremd erschienen. Die Kälte der Nacht machte ihm nichts aus, er spürte sie nicht einmal. Etwas trieb ihn voran und er kramte in dieser dunklen Melange aus Erinnerung und Gedanken, doch alles blieb verschwommen, konturlos, nur ab und zu, wie durch eine Nebelwand, formte sich ein Gesicht, das ihn mit flehendem Blick anstarrte. Er versuchte es zu fassen, doch immer wieder löste es sich auf, waberte mit dem Nebel davon.

      Erneut ging er zu Boden. Für einen Moment blieb er liegen, seine Hände krallten sich in den weichen Boden. Er schloss die Augen und als er sie wieder öffnete, erfasste ihn gleißende Helligkeit. Er blinzelte, denn das Licht schmerzte in seinen Augen, als es ihn wie ein Kokon umschloss. Er nahm all seine Kraft zusammen und richtete sich auf. Auf unsicheren Beinen stolperte er voran, er wankte, doch das Licht verfolgte ihn auf Schritt und Tritt.

      »St

j, policii!«

      Die dunkle Stimme klang kalt und gefährlich. Er verharrte, ehe er auf seine Knie fiel und das Licht um ihn erlosch. Er fühlte nur noch Schmerz, bevor er die Besinnung verlor.

      1

      … dreiunddreißig Jahre später …

      Sie wurde am frühen Morgen wach, als es im Haus laut polterte. Dann folgte ein Schrei, wie sie ihn noch nie gehört hatte, so grell und laut, so durchdringend und bedrohlich, so angsterfüllt und panisch, etwas Schreckliches musste geschehen sein. Es war der Schrei einer Frau, der im Schmerz verstummte.

      »Mama?«, stammelte sie und sprang aus dem Bett. Barfuß und nur mit einem Nachthemd bekleidet rannte sie durch das kleine Zimmer unter dem Dach, riss die Tür auf und hetzte zur Treppe. Abermals polterte es. Sie hatte kaum drei Stufen hinter sich gebracht, als sie wie vom Donner gerührt stehen blieb. Unterhalb der Treppe vor dem kleinen Verschlag, in dem Vorräte und Werkzeuge aufbewahrt wurden, lag jemand verkrümmt auf dem Rücken. Zuerst sah sie nur die Füße, die in gestrickten braunen Wollsocken steckten. Angsterfüllt ging sie Stufe für Stufe weiter, und aus den Füßen und Beinen wurde ein Körper. Die alte, zerschlissene und schmutzig braune Strickjacke, die schwieligen Hände, vom Schmerz verkrümmt, die ergrauten Haare und der tiefe rote Fleck, der sich am Kopf ausgebreitet hatte und mit dem Teppich verschwamm. Wie in Trance überwand sie die letzten Stufen, bis sie schreckensstarr stehen blieb, die Hände vor Entsetzen an die Wangen gepresst.

      »Vater …«

      Es war eine Feststellung, keine Frage, ihr Vater lag regungslos an der Treppe und eine Blutlache breitete sich neben seinem Kopf aus.

      »Mama … Mama, wo bist du?«, rief sie durch den Flur. Erneut hörte sie ein Poltern, bevor ihr der Tod in der offenstehenden Tür zum Schlafzimmer erschien.

      Schwarz gekleidet war er und schwarz war auch sein Gesicht, und es glänzte im Licht. In der Hand hielt er etwas, das bedrohlich blitzte. Sie stieß einen spitzen Schrei aus und rannte durch den Flur zum Badezimmer. Kurz bevor sie es erreicht hatte, wandte sie sich noch einmal um und sah, dass der Tod ihr folgte. Sie schlug die Tür zu und drehte den Schlüssel herum. Ein kleines Fenster über der Toilette führte nach draußen, doch noch bevor sie den Griff umfasst hatte, rüttelte es an der Tür. Tränen liefen ihr über die Wangen und trübten ihren Blick, doch sie wusste, dass dieses Fenster die einzige Chance zur Flucht war. Der Griff ging schwer, doch es gelang ihr, das Fenster zu öffnen. Aus dem Rütteln an der Tür wurde ein Poltern, dann folgte ein lauter Schlag. Das Holz splitterte. Sie sprang auf den Toilettensitz und schob ihren Oberkörper hinaus. Das Fenster war eng, maß kaum einen halben Meter, doch sie war schlank und auch auf die Gefahr hin, dass sie kopfüber auf die Pflastersteine im Hof stürzte, sie musste aus diesem Haus fliehen. Als es hinter ihr wieder krachte, stieß sie sich mit einem Schwung ab. Noch bevor ihre Hüften über die Zarge geglitten waren, flog die Tür auf und der schwarze Tod sprang in den Raum. Er ergriff ihre Beine und zog sie zurück. Sie zappelte und keilte aus wie ein Wildpferd, doch es nutzte nichts, der Tod war viel kräftiger als sie. Er zog sie zurück in den Raum und sie stürzte neben der Toilette zu Boden.

      Sie drehte sich um und rutschte in die Ecke neben dem Waschbecken, wo die Wand ihre sinnlose Flucht beendete. Zitternd starrte sie auf die schwarze Gestalt, die vor ihr stand und sie beobachtete, wie sie über den Boden robbte.

      »Nein … nein!«, schrie sie, als sie aufblickte. Regungslos stand er über ihr. Sie sah die weit geöffneten Augen, die durch zwei Schlitze der Maske auf sie herabblickten. Der leibhaftige Tod war über sie gekommen und reckte seine Arme in die Höhe. Ein Beil lag in seinen Händen.

      »Nein, um Gottes willen, nicht …«

      Das Beil sauste herab und ihr Kopf explodierte im grellen Schmerz. Ein erstickter Seufzer kam über ihre Lippen, als sie der zweite Hieb traf und ihr Blut gegen den Vorhang der Dusche spritzte.

      *

      Er saß auf einem Steinhaufen in der Nähe der Brücke und sog die Sonnenstrahlen des kalten Frühlingstages in sich auf. Die Luft war kalt, doch der heftige Wind, der in der Nacht von der See über die Küste gefegt hatte, war einer leichten Brise gewichen, die aus Westen über das Land wehte. Die salzige Luft tat gut, denn in seinem Kopf rauschte das Blut und ein heftiger Schmerz pochte in seinen Schläfen.

      Er hatte es sich schwieriger vorgestellt, er hatte gedacht, dass er bis zum Äußersten seiner Kräfte gehen musste, doch nur in seinem Kopf breitete sich langsam das Gefühl der Erschöpfung aus. Auf der anderen Seite des Sees fuhr ein Traktor vorbei, doch es störte ihn nicht. Es war vollbracht. Eine lange Suche hatte endlich ihr Ende gefunden. Von seinem Ziel war er allerdings noch weit entfernt. Manchmal ist es, dachte er, als läge noch immer dieser Nebel über dem Land, als wäre noch immer die Wahrheit unter dieser wabernden und milchigen Schicht verborgen, und der Schmerz bohrte sich wie ein Stachel in seinen Kopf. Er hatte gehofft, dass sich der Schmerz legte, doch mit jedem Tag war er stärker geworden und auch jetzt, so kurz nach dieser Befreiung, verschwand er nicht einfach, sondern blieb noch immer dumpf zu spüren.

      Zärtlich streichelte er über die goldene Kette mit dem Kreuz als Anhänger, dies war alles, was aus seinem früheren Leben übrig geblieben war. Seit über dreißig Jahren war diese Kette sein einziger Begleiter und er trug sie immer bei sich. Nicht um den Hals, nicht sichtbar, denn von Gott hielt er nicht viel. Gott war nie an seiner Seite gewesen, hatte sich nie um ihn gekümmert, ganz im Gegenteil, Gott hatte ihn einfach vergessen und in seinem Elend zurückgelassen.

      Er fuhr sich über seine Handgelenke. Wenn er daran dachte, dann schmerzten noch immer die Fesseln, mit dem sie ihn an das Bett gekettet hatten, damals in diesem grauen, tristen und fensterlosen Zimmer in Zatec, dorthin würde er nie wieder zurückkehren.

      Sie fehlte ihm, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute und jede Sekunde. Er erinnerte sich an ihr Lachen, das er viel zu selten gehört hatte, an ihre Worte, die im Wind verklungen waren, manchmal sogar an ihren Geruch, der für ihn immer ein kleines Stück Geborgenheit in all dem Schrecken der vergangenen Zeit bedeutet hatte. An die Eltern erinnerte er sich nur dunkel. Zweimal war er inzwischen an ihrem Grab gewesen und hatte seinen Frieden mit ihnen gemacht. Er hatte nie verstanden, warum sie weggegangen waren und ihre Kinder einfach ihrem Schicksal überließen, dennoch hatte er Blumen an die Stelle gelegt, an der ein schmuckloser grauer Stein ihre Namen trug. Blumen, die kein Verzeihen bedeuteten, denn es gab nichts zu verzeihen.