du möchtest, kannst du gerne mit zu mir kommen. Du kannst in meinem Bett schlafen und ich nehme die Couch. Morgen überlegen wir gemeinsam, wie es weitergeht. Na, was meinst du?"
"Hast du denn keine Freundin, die zuhause auf dich wartet?", fragte sie und lächelte dabei verführerisch.
Ich zog eine Augenbraue hoch.
"Nicht, dass ich wüsste."
Wir lächelten uns beide vielsagend an.
Nach meiner Schicht nahm ich sie mit zu mir. Ich besaß eine kleine Altbauwohnung in der Altstadt von Altona mit schnuckeligem Balkon und Blick auf einen kleinen Park. Ein klein wenig Grün in so einer großen Metropole musste sein!
Nachdem sie sich umgezogen hatte – die dreckige Bluse warf sie sofort in den Müll – machte ich uns beiden etwas zu essen. Ich kann ganz gut kochen und mein Nudelauflauf schien ihr zu schmecken.
Nach dem Essen machten wir es uns mit einem Glas Rotwein im Wohnzimmer auf dem Sofa gemütlich und unterhielten uns über Gott und die Welt. Im Laufe des Abends erfuhr ich, dass sie es nie leicht hatte. Ihre Mutter hatte die Familie verlassen, als Victoria neun Jahre alt war. Da ihr Vater nie darüber hinwegkam, von seiner großen Liebe abserviert worden zu sein, und er sich gleichzeitig Sorgen um sein Image als erfolgreicher, aber sitzengelassener Anwalt machte, begann er abends seinen Frust mit Alkohol zu bekämpfen. Am Anfang war es nur zwei- bis dreimal die Woche ein Glas.
Doch mit der Zeit wurde es immer mehr. Für Victoria war es damals eine harte Zeit. Ihre Mutter brach den Kontakt zu ihrer Tochter ab, da sie sich mit ihrem neuen Freund ein Leben abseits ihres Kindes und ihres Exmannes aufgebaut hatte. Dadurch musste Victoria schon früh lernen, für sich selbst zu sorgen, aber das hatte sie nur stärker gemacht.
Ihre Geschichte schockte mich. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es war, wenn die eigene Mutter nichts mehr von ihrem Kind wissen wollte. Was für Ängste man haben musste. Wahrscheinlich suchte man den Fehler für das Verschwinden der Mutter bei sich, da man noch zu jung war, um zu verstehen, dass ein unschuldiges Kind rein gar nichts dafür konnte! Das musste schrecklich sein. Sie gab mir aber auch zu verstehen, dass sie kein Mitleid wollte. Sie sei damit durch und lebe jetzt ihr eigenes Leben. Nach Mitternacht kamen wir uns näher und küssten uns zum ersten Mal.
Emma
"Können Sie bitte noch einmal nachsehen? Ich muss auf der Liste stehen! Ich habe mich ganz sicher für dieses Schuljahr angemeldet", flehte ich die ungehobelte Dame an.
Sie seufzte genervt.
"Ich habe es Ihnen doch schon gesagt, hier befindet sich keine Emma Hallstedter!"
Ich blickte verstohlen auf ihre Liste. Angestrengt versuchte ich zu erkennen, welche Klasse als Überschrift darauf stand. Da ich auf dem Kopf lesen musste, war das gar nicht so leicht. Ich entzifferte eine "1" und dahinter ein "a_3". Das kleine "a_3" irritierte mich. Ich sah hastig auf mein Einladungsschreiben. Tatsächlich. Da stand, dass ich in der Klasse 1a_2 war. Ich räusperte mich.
"Kann es sein, dass Sie die falsche Liste haben? Auf meiner Einladung steht, dass ich in der Klasse 1a_2 bin, nicht in der 1a_3", versuchte ich sie sanft darauf hinzuweisen.
Die Frau hob den Kopf und sah mich mit böse funkelnden Augen an.
"Wollen Sie mir jetzt auch noch sagen, wie ich meinen Job zu machen habe?"
Sie riss mir den Brief aus der Hand, checkte kurz die Klasse auf dem Schreiben und überprüfte dann ihre Liste. Sie schien den Fehler zu bemerken. Ganz kurz huschte ein verwirrter Blick über ihr Gesicht, bevor sich ihre Züge wieder in die selbstgefällige Miene verwandelten, die sie an den Tag legte. Sie griff nach einem Stift und hakte mich auf der Liste ab.
"Sie können gehen" war alles, was sie zu mir sagte. Keine Entschuldigung. Nicht mal ein Lächeln.
Jetzt war jedoch keine Zeit, um mich über sie zu ärgern. Ohne ein Wort darauf zu erwidern, rannte ich den Gang entlang. Eine Minute nach Elf Uhr. Ich kam vor einer dunklen Doppeltür aus Holz zum Stehen. Ich atmete tief durch und stieß die Tür auf.
Sämtliche Köpfe fuhren wie auf Kommando herum und musterten die Person mit einer Mischung aus Neugier und Entsetzen, die es sich erlaubte, zu spät zur Einführung zu kommen: mich. Ich schluckte. Na, wenn das mal kein peinlicher Auftritt ist, den du hier hinlegst!, dachte ich betreten und schloss die Tür. Es war totenstill.
Während ich hektisch den Mittelgang auf der Suche nach einem freien Platz entlangschritt, starrten mich alle an. Ich hasste es, wenn sich alle Augen auf mich richteten und ich im Mittelpunkt stand. Am liebsten wäre ich ganz tief im Erdboden versunken! Warum ist denn hier nirgendwo ein freier Platz?, fluchte ich innerlich.
Die Frau, die vorne auf einer kleinen Bühne an einem Rednerpult stand, blickte erwartungsvoll auf mich herab.
"Und Sie sind?", fragte sie genervt.
"Emma Hallstedter", druckste ich kleinlaut.
"Ich bin in der 1a_2", fügte ich noch hinzu. Meine Stimme zitterte.
Die Frau hob herausfordernd eine Augenbraue.
"Nun, Frau Hallstedter, Sie sind zu spät!"
Ich strich mir eine Haarlocke hinters Ohr.
"Entschuldigen Sie. Das wird nicht wieder vorkommen. Es gab ein Missverständnis am Empfang", brachte ich heraus. Mein Herz pochte wie verrückt, denn ich fürchtete schon, gleich wieder den Heimweg antreten zu müssen.
"Soso, ein Missverständnis. Na gut, ich drücke noch einmal ein Auge zu, da heute Ihr erster Tag ist. Suchen Sie sich bitte einen freien Platz, damit wir dann endlich anfangen können." Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. In der zweiten Reihe fand ich einen freien Stuhl. Ich entschuldigte mich bei allen, die wegen mir aufstehen mussten, damit ich durchkam und schob mich erleichtert auf den Platz.
"Mein Name ist Helena Ahrens und ich bin die Direktorin dieser Schule. Ich heiße Sie alle ganz herzlich Willkommen an unserer Impresa Fremdsprachen –und Dolmetscherschule hier in Hamburg! Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise!
Welcome, Bienvenue, Bienvenidos, Benvenuto, Huānyíng guānglín, Bem vindo und Добро пожаловать!", begann die Frau zu sprechen.
"Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Chinesisch, Portugiesisch und Russisch sind alles Fremdsprachen, die Sie hier erlernen können, beziehungsweise, in denen Sie hier ausgebildet werden, um später im Beruf damit zu arbeiten. Das ist es, was unsere Schule auszeichnet. Internationalität! Aber darüber erfahren Sie später mehr. Ich werde Ihnen nun etwas zum heutigen Ablauf erzählen:
Die Einführung dauert in etwa eine Stunde. Um 12.30 Uhr gibt es für Sie alle das erste Mittagessen in unserer Kantine. Natürlich ist es kein Muss, in der Schulkantine mitzuessen, viele unserer Schüler, die schon länger hier sind, gehen in der Mittagspause oder in den Freistunden in die nahegelegene Innenstadt und essen dort etwas. Das können Sie frei entscheiden.
Zurück zum Ablauf:
Nach dem Mittagessen bekommen Sie Ihre Koffer zurück und werden sich im Wohnheim ein Zimmer aussuchen. Das wird um 13.30 Uhr stattfinden. Es gibt überwiegend Zweierzimmer, aber auch ein paar Einzelzimmer. Dann haben Sie erstmal ein wenig Zeit, um auszupacken und anzukommen. Heute findet noch kein Unterricht statt – erst ab morgen – aber um 16 Uhr erwarte ich Sie alle wieder hier. Dann bekommen Sie Ihren Stundenplan ausgehändigt und eine Führung durch die Schule, damit auch jeder von Ihnen morgen sein Klassenzimmer findet. Danach haben Sie den restlichen Tag zu Ihrer freien Verfügung. Morgen beginnt der Unterricht für alle Schülerinnen und Schüler um Punkt acht Uhr."
Das Wort "Punkt" betonte sie extra. Bildete ich es mir ein, oder blickte sie bei diesem Satz ausgerechnet in meine Richtung?
"Nun erfahren Sie von mir noch etwas über die Entstehung und Gründung unserer Schule. Sie wurde im Jahre 1976 von Professor Dr. Marco Impresa-Fleischhauer und seinem Sohn Professor Tommaso Impresa-Fleischhauer gegründet. Professor Dr. Marco Impresa-Fleischhauer erwarb 1966 in Italien – seinem Heimatland – seinen Doktortitel in Sprachwissenschaften