Direktorin sprach noch weiter über die Entstehungsgeschichte, jedoch hörte ich nicht mehr zu. Zum ersten Mal nahm ich meine Umgebung richtig wahr.
Der Saal, in dem ich mich befand, war groß und eindrucksvoll. Der Boden war aus hellem Marmor und die Wände waren in Weiß gehalten. Dadurch wirkte der Raum insgesamt sehr hell und freundlich. Das Rednerpult, hinter welchem die Direktorin mit Inbrunst sprach, hatte einen warmen Nussbaumton. Ich richtete meinen Blick nach oben. Dort über unseren Köpfen hing ein imposanter Kronleuchter. Rechts und links von mir saßen Schüler, die alle aus demselben Grund hier waren wie ich.
Einige hörten Frau Ahrens aufmerksam zu, andere sahen sich ebenfalls um oder unterhielten sich leise miteinander. Im Sitzblock gegenüber erblickte ich ein Mädchen, das mir ein aufmunterndes Lächeln zuwarf. Ich lächelte freundlich zurück. Sie sah mich noch einen kurzen Moment an und richtete dann ihren Blick wieder auf die Direktorin. Ich tat es ihr gleich.
Die Frau, die hinter dem Podium stand, war schätzungsweise um die 50 Jahre alt und ziemlich groß gewachsen. So, wie sie dastand – aufrecht und die Hände lässig zu beiden Seiten des Pultes – strahlte sie sehr viel Selbstsicherheit aus. Der untere Teil ihres Körpers wurde von dem Podium verdeckt, aber ich konnte sehen, dass sie einen eleganten, dunkelblauen Blazer trug, den silberne Pailletten am Revers und an den Ärmeln zierten. Ihre Haare waren dunkelbraun und zu einem strengen Dutt frisiert und auf ihrer Nase saß eine schwarze Hornbrille, durch die sie noch selbstbewusster wirkte. Ich konnte mir vorstellen, dass diese Frau sehr streng, aber dennoch fair war. Hoffentlich würde ich gut mit ihr klarkommen.
Nachdem ich mit der Begutachtung der Direktorin fertig war, entdeckte ich an der Wand hinter ihr eine große Uhr. Sie zeigte 12.01 Uhr. Mir fiel auf, dass viele Schüler mittlerweile auf die Uhr blickten, aus dem Fenster sahen oder anfingen, auf ihren Stühlen herumzurutschen. Auch mir wurde es allmählich zu lange, über die Geschichte der Schule informiert zu werden. Meine Gedanken schweiften ab und landeten bei dem Jungen, mit dem ich vorhin zusammengestoßen war.
Jetzt musste ich über meine Tollpatschigkeit schmunzeln. Und an seine wunderschönen blauen Augen denken, die direkt in meine sahen, als er mich fragte, ob es mir gut gehe. Ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus, welches gleich darauf von meiner altbekannten Übelkeit zunichte gemacht wurde.
Schlag ihn dir aus dem Kopf, du könntest sowieso nicht mit ihm zusammen sein, da du dieses nervige Problem hast und außerdem hat er schon eine Freundin!, ermahnte ich mich selbst.
Applaus donnerte durch den Saal und riss mich jäh aus meinen Gedanken. Die Rede war zu Ende, alle Schüler standen von ihren Plätzen auf und eilten zum Ausgang. Auch ich setzte mich in Bewegung. Jedoch wusste ich gar nicht, wo sich die Mensa befand. Allerdings hatte ich sowieso keinen Appetit mehr, da mir schon wieder schlecht war.
Ich fragte trotzdem ein Mädchen mit langen dunklen Haaren, ob sie wüsste, wo die Schulkantine sei. Sie antwortete, dass Frau Ahrens das doch gerade gesagt hatte, am Ende ihrer Rede. Das hatte ich gar nicht mitbekommen, weil ich so vertieft in meine Gedanken war. Das Mädchen gab mir aber dennoch die gewünschte Information.
Die Schulkantine befand sich im Erdgeschoss, rechts neben der breiten Holztreppe, die in die oberen Geschosse führte. Ich trat zusammen mit einer Traube von anderen Schülern durch die Tür hindurch und sogleich schlug mir ein starker Geruch nach frittierten Pommes Frites entgegen. Die Kantine war – ebenso wie der Saal, in dem die Einführung stattgefunden hatte – eher in hellen Tönen gehalten. Einzig eine Wand war in demselben Orange gestrichen, wie die Außenfassade des Gebäudes. Vor dieser Wand waren Sitzgruppen angeordnet, an denen die Schüler Platz nehmen konnten. Gegenüber befand sich eine lange Theke, an der verschiedene Gerichte ausgegeben wurden.
Zielstrebig steuerte ich nur die Salatbar an und setzte mich an einen freien Platz am Fenster. Lustlos fing ich an in meinem Salat herumzustochern. Ich war frustriert darüber, dass mir meine Übelkeit, noch bevor der Unterricht überhaupt angefangen hatte, schon wieder in die Quere kam. Aber ich konnte es nicht leugnen, der Junge von vorhin gefiel mir ausgesprochen gut! Jedoch war es aussichtslos, mit ihm zusammen zu kommen…
"Hi, du bist Emma, richtig?", wurde ich plötzlich angesprochen. Ich sah auf. Mir gegenüber saß ein Mädchen. Genauer gesagt war es das Mädchen, das ich zuvor nach der Mensa gefragt hatte. Ich musterte sie genauer. Sie hatte fast schwarzes Haar, das in sanften Wellen über ihren Rücken fiel und trug ein gelb-pink geblümtes Spaghettiträger-Top mit tiefem Ausschnitt, welches sie bei ihrer Oberweite auch locker tragen konnte. Sie war sehr hübsch. Ich räusperte mich und erwiderte:
"Ja genau. Und du bist?"
Sie hielt mir ihre Hand hin. Ich ergriff sie.
"Lucía Flores", stellte sie sich vor.
"Hey, dein Name klingt spanisch! Wo kommst du denn her?", wollte ich wissen. Meine schlechte Laune von eben rückte in den Hintergrund.
Ich erntete ein Grinsen.
"Sí, ich bin Spanierin, aber in Deutschland geboren. Ich komme aus Hannover. Meine Eltern sind auch Spanier und kommen ursprünglich aus einer kleinen Stadt nahe Sevilla. Sie sind nach Deutschland ausgewandert, weil dort die Arbeitssituation besser ist als in Spanien." Ein klein wenig sprach sie mit spanischem Akzent, was aber sehr schön klang.
"Achso, aber kennst du trotzdem deine Heimat in Spanien? Und wurdest du dann zweisprachig erzogen?"
Auf einmal war ich ganz euphorisch, mehr über Lucía zu erfahren. So war das immer mit mir. Sobald es um Fremdsprachen ging, war ich wie in einer anderen Welt!
Sie nickte.
"Ich war die Sommerferien über bei meiner Familie in Santiponce. Meine Großeltern wohnen dort immer noch in einem großen Haus, das genügend Platz für die ganze Familie bietet. Sogar mein Bruder und meine zwei Schwestern mit Familie und Kindern sind gekommen und wir haben stundenlang gegessen und Ausflüge unternommen. Bei uns ist es immer sehr lustig und laut." Sie lächelte versonnen. Offenbar erinnerte sie sich an die schöne Zeit.
Ihre Augen, die die Farbe von dunkler Schokolade hatten, glänzten vor Freude. Dadurch kam ihr schwarzer Lidstrich noch mehr zur Geltung.
"Klingt toll!", sagte ich und meinte es auch so.
Das Mädchen strahlte.
"Und ja, ich bin zweisprachig aufgewachsen", fügte sie hinzu. "Meine Eltern haben von Anfang an viel Wert darauf gelegt, dass ich meine Heimat und die Traditionen – eben auch die Sprache – kennenlerne und beibehalte, auch wenn ich in Deutschland geboren bin."
Lucía legte den Kopf schief und sah mich an.
"Und wo kommst du her?"
"Ich komme aus Ostereistedt – einem kleinen Dorf, das ungefähr 90 Kilometer von Hamburg weg ist", antwortete ich.
"Und du interessierst dich offensichtlich für Spanisch!", schlussfolgerte sie.
"Ja, total! Ich liebe Sprachen! Naja, deswegen bin ich ja auch hier."
Sie nickte.
"A mí también!", sagte sie, was "ich auch" bedeutete. Wir lachten beide.
Die Schulklingel ertönte mit einem lauten "Ding Dong" und läutete das Ende der Pause ein. "Wir müssen unsere Koffer holen. Vorne am Empfang", bemerkte Lucía.
"Juhu, bei der unfreundlichsten Schnepfe auf der ganzen Welt!", entgegnete ich theatralisch und verdrehte die Augen.
Fragend sah mich meine neue Freundin an. Ich winkte ab.
"Erzähl ich dir später!"
Wir sprangen auf, brachten unsere Tabletts zum Essenswagen und eilten aus der Cafeteria.
Beziehungsprobleme
Leon
Ich saß in einem pinken Ledersessel und langweilte mich. Victoria war im Nebenraum und quatschte mit der Nageldesignerin Sonya über die letzte Modenschau, während diese ihr falsche Fingernägel in Rosé verpasste. Es war mir einfach nicht