Herr ... Faust, wir lebten damals alle in Angst und Schrecken. Wissen Sie, Herr Doktor, ich wohne ja am Hagenring, und dort wurde doch ein furchtbarer Überfall mit Sprengstoff auf die Post verübt. Alles flog in die Luft, und ich konnte ...“
„Ja, ich erinnere mich gut, Herr Breschke, besten Dank. Und der Herr Lücke – wie lange will er wohl noch bleiben?“
Der Concierge hob die Schultern und machte eine verlegene Miene dazu.
„Ich weiß es leider nicht genau, Herr ... Doktor Faust. Aber eines kann ich gewiss sagen: Sein Zimmer wurde bis zum Ende dieser Woche im Voraus bezahlt.“
„Im Voraus?“
Der alte Polizeipräsident zog die Augenbrauen hoch.
„Ja, das ist ... bei bestimmten Personen ... von der Direktion so gewünscht“, versicherte der Concierge eifrig mit unterdrückter Stimme und warf dabei einen Blick über die Schulter, ob auch niemand seine Worte verstehen konnte.
„Aha, und der Herr Lücke, der ist also so eine bestimmte Person?“
Breschke nickte eifrig, Faust drückte ihm beim Verabschieden ein üppiges Trinkgeld in die Hand, rückte seinen Zylinder zurecht und war aus der Tür, bevor der Concierge noch eine Frage stellen konnte.
Nachdenklich sah er dem alten Polizeipräsidenten hinterher.
Der Lücke hatte doch Dreck am Stecken!, fuhr es ihm durch den Kopf, als er Faust mit erstaunlich elastischem Schritt zurück zur Münzstraße gehen sah. Hoffentlich hat der Bursche nicht noch Sprengstoff auf dem Zimmer. Ich sollte bei nächster Gelegenheit dort selbst einmal nachsehen, bevor mir das schöne Haus um die Ohren fliegt! Er drehte sich auf dem Absatz um und – erstarrte. Da stand der Mann unmittelbar vor ihm und sah ihn durchdringend an. Vollkommen lautlos musste er die Halle durchquert haben, was schon aufgrund der Marmorfliesen eine Herausforderung war.
„Ach, Herr Breschke ...“, sprach der Mann ihn an. Er hatte seinen Überrock nebst Zylinder abgelegt und trug jetzt einen schlichten, aber sehr elegant geschnittenen Anzug. Eine dicke, schwere Chatelaine, die ein Mann von Welt eigentlich nur zum Frack trug, um die Uhr in der Westentasche damit zu halten, spannte sich über seiner Weste.
„Herr Lücke? Was kann ich für Sie tun?“
„Sagen Sie – war das nicht der ehemalige Polizeipräsident Faust, der da gerade hinausgegangen ist?“
Der Concierge erwiderte den Blick des Mannes, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. „Ja, das war er in der Tat. Kennen Sie ihn persönlich?“
Lücke schwieg einen Moment und starrte sein Gegenüber weiter scharf an. Dann zuckte er die Schultern, wandte sich wortlos ab und ging hinüber in den Rauchsalon, wo auch die Tageszeitungen auslagen.
Der Concierge kehrte zu dem Empfangstresen zurück, nahm seinen Platz ein und konnte von dort beobachten, wie Lücke sich umständlich eine Zigarre anschnitt, sie schließlich in Brand steckte und dann zu einer Zeitung griff. Alles schien vollkommen unverdächtig, und als die Tür von einem Pagen aufgerissen wurde, weil eine Kraftdroschke vorfuhr und neue Gäste eintrafen, war er ohnehin abgelenkt und beschäftigt. Etwas später fiel sein Blick wieder auf die fein geschliffene Glasscheibe des Rauchersalons. Er war leer, aber im Aschenbecher lag noch die erloschene Zigarre des Mannes.
Vergeblich blickte Breschke sich nach allen Seiten um, konnte aber nichts von dem Gast sehen. Achselzuckend wandte er sich wieder der Fremdenliste zu, in der er sorgfältig die Namen der neuen Gäste eintrug, um sie am nächsten Tag den Behörden zu übergeben. Es war üblich, die Namen und Berufe der Gäste auch in der Zeitung zu veröffentlichen.
Plötzlich schreckte der Concierge zusammen und ließ den Federhalter sinken.
Mit wenigen Schritten war er im Rauchersalon und nahm die Zeitung auf, in der Lücke gerade noch geblättert hatte. Die Seite mit den Nachrichten über die Gäste in der Stadt war herausgerissen.
Seltsam! Was wollte Lücke mit der Gästeliste der Stadt?
Breschke bedauerte, dass der alte Polizeipräsident nicht mehr anwesend war. Früher hatte der alte Herr gern einen guten Cognac im Haus genossen, dazu eine Zigarre geraucht und ebenfalls in den Zeitungen geblättert. Der Concierge hätte etwas darum gegeben, wenn er jetzt seine Beobachtungen weitergeben könnte. So aber musste das auf seinen Feierabend verschoben werden, und im Laufe des heutigen Tages hatte er so viel zu tun, dass er über diese Angelegenheit hinwegkam und sie ihm erst wieder auf dem Weg zum Hagenmarkt einfiel. Aber da hatte er sein Haus schon fast erreicht und keine Lust mehr, zurück zum Bohlweg zu gehen, wo der ehemalige Präsident eine Wohnung hatte. Das Haus am Bohlweg Nummer 10 wurde zugleich von dem pensionierten wie von dem neu ernannten Polizeipräsidenten bewohnt. Allerdings hatte sich Dr. Thomas Faust bereits seit einiger Zeit umgesehen, weil ihm die Nachbarschaft nicht sonderlich gefiel. Seine Wahl war auf eine kleine Villa im idyllisch gelegenen Vorort Riddagshausen gefallen. Derzeit wurde dort noch ein wenig umgebaut und renoviert, und das Ehepaar Faust fieberte dem Tag des Umzuges entgegen, während sein Sohn nicht verstand, warum man im hohen Alter noch solch einen Umzug machen musste.
Alte Bäume verpflanzt man nicht!, hatte Faust junior gesagt und dafür ein schallendes Gelächter seines Vaters geerntet.
Der junge Polizeiagent war in Gedanken versunken in sein Büro zurückgekehrt. Das Bild des toten Polizeipräsidenten hatte sich tief in sein Gedächtnis eingegraben und weckte die Erinnerung an ihre erste, unangenehme Begegnung. Bertram hatte ihn nur wenige Tage nach seinem Amtsantritt in sein Büro gerufen. Nach einer ungebührlich langen Wartezeit auf dem harten Stuhl im Vorzimmer bei einer Dame, die sich bemühte, eifrig auf ihrer Schreibmaschine herumzuhämmern, nur um ihn dabei geflissentlich zu übersehen, wurde er schließlich in das Allerheiligste gelassen.
Bertram hüllte sich in eine dicke Zigarrenwolke und musterte den jungen Beamten herablassend. Dann begrüßte er ihn mit den Worten: „Diesen Unsinn mit dem Titel eines Polizeiagenten werde ich als Erstes wieder abschaffen. Stammt wohl noch von Ihrem Vater, nehme ich an.“ Damit zog er erneut an seiner Zigarre, pustete schließlich eine weitere Qualmwolke an die Decke und blätterte in einer schmalen Akte, schüttelte dabei mehrfach den Kopf und schien die Anwesenheit des Beamten vollkommen vergessen zu haben, bis Faust sich schließlich zu Wort meldete.
„Herr Präsident ...“
Bertram gelang es tatsächlich, seinem Gesicht einen verwunderten Anblick zu verleihen, als er von den Papieren aufsah.
„Bitte?“
„Mit Verlaub, Herr Präsident, dieser Sonderstatus eines Kriminalbeamten geht nicht auf meinen Herrn Vater zurück, sondern ...“
„Sondern?“, echote der Präsident und zog die Augenbrauen hoch.
„Auf eine Maßnahme zur Regierungszeit Herzog Wilhelms, der damit die Befugnisse eines Kriminalbeamten über den eigentlichen Bereich ...“
„So, Herzog Wilhelm also, ja?“, schnaubte der Präsident verächtlich. „Es ist gut, Faust, ich werde mich darum kümmern.“
Als Thomas E. Faust noch zögerte und der Präsident erneut ein Papier in die Hand nahm, folgte die Anweisung: „Es ist gut, Sie können gehen.“ Dabei sah ihn der Allgewaltige nicht einmal an.
Der junge Beamte salutierte und verließ das Büro schnellen Schrittes. Danach wurde er nie wieder auf das Thema angesprochen, und nach seinen ersten Ermittlungserfolgen war sein Sonderstatus wie der seiner Vorgänger gefestigt.
Seltsam, dass ich gerade jetzt an diese Szene denken muss. Aber in der Art ging Bertram mit allen Polizisten um, obwohl es auch immer Gerüchte um seine Verstrickung in den uralten Fall des Wilhelm Müller gab. Na, wir werden ja sehen!
Entschlossen drückte er die Türklinke zu seinem Büro nach unten und saß wenige Minuten später über einem Bericht, den man ihm auf den Tisch gelegt hatte.
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