Cedric Balmore

Mörder sind keine Engel: 7 Strand Krimis


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Keller hatte sich erhoben und ging erneut zu einem der Regale und zog dort ein Buch hervor, in dem sie ebenfalls kurz blätterte.

      „Schauen Sie doch bitte mal in der Akte nach dem Foto des Mannes. Wilhelm Müller war ein ausgesprochen gutaussehender, junger Mann. Wenn ich mich nicht völlig irre, wurde er selbst in einem Polizeibericht mit dem Schauspieler Harry Piel verglichen. Haben Sie das Foto?“

      Thomas Faust hatte gleich mehrere Bilder des Mannes. Eines stammte offenbar von einem Polizeifotografen und diente der Erkennung. Es gehörte zu einem Bogen mit weiteren Daten Müllers, die man nach der klassischen Vermessung nach Bertillon angefertigt hatte. Faust legte das einzelne Foto neben das in einer Zeitung abgedruckte und blickte gespannt auf das Buch, das Fräulein Keller nun aufgeschlagen danebenlegte. In einem Artikel über die Verbrechen in Chicago seit Beginn der Prohibition 1920 wurden verschiedene Bandenmitglieder vorgestellt, die beim Alkoholschmuggel oder im Zusammenhang mit illegalem Ausschank von der Polizei gestellt wurden.

      Ein Finger mit einem sehr gepflegten und dunkelrot lackierten Fingernagel deutete auf ein gut erkennbares Foto, das einen jungen Mann zeigte. Er trug keinen Hut, aber wohl ein ordentliches Hemd und eine Krawatte dazu, die von einer auffällig verzierten Nadel gehalten wurde.

      „Unglaublich!“, rief der Polizeiagent erstaunt aus. „Aber wie ist das möglich?“

      „Identisch oder nur ähnlich, Herr Polizeiagent?“

      Irritiert blickte er auf, senkte aber rasch wieder den Blick, als er erneut in die unergründlichen, blauen Augen sah.

      „Kann ich bitte eine Lupe haben?“

      Schweigend zog seine Gastgeberin eine Schublade auf und reichte ihm ein starkes Vergrößerungsglas. Sehr sorgfältig untersuchte Faust schweigend beide Fotos, verglich insbesondere die Augenpartie und den Mund bei den dargestellten Personen und lehnte sich schließlich mit einem Seufzer zurück.

      „Identisch, Euer Ehren!“

      Fräulein Keller ließ erneut ihr helles Lachen erklingen, und Faust spürte bei diesen Tönen einen angenehmen Schauer. Himmel hilf! Noch eine Stunde allein mit dieser Frau in diesem Raum und ich kann für nichts mehr garantieren! Diese Augen, ihre Bewegungen, dazu dieses Parfum ... Faust, reiß dich zusammen!

      „Danke, Sie bestätigen nur, was ich inzwischen mit absoluter Sicherheit beweisen kann.“

      „Beweisen? Nach so vielen Jahren? Ich habe keine Ahnung, was damals passiert ist und werde mir gern heute Nacht diese Akte gründlich durchlesen. Aber – Beweise, Fräulein Keller?“

      Anstelle einer Antwort deutete sie nur aus dem Fenster. Faust trat neben sie, hütete sich aber, zu dicht an sie heranzutreten. Doch auch so hatte der Duft ihres Parfums auf ihn eine geradezu betäubende Wirkung. Erst langsam verstand er, was sie meinte, als sie noch immer mit dem ausgestreckten Finger auf den roten Sportwagen wies, der dort glänzend in der Sonne vor dem Haus stand.

      „Der Sportwagen? Was ist damit?“

      „Er gehörte einst Wilhelm Müller alias Wild Bill, Herr Faust!“

      4.

      Thomas Faust junior saß regungslos im Dunkeln und starrte aus dem Fenster.

      Vor nunmehr fast zwei Stunden hatte Fräulein Keller ihn zurückgefahren und vor seiner Wohnung abgesetzt. Seit dieser Zeit saß er auf dem Stuhl, starrte vor sich hin, ohne wirklich etwas wahrzunehmen, und bemühte sich, seine Gedanken zu ordnen. Aber das blieb schwierig, denn noch immer hatte er den Geruch ihres Parfums in der Nase. Außerdem musste er sich eingestehen, dass er hoffnungslos verliebt war. Und wenn er ganz ehrlich sein wollte, war das bereits im ersten Augenblick ihrer Begegnung geschehen. Nur wollte er es sich da noch nicht eingestehen. Aber jetzt, in der Einsamkeit seiner Wohnung, konnte er an nichts anderes denken als an ihr Gesicht, das an diesem Tag mehrfach auf eine so gefährliche Weise seinem nahe gekommen war.

      Du bist ein Esel, Faust! Kannst du dich nicht mal auf deinen aktuellen Fall konzentrieren? Dein Polizeipräsident wurde vor deinen Augen erschossen, und du hast trotz der zahlreichen Verhöre an diesem Tag nicht den Hauch einer Spur zum möglichen Täter.

      Aus seinen Grübeleien schreckte ihn schließlich das laute Klingeln seines Telefons. Er sprang auf, griff zum Hörer und – zuckte zusammen.

      „Ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen, Herr Faust. Sind Sie bereit? Stichwort Friesenstraße. Vergessen Sie Ihre Waffe nicht, es könnte sein, dass wir sie heute Nacht brauchen!“

      „Fräulein Keller ...“, stammelte er.

      „Ich verlasse mich auf Sie!“

      „Selbstverständlich bin ich dabei. Ich kann Sie ja schlecht allein gehen lassen!“, versicherte der Polizeiagent rasch und hörte noch das helle Lachen, bevor der Hörer wieder aufgelegt wurde.

      Faust behielt seinen Hörer noch in der Hand.

      Was für eine verrückte Idee, in der Nacht in diese Gegend zu gehen! Schon am Tag war es in der Friesenstraße für einen Polizisten nicht sonderlich ratsam, sich dort zu zeigen. Und in der Dunkelheit? In Begleitung einer ... Dame?

      Wütend warf er den Hörer auf die Gabel, ging zu seinem Stahlschrank und nahm den Revolver heraus, kontrollierte die Trommel und schob ihn in den Hosenbund. Aus einer Schachtel kippte er sich eine Handvoll Patronen heraus, die er achtlos in die äußere Jackentasche fallen ließ.

      Die halbe Stunde war noch nicht ganz vorüber, als er die Lichter eines Autos vor dem Haus sah, das eben direkt vor seiner Tür anhielt. Eine Straßenlaterne warf ihr Licht auf das amerikanische Verdeck, das jetzt allerdings verschlossen war. Faust klopfte noch einmal auf seine Taschen, wo sich auf der einen Seite die Patronen befanden, auf der anderen Seite der Schlagring, den er einst einem der Schläger in einer Gaststätte abgenommen hatte.

      Mit einem tiefen Seufzer warf er noch einen Blick in den Spiegel auf dem Flur, stülpte sich seinen Hut auf und schob ihn leicht auf die Seite.

      „Verwegen, Herr Polizeiagent!“, murmelte er dazu und war im nächsten Moment auf der Straße. ‚Aber auf was habe ich mich hier eigentlich eingelassen? Diese unglaubliche Frau kommt mit einer fast zehn Jahre alten Akte zu mir, und ich habe einen Fall von höchster Brisanz aufzuklären. Gut, diese nächtliche Fahrt muss ich mit ihr gemeinsam machen, sie ist schließlich eine Frau. Aber dann muss ich ihr auch unmissverständlich klarmachen, wie es hier weitergehen kann ...‘

      „Die ausgebeulte Jackentasche weist auf schwere Bewaffnung hin!“, begrüßte Fräulein Keller ihn.

      „Das stimmt zwar, aber es ist nur meine zusätzliche Ausrüstung. Ich besitze seit einiger Zeit einen .45 Colt New Service Revolver Model 1909, und bin sehr zufrieden mit ihm. Aber die Waffe ist doch für eine Jackentasche zu groß und zu schwer, deshalb trage ich sie im Hosenbund.“

      Während die Kriminalistin den Wagen startete und einen Gang einlegte, erwiderte sie: „Ich bin erstaunt, dass Sie eine amerikanische Waffe besitzen. In meinem Fall ist es ein Colt .38 Special Police Revolver, wie er seit 1920 gefertigt und von der Polizei in Chicago verwendet wird.“

      Die junge Frau griff unter ihren Fahrersitz und präsentierte stolz die selbst im dunklen Auto noch chromblitzende Waffe.

      „Vorsicht!“, stieß Faust aus