Cedric Balmore

Mörder sind keine Engel: 7 Strand Krimis


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      Mit einer anmutigen Handbewegung deutete sie auf die hell gestrichene Hausfront, vor der fünf mächtige Säulen standen und Faust an eine Miniaturausgabe des römischen Pantheons erinnerten. In der weit geöffneten, massiven Tür war ein Hausdiener erschienen, der tatsächlich einen Frack und dazu weiße Handschuhe trug. Aber der Polizeiagent verkniff sich jede Gesichtsregung, biss sich dabei aber immer wieder leicht auf die Zunge, um nicht laut herauszuplatzen.

      Diese Amerikaner haben doch einen herrlichen Zug, alles nachzuahmen, was ihnen besonders und elegant erscheint! In einem römischen Palast nun auch noch ein englischer Butler – ach, Fräulein Keller, muss denn so etwas sein?, schoss es ihm durch den Kopf, als der Diener ihn mit einer kurzen, angedeuteten Verbeugung begrüßte. Faust vermutete, dass er enttäuscht war, ihm weder Zylinder noch Gehstock abzunehmen, und für einen kurzen Moment fühlte er sich wie bei einem Besuch in einem königlichen Palast. Aber nein – er betrat das Haus einer modernen, aufgeschlossenen Frau, die schließlich ihre akademischen Studien in seiner Heimatstadt fortsetzen wollte. Für einen Moment hatte er wieder die Karte vor Augen. Detektivin! Na, das mochte etwas in Braunschweig sein! Wir verfügen derzeit über neun Polizeibezirke mit eigenen Wachen, wir sind gut sechshundert Polizisten bei der Schutzpolizei, von unserer Abteilung ganz zu schweigen. In der Stadt leben etwa hundertsechzigtausend Bürger. Und jetzt auch noch eine Detektivin? Das wird mehr Ärger als Nutzen für uns bringen!, überlegte Faust, als er von seiner charmanten Gastgeberin in einen gediegen eingerichteten Salon geführt wurde.

      Auf einem Tischchen stand eine Etagere mit verlockend aussehenden Pralinen, davor zwei sehr modern wirkende, geschwungene Sessel. Aber wirklich erstaunt war Thomas Faust über die Wände, die mit deckenhohen Regalen zugestellt und mit einer unglaublich großen Menge von Büchern gefüllt waren. Er schätzte, dass in dem sichtbaren, saalähnlichen Raum dahinter wohl an die zehntausend Bücher stehen mussten.

      „Tee, Kaffee oder etwas Stärkeres?“

      „Gern einen Kaffee, Fräulein Keller.“

      Der Diener hatte sie schweigend begleitet und blickte jetzt erwartungsvoll in die Richtung der Hausherrin.

      „Bringen Sie uns bitte zwei türkische Mocca, Edmund.“

      Sie hatte den eleganten Hut achtlos auf die Garderobe im Flur gelegt, war sich mit der Hand über die mit einem Bobschnitt kurzgeschnittenen Haare gefahren und dann zu Thomas Faust getreten, der seinen Blick nicht von den Buchrücken abwenden konnte.

      „Mocca? Ja, warum nicht, sehr anregend!“, sagte der Polizeiagent und erntete erneut ein Lächeln. Als seine Gastgeberin jetzt etwas aus einem der Regale zog und sich so dicht vor ihn stellte, dass er ihr Parfum roch, klopfte sein Herz plötzlich schneller und schlug ihm bis in den Hals hinauf. Dorothee Keller drückte ihm etwas in die Hand, aber er konnte den Blick nicht von ihren Augen abwenden. Sie strahlten ihn mit einem Blau an, das ihn an die Farbe des italienischen Meeres erinnerte, wie er es im vergangenen Sommer kennenlernen durfte.

      Sein Vater hatte ihm zum bestandenen Staatsexamen eine Kunststudienreise nach Italien geschenkt, und nach einer etwas abenteuerlichen und anstrengenden Bahnreise, ein paar Tagen in Florenz und Mailand, brach er schließlich noch an die Küste auf, um die sommerlichen Temperaturen in einem der aufstrebenden, mondänen Badeorte auf angenehme Weise zu verbringen.

      „Hallo, Herr Faust, haben Sie mir eben zugehört?“

      Er zuckte verlegen zusammen.

      Was macht diese Frau mit mir? Sie sieht mir in die Augen und ich kann nichts anderes mehr denken, als sie in die Arme schließen zu wollen und einen Kuss auf diese herrlichen, vollen Lippen zu pressen. Das ist mir doch noch nie zuvor passiert, jedenfalls nicht nach so kurzer Zeit!

      „Ich bitte um Verzeihung, Fräulein Keller, aber was ist das hier?“

      Erstaunt sah er auf die Mappe, in der in steiler und sehr deutlicher Schrift, wie sie von Beamten gern gepflegt wird, ein Name stand. „Wilhelm Müller“, las er mit unterdrückter Stimme, „Abgeschlossen 4.9.1920“. Nach kurzem Überlegen zuckte er die Schultern, schlug die Mappe auf und entdeckte neben zahlreichen Protokollen auch mehrere Zeitungsartikel aus den verschiedenen, in Braunschweig erscheinenden Zeitungen. Die Überschriften weckten die Erinnerung an den Fall, der jedoch weder während der Dienstzeit seines Vaters noch in der Zeit seines eigenen Berufsbeginns lag.

      „Sagt mir auf den ersten Blick wenig. Klar, die Überschriften der beigelegten Zeitungsartikel sind reißerisch und berichten von einem jungen Mann, der offenbar in der Art eines amerikanischen Gangsters zahlreiche Überfälle mit Schusswaffengebrauch in Braunschweig und im umliegenden Land verübt hat. Warum haben Sie diese Akte, Fräulein Keller?“

      Edmund trat ein und servierte auf einem kleinen Silbertablett die dampfenden Mocca-Tassen. Die junge Wissenschaftlerin deutete darauf und bemerkte: „Vorsicht, sehr heiß, und wenn Sie möchten, gibt es hier den Zucker dazu. Oder trinken Sie ihn lieber ungesüßt?“

      „Also, offen gestanden, Fräulein Keller, bin ich bei einem Mocca auf türkische Weise zubereitet, gern mit etwas Zucker dabei. Ich habe gelernt, dass dieser Mocca in den Varianten sade, az şekerli, orta şekerli und tam şekerli kahve (ungesüßt, wenig gesüßt, mittelsüß und kräftig gesüßt), getrunken wird. Seit ich in Wien einmal einen Schwarzen aus der Seihkanne serviert bekam, ließ ich mich ein wenig in die Geheimnisse echten Kaffeegenusses einweihen. Unser Café Wagner am Hagenmarkt ist – neben dem Café Tolle am Bohlweg – noch immer meine Lieblingsadresse für einen guten Kaffee – und auch mein alter Herr liebt ihn.“

      Behutsam führten beide nun ihre gesüßten Tassen mit der heißen Flüssigkeit an die Lippen und probierten.

      „Ja, Ihr Vater ist ja auch der Grund für diese Akte. Oder besser gesagt, die Ursache“, sagte die Gastgeberin und stellte ihre Tasse auf den Tisch. „Zigarette?“

      Erstaunt sah sich Faust um.

      „Hier in Ihrer Bibliothek?“

      „Warum nicht?“, lachte Dorothee Keller. „Die meisten Bücher stammen aus dem Besitz meines Vaters, und der war ein leidenschaftlicher Pfeifenraucher. Ich glaube kaum, dass der Überseetransport in den Kisten alle Bücher vom Rauchgeruch befreit hat – also, nur zugegriffen, Herr Faust. Hier habe ich die Sorte Lord, aber die wird Ihnen zu leicht sein. Ich selbst bevorzuge allerdings auch eher die englische Sorte Goldflake, das ist für mich Tabakgeschmack, wie man ihn auch in Amerika liebt.“

      Mit diesen Worten zog sie eine der langen Zigaretten aus einer runden Dose, nahm eine Zigarettenspitze und entzündete sie mit einem Streichholz, dass sie einfach an der Sohle ihrer eleganten Schuhe anriss.

      Faust sah es und hatte das Bild eines Raureiters aus dem amerikanischen Westen vor Augen, wie er es so herrlich in den Romanen um den legendären Buffalo Bill gelesen hatte, die er vor vielen Jahren in einer Kiste auf dem Dachboden seines Elternhauses gefunden hatte. Diese Schmöker mit ihren grell-bunten Titelseiten gehörten sicher nicht zu der Art Literatur, die sein Vater im Alter liebte – aber der junge Faust las sie heimlich in jeder freien Stunde mit glühenden Ohren auf dem Dachboden, wo ihn niemand störte.

      „Durch einen Zufall erfuhr ich in Chicago von einem jungen Deutschen, der sich einer der Banden angeschlossen und aufgrund seiner Brutalität bald einen Namen gemacht hatte“, erklärte Fräulein Keller, lehnte sich zurück und schlug die Hosenbeine übereinander. „Er hatte den Namen Wild Bill von den anderen bekommen, und bei meinen Recherchen erfuhr ich mehr. Der Mann hieß Wilhelm Müller und stammte aus Braunschweig, wo er für einige sehr brutale Überfälle von der Polizei gestellt wurde.“

      „Gestellt?“, echote Faust. „Die letzte Zeitungsüberschrift lautet doch: Jugendlicher Verbrecher starb im Kugelhagel! Moment, hier habe ich es gleich wieder!“

      Der Polizeiagent hatte die Mappe wieder aufgenommen, blätterte kurz und hielt schließlich den Zeitungsausschnitt vom 3.9.1920 in der Hand. „Bei einem dreisten Einbruch in das Kaufhaus Frank wurde ein Verbrecher gestellt. Obwohl die Lage hoffnungslos war, gab der Mann nicht auf und eröffnete bei seiner Flucht das Feuer auf Polizei und Reichswehr. Er starb im