Kapitel
55.
1. Da die Überlieferung wenigstens nach dem Urteil dessen, der eine Vorstellung von der Erhabenheit der Lehre bekommen hat, kein Gemeingut und nicht allen ohne Unterschied zugänglich ist, muß man also „die in der Form eines Geheimnisses verkündete Weisheit“,298 die der Sohn Gottes lehrte, verbergen.
2. So muß ja der Prophet Jesaias seine Zunge mit einem Feuerbrand reinigen lassen, damit er das Gesicht verkündigen könne,299 und auch bei uns muß nicht nur erst die Zunge, sondern auch das Gehör geheiligt werden, wenn wir versuchen wollen, Teilhaber der Wahrheit zu sein.
3. Dieser Gedanke hemmte mich beim Schreiben, und noch jetzt scheue ich mich, „die Perlen“ wie es heißt, „vor die Schweine zu werfen, damit sie sie nicht mit ihren Füßen zertreten und sich gegen euch wenden und euch zerreißen.“300
4. Denn es ist schwer, die wahrhaft reinen und durchscheinenden Lehren über das wahre Licht vor Hörern zur Schau zu stellen, die den Schweinen gleichen und „ungebildet“301 sind. „Denn es gibt kaum irgendwelche Lehren, die anzuhören der großen Masse mehr Anlaß zu Spott, den Verständigen dagegen mehr Anlaß zu Bewunderung und Begeisterung gäbe.“302
56.
1. „Der natürliche Mensch nimmt nichts an, was vom Geiste Gottes stammt; denn in seinen Augen ist es Torheit.“303 „Weise plaudern mit ihrem Mund nicht aus, was sie in der Ratsversammlung erwägen.“304
2. Aber „was ihr vertraulich ins Ohr gesagt hört“, sagt der Herr, „das predigt auf den Dächern!“305 Damit befiehlt er uns, zu verstehen, daß die geheimen Überlieferungen der wahren Erkenntnis von einer hohen und überragenden Warte aus erklärt werden, und ermahnt uns, dieselben, wie wir sie vertraulich ins Ohr gehört haben, so auch denen weiterzugeben, bei denen es angemessen ist, dagegen nicht allen rückhaltlos das preiszugeben, was in Gleichnissen zu ihnen gesagt worden ist.
3.In die Darstellung meiner „Denkwürdigkeiten“ sind aber in der Tat die Samenkörner der Wahrheit da und dort ohne Ordnung eingestreut,306 damit die Leute, die gleich den Saatkrähen die Samen auflesen wollen,307 sie nicht finden können. Wenn es aber einen guten Ackersmann findet, wird jedes einzelne Samenkorn aufgehen und die Weizenfrucht sehen lassen.
XIII. Kapitel
57.
1. Während es nun nur eine Wahrheit gibt (die Lüge hat ja viele Abwege,308) haben die verschiedenen Richtungen der barbarischen und der griechischen Philosophie sie in viele Teile zerrissen, wie die Bakchen die Glieder des Pentheus,309 und nun erklärt jede einzelne Richtung das Stück, das sie zufällig erhalten hat, prahlend für die ganze Wahrheit. Durch den Aufgang des Lichtes wird aber, meine ich, alles erleuchtet.310
2. Dann wird sich zeigen, daß von allen Griechen und Barbaren, soweit sie sich um die Wahrheit bemühten, die einen nicht wenig, die anderen einen Teil, wenn überhaupt etwas von der Lehre der Wahrheit besitzen.
3. Die Ewigkeit faßt die Teile der Zeit, die Zukunft und die Gegenwart, aber gewiß auch die Vergangenheit in einem ganz kurzen Wort zusammen;311 noch weit mehr als die Ewigkeit besitzt aber die Wahrheit die Macht, ihre eigenen Samenkörner zu sammeln, mögen sie auch auf fremdes Land gefallen sein.
4. Denn mögen auch die Lehrmeinungen der einzelnen Richtungen einander unähnlich zu sein scheinen, so stimmen doch, wie wir finden werden, sehr viele von ihnen wenigstens hinsichtlich der Grundgedanken und der Gesamtwahrheit überein. Das ist wenigstens bei den Richtungen der Fall, die nicht völlig stumpfsinnig geworden sind und die natürliche Fähigkeit, folgerichtig zu denken, nicht ganz verloren haben, indem sie, wie das Frauengemach den Mann, so das vernünftige Denken von sich ausgestoßen haben. Bei den übrigen aber schließen sich die Meinungen wie Glieder oder Teile oder Arten oder Gattungen zu einer Einheit zusammen.
5. Ferner ist auch die höchste Saite der niedrigsten entgegengesetzt, aber beide verbinden sich zu einem Klang; und bei den Zahlen steht die gerade Zahl im Gegensatz zu der ungeraden; aber für die Rechenkunst gehören beide zusammen, wie für den Begriff „Figur“ der Kreis und das Dreieck und das Viereck und die übrigen mathematischen Figuren, die voneinander verschieden sind. Aber auch in der ganzen Welt behalten alle Teile, auch wenn sie nicht miteinander übereinstimmen, doch ihre Zugehörigkeit zu dem Ganzen.
6. So hat also die barbarische und die griechische Philosophie die ewige Wahrheit in Teile zerrissen, die freilich nicht zu der Sage von Dionysos,312 sondern zu der Gotteslehre von dem unvergänglichen Wort gehören. Wer aber die einzelnen Teile wieder zusammenfügt und vereinigt, der wird, das wisse wohl, unfehlbar die vollkommene Lehre, nämlich die Wahrheit, schauen.313
58.
1. Es steht ja im Prediger geschrieben: „Und ich gewann mehr Weisheit als alle, die vor mir in Jerusalem gewesen sind; und mein Herz sah vieles, Weisheit und Erkenntnis; Gleichnisse und Wissenschaft lernte ich kennen; denn auch dies ist eine Absicht des Geistes, daß mit einer Fülle von Weisheit auch eine Fülle von Erkenntnis verbunden ist.“314
2. Wer aber mannigfacher Weisheit kundig ist, der ist wohl im eigentlichen Sinn ein Träger der Erkenntnis (ein Gnostiker). So steht geschrieben: „Reichtum an Erkenntnis der Weisheit wird dem das Leben schenken, der von ihr stammt.“315
3. Ferner bekräftigt noch deutlicher folgendes Schriftwort das Gesagte: „Alles ist gegenwärtig für die Verständigen“ (der Begriff „alles“ umfaßt das Hellenentum und das Barbarentum; nur das eine von beiden ist nicht mehr alles) „und gerade aufgerichtet für die, die Klugheit gewinnen wollen.
4. Wählt lieber Bildung und nicht Silber, und Erkenntnis lieber als Gold, das als echt erfunden worden ist; zieht auch Klugheit reinem Golde vor; denn Weisheit ist mehr wert als kostbare Steine; alle Kleinodien wiegen sie nicht auf.“316
XIV. Kapitel
59.
1. Die Griechen sagen, daß nach Orpheus und Linos und ihren ältesten Dichtern wegen ihrer Weisheit zuerst die sogenannten Sieben Weisen bewundert wurden. Von ihnen stammten vier aus Asien, Thales von Milet, Bias von Priene, Pittakos von Mitylene und Kleobulos von Lindos, zwei aus Europa, Solon von Athen und Chilon von Lakedaimon; als siebenten aber nennen die einen Periandros von Korinth, die andern den Skythen Anacharsis,
2. wieder andere den Epimenides von Kreta, den der Apostel Paulus in dem Brief an Titus mit folgenden Worten erwähnt: „Es sagte einer von ihnen selbst, ihr eigener Prophet, so: Lügner sind immer die Kreter, wie Tiere, nichtsnutzige Schlemmer. Und dieses Zeugnis ist wahr.“317
3. Siehst du, wie er auch den Propheten der Griechen ein Stück Wahrheit zugesteht und kein Bedenken trägt, in den Worten, die er zur Erbauung und zur Beschämung von irgend jemand spricht, auch griechische Dichter mitzuverwenden?
4. Wie er z.B. zu den Korinthern (denn jene Stelle ist nicht die einzige) über die Auferstehung der Toten spricht, verwendet er den iambischen Vers eines Tragikers; er sagt nämlich: „Was nützt mir das? Wenn die Toten nicht auferstehen, dann lasset uns essen und trinken, denn morgen sterben wir.318 Laßt euch nicht irreführen! Die guten Sitten macht ein schlechter Umgang schlecht.“319
5. Andere haben den Akusilaos von Argos zu den Sieben Weisen gerechnet, wieder andere den Pherekydes von Syros. Und Platon setzt an die Stelle des Periandros, der wegen seiner Tyrannenherrschaft des Lobes der Weisheit nicht würdig sei, den Myson von Chen.320
60.
1. Daß nun die griechischen Weisen erst nach der Zeit des Moses gelebt haben, wird ein wenig später gezeigt werden.321 Aber