Группа авторов

Psychosoziale Beratung


Скачать книгу

1900er Jahre bis Ende der Weimarer Republik

      Rückblickend lassen sich zwei »Gründungsphase(n)« (Großmaß 1997, 121; Großmaß 2000, 66; Nestmann, Engel & Sickendiek 2013, 1325) in der Entwicklung zur aktuellen Beratungslandschaft ausmachen. Die erste liegt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mit Höhepunkt in den 1920er Jahren. Nach Großmaß hat das Individuum erstmalig gewisse Spielräume in seiner Lebensführung, innerhalb derer es Gestaltungsfreiheit besitzt und abwägen muss, was es tut. Bisher als fest vorausgesetzte Standards der Gesellschaft werden in Frage gestellt. Eine Orientierungshilfe bietet Beratung, unterstützt durch »die Entfaltung der Wissenschaften wie Psychologie, Erziehungswissenschaften und Soziologie« (Sickendiek, Engel & Nestmann 2008, 25; Großmaß 2000). Beratung wird vorrangig als Aufklärung verstanden (Großmaß 2007). Dabei wird sie zunächst nicht von staatlicher Seite angeboten, sondern durch engagierte Bürger und deren Interessenverbände sowie Berufsstände und Einzelpersönlichkeiten. »Psychosoziale Beratung verdankt sich in ihrem Beginn den Selbsthilfepotentialen engagierter politischer Gruppierungen, die auf diese Weise – obwohl nicht über Regelungsmacht verfügend – ihren Einfluss auf die Konfliktlösungsrichtung geltend machen« (Großmaß 1997, 123). Zu den wichtigsten und heute noch vorhandenen Beratungseinrichtungen gehören u. a. die Berufsberatung, die Sexual- und Eheberatung sowie die Erziehungsberatung. Auf sie soll im Folgenden näher eingegangen werden.

      Berufsberatung wird als eigener Begriff erstmals 1898 vom »Bund deutscher Frauenvereine« geprägt (Gröning 2009; Gröning 2010; Krämer 2001). Es ist die Zeit der »Umstrukturierung des Arbeits (sic!) und Berufsmarktes« (Großmaß 1997, 119; Großmaß 2000, 63). Frauen haben einen erhöhten Beratungsbedarf. Sie erringen das Recht, arbeiten zu gehen und dabei Berufsausbildung und -tätigkeit selbst zu bestimmen (Gröning 2009; Krämer 2001; Haas 2002). 1902 wird die erste »Auskunftstelle für Frauenberufe« unter Leitung von Rathenau durch den »Bund deutscher Frauenvereine« gegründet. Weitere Einrichtungen folgen (Gröning 2009; Krämer 2001; Haas 2002). Rathenau entwickelt auf eigenen statistischen Erhebungen beruhend einen Katalog zu verschiedenen Ausbildungen und Berufen (Gröning 2010). Die Idee der Berufsberatung wird anschließend von vielen anderen übernommen, u. a. von Gewerkschaften. In den 1920er Jahren bilden sich vier Kernaufgaben der Berufsberatung heraus, »(…) die Berufsaufklärung, die individuelle Einzelberatung, die Vermittlung in berufliche Ausbildungsstellen und die Förderung der beruflichen Ausbildung« (Schröder2007, 51). Auch öffentliche Berufsämter entstehen und führen »Berufseignungsprüfungen« (Krämer 2001, 1098) durch. Diese Prüfungen basieren auf pädagogischer und psychologischer Grundlagenforschung, dienen zur Umsetzung des »trait-and-factor-Modells«, nachdem die Anforderungen einer Arbeitsstelle und die persönlichen Eigenschaften eines Arbeitsuchenden zusammenpassen müssen (Thiel 2007). Mit dem 1922 in Kraft tretenden Arbeitsnachweisgesetz werden Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung in die Aufgaben von Arbeitsnachweisämtern, den Vorläufern der Arbeitsämter, integriert. Die Arbeitsnachweise haben verschiedene Träger, vorrangig Innungen, Gewerkschaften, Kommunen und Wohlfahrtsverbände (vgl. Krämer 2001). Im Jahr 1927 tritt das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in Kraft. Damit wird eine Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung geschaffen (ebd.). Neben der Reichsanstalt dürfen nur noch nicht kommerzielle Einrichtungen Berufsberatung anbieten. Diese Monopolisierung wird zum Schutz der Arbeitssuchenden umgesetzt, die vor der Ausbeutung durch kommerzielle Arbeitsvermittler geschützt werden sollen (Haas 2002). Die Reichsanstalt richtet ihre Beratung an junge Menschen auf der Suche nach dem ersten Beruf (ebd.). Neben der Informationsvermittlung bestimmen zunehmend Eignungstestungen, sowohl körperliche als auch psychische, die Berufsberatung.

      Die Sexualberatung kommt erstmals in einer Zeit großer Armut in der Bevölkerung auf. Die Zunahme von Geschlechtskrankheiten, nicht sterilen und damit tödlichen Schwangerschaftsabbrüchen sowie der Rückgang von Geburten spielen eine wichtige Rolle. Frauen haben nach dem Ersten Weltkrieg eine neue Stellung (Großmaß 1997; Gröning 2009). »Die Frauenbewegung und Teile der Sozialdemokratie kritisieren (…) die staatliche Bevölkerungspolitik (…) und gründen Sexualberatungsstellen (…)« (Abel 1998, 23). Die erste Beratungsstelle des »Bundes für Mutterschutz und Sexualreform« wird 1924 gegründet. Hier werden sowohl Männer als auch Frauen von einer Ärztin und einer Sozialarbeiterin sowie weiteren ehrenamtlichen Helfern beraten (Gröning 2010). Zu dieser Zeit kommt es zu einer ganzen Gründungswelle, sodass bis 1932 mehr als 400 Beratungsstellen entstehen, mit ca. einem Drittel öffentlicher und zwei Dritteln privater Trägerschaft. Private Träger sind insbesondere Frauenverbände, Arbeiterorganisatoren oder Sexualreformer/Sexualreformerinnen (vgl. Großmaß 1997; Großmaß 2000). Auch bei der Sexualberatung geht es vorrangig um Information, aber ebenso um Vermittlung praktischer Hilfe. Ein wichtiges Thema ist ungewollte Schwangerschaft. »Nur bei gesundheitlichen Indikationen erhielten die ratsuchenden Frauen eine Überweisung in die Klinik zum Schwangerschaftsabbruch. Bei sozialen Notlagen wurde über das Abtreibungsverbot und die Risiken einer illegalen Abtreibung (…) aufgeklärt« (Gröning 2010, 26f.). Weitere Themen der Beratung sind u. a. medizinische und Sexualaufklärung, Schwangerschaftsverhütung, das eigene Geschlecht, aber auch ein unerfüllter Kinderwunsch (Gröning 2009, Gröning 2010, Großmaß 1997, Großmaß 2000). Parallel zu Sexualberatungsstellen entstehen Eheberatungsstellen. Die erste wird 1911 gegründet (Struck 2007) und schon bald werden immer mehr solcher Beratungsstellen eröffnet. Sie sind den Gesundheitsämtern angegliedert, hier beraten Ärzte zur Erbgesundheit. Nach Überprüfung der familiären Herkunft und einer medizinischen Untersuchung wird die Ehefähigkeit bestimmt. »Im Mittelpunkt dieser Beratung stand die Ausstellung eines Ehefähigkeitszeugnisses« (Gröning 2009, 111; Gröning 2010, 90).

      Anders als Sexual- und Berufsberatung hat Erziehungsberatung gleich mehrere Wurzeln, die »(…) als Vorläufer der heutigen Erziehungsberatung gelten können« (Kühnl 2000, 3). 1903 gründet der Kriminalpsychiater Chimbal eine heilpädagogische Beratungsstelle und der Psychiater Fürstenheim 1906 die »Medico-pädagogische Poliklinik für Kinderforschung, Erziehungsberatung und ärztlich erzieherische Behandlung«. Es ist auch Fürstenheim, der 1916 eine »Jugendsichtungsstelle« eröffnet. Während die ersten beiden Beratungsstellen »(…) an der Besserung delinquenter Jugendlicher orientiert« (Abel 1998, 23) sind, ist die drittgenannte Beratungseinrichtung »(…) eine pädagogisch-diagnostische Beratungs- und Auskunftsstelle im Dienste der Schullaufbahn-, Erziehung- (sic!), Berufs- und Unterbringungsberatung. Gleichzeitig sollte die ›fragliche Veranlagung‹ geklärt werden« (Geib et al. 1994, 275). Die Inhalte dieser und weiterer »Vorläufer« sind vielfältig und werden an verschiedener Stelle überblicksartig zusammengestellt (vgl. u. a. Abel 1998, Specht 2000, Borg-Laufs 2007; Geib et al. 1994). Abel fasst sie in vier Entwicklungslinien zusammen, »(…) 1. die psychoanalytischen Wurzeln; 2. der psychiatrisch, kriminologische Zugang; 3. sozialpädagogische, fürsorgerische Reformansätze; 4. heilpädagogische Herangehensweisen« (Abel 1998, 25). In den 1920er Jahren werden auch in Österreich Beratungseinrichtungen eröffnet, alle unter der Bezeichnung »Erziehungsberatungsstelle«. »Seitdem hat sich der Terminus Erziehungsberatung durchgesetzt (…)« (Menne 2005, 1, Hervorhebung im Original). Diese wird zunächst nur durch freie Träger angeboten. Erst mit dem Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt 1922 wird in Deutschland auch eine öffentliche Trägerschaft möglich (Abel 1998; § 4 RJWG). Die Angebote öffentlicher und freier Träger unterschieden sich. »Öffentliche, also staatlich geförderte und eingerichtete EB-stellen übernehmen vor allem kontrollierende und selegierende Funktionen in der Jugend- und Sozialpolitik des Staates« (Abel 1998, 27). Kinder und Jugendliche werden medizinisch, psychiatrisch und psychologisch umfangreich diagnostisch untersucht und nach Klärung der Problemursache an weitere Institutionen vermittelt (vgl. Geib et al. 1994). Beratung als solche findet nicht statt. Anders arbeiten freie Beratungsstellen. »Träger sind Einzelpersönlichkeiten und medizinische bzw. psychologische Forschungs- und Fürsorgeeinrichtungen. Hierher gehören vor allem die individualpsychologischen und psychoanalytischen Beratungsstellen« (Geib et al. 1994, 277). Je nach spezifischem Träger werden über Diagnostik hinaus u. a. Therapie, pädagogische Angebote sowie »›öffentliche Erziehungsberatung‹ vor Publikum« (Abel 1998, 24) zur Schulung anderer Fachkräfte angeboten. Beratung wird als Informationsleistung eingesetzt, als »Aufklärung und Belehrung« (ebd.).

      1.1.3 Nationalsozialismus bis Ende des Zweiten